Abrechnung in Bangladesch
von Jean-Luc Racine
In Bangladesch beschränkte sich die islamistische Gewalt bis vor Kurzem auf gezielte Attentate gegen Einzelpersonen. Doch seit der Geiselnahme in einem Restaurant in der Hauptstadt Dhaka, bei der am 1. Juli zwanzig Geiseln, sechs Geiselnehmer und zwei Polizisten starben, wird wieder verstärkt über die Perspektiven des Landes debattiert. Offenbar gab es eine Verbindung zwischen den Tätern, die aus der gebildeten Mittelklasse stammten, und der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), die sich wenig später zu dem Anschlag bekannte.
Bangladesch hat 169 Millionen Einwohner, deren Durchschnittsalter bei 25 Jahren liegt, 89 Prozent sind Muslime. Das Land erlebt derzeit sowohl eine Identitätskrise, bei der das Verhältnis von Staat und Religion und die Wunden des Unabhängigkeitskriegs von 1971 im Vordergrund stehen, als auch eine anhaltende politische Krise, die auf den erbitterten Machtkampf zwischen der Nationalistischen Partei Bangladeschs (BNP), der Jamaat-e-Islami und der Awami-Liga zurückzuführen ist. Letztere stellt die Premierministerin Scheich Hasina Wajed, die den Kampf gegen den Islamismus nutzt, um jegliche politische Opposition zu unterdrücken.
1947 entstanden aus dem ehemaligen Britisch-Indien die Staaten Indien und Pakistan, das aus den beiden weit voneinander entfernt liegenden Landesteilen West- und Ostpakistan bestand. Bald fühlte sich der östliche Teil von der Zentralmacht im Westen vernachlässigt. Nachdem die Anhänger eines unabhängigen Ostpakistan die Parlamentswahl von 1970 gewonnen hatten, versuchte die Führung in Islamabad, sie an der Machtübernahme zu hindern. Um die Awami-Liga unter Scheich Mujibur Rahman zu unterdrücken, stützten sich die pakistanischen Streitkräfte vor Ort auf die Razakar-Milizen; diese rekrutierten viele ihrer Söldner aus Gruppen, die der islamischen Partei Jamaat-e-Islami nahestanden.
Die Razakar und ihre Helfershelfer unternahmen Feldzüge, begingen Massaker und systematische Vergewaltigungen und ermordeten Intellektuelle; Hunderttausende kamen ums Leben (je nach Quelle zwischen 300 000 und 3 Millionen Menschen); es kam zu einer Massenflucht. Das Eingreifen der indischen Armee führte zum Sieg der Separatisten, und so entstand im Dezember 1971 der neue Staat Bangladesch.
Scheich Mujibur Rahman, der „Vater der Nation“, wurde Premierminister einer säkularen, sozialistischen Demokratie, die jede Staatsreligion ablehnte. Bei einem Militärputsch 1975 wurde er ermordet, und General Ziaur Rahman kam an die Macht. Er gründete die BNP und setzte auf Nationalismus und die religiöse Identität des Landes. 1981 wurde Ziaur Rahman ebenfalls bei einem Putsch der Offiziere ermordet.
Fünfzig Jahre später wird die Politik in Bangladesch trotz einer Vielzahl von Parteien von zwei dominierenden Kräften beherrscht. Beide großen Lager werden seit den 1990er Jahren von „eisernen Ladys“ geführt: An der Spitze der BNP steht Khaleda Zia, die Witwe von General Ziaur Rahman, die bereits zweimal Premierministerin war (1991 bis 1996 und 2001 bis 2006). Und Hasina Wajed, die Tochter Mujibur Rahmans, führt die offiziell sozialdemokratisch-säkulare Awami-Liga an. Wajed regierte von 1996 bis 2001 und ist seit 2009 wieder an der Macht.
Die Jamaat-e-Islami wurde nach der Unabhängigkeit aufgrund ihrer Verwicklung in Kriegsverbrechen verboten, aber wenig später von den Offizieren rehabilitiert und von der BNP umworben, die mehrere Koalitionen mit ihr einging und sie auch in die Regierungsverantwortung einband.
1972 trat die erste Verfassung des Landes in Kraft. Sie beruhte auf den vier Prinzipien Nationalismus, Sozialismus, Demokratie und Säkularismus. 1977 verschwand der „Säkularismus“, und 1988 wurde der Islam zur Staatsreligion erhoben. Der oberste Gerichtshof setzte den Säkularismus 2011 zwar offiziell wieder in Kraft, aber Regierungschefin Scheich Hasina wagte es nicht, die Verbindung von Staat und Islam infrage zu stellen.
Stille Revolution der Islamisten
Wegen der ständigen Reibereien zwischen den beiden großen Parteien und der Unterdrückung von Oppositionellen, die zum Generalstreik aufriefen, entschloss sich die BNP schließlich zum Boykott der Wahl von 2014. Im Laufe des Wahlkampfs, aus dem die Awami-Liga als Siegerin hervorging, wurden fast 150 Menschen getötet.
Trotz der massiven politischen Gewalt versuchten die Regierungen stets das Bild eines „gemäßigt muslimischen und demokratischen“ Landes aufrechtzuerhalten, auch um internationale Hilfe und ausländische Investitionen ins Land zu holen. Inzwischen haben sich viele Entwicklungsindikatoren verbessert. Die Kindersterblichkeit sank von 97 pro 1000 Lebendgeburten 1990 auf 32 pro 1000 Lebendgeburten im Jahr 2013; die Lebenserwartung beträgt 72 Jahre (in Indien nur 68); und die Armut ist deutlich zurückgegangen, obwohl immer noch ein Viertel der Bevölkerung betroffen ist. Trotzdem herrscht in manchen Regionen Unterernährung, es gibt zu wenig Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten, und die Löhne der Frauen sind zu niedrig.1
Das jährliche Wirtschaftswachstum liegt seit einem Jahrzehnt bei über 6 Prozent. Bangladesch stieg zum zweitgrößten Kleidungsexporteur der Welt nach China auf. Die Tragödie der Textilfabrik Rana Plaza in Dhaka, bei deren Einsturz 2013 über tausend Menschen ums Leben kamen, zeigte jedoch, welchen Preis die „Textilsklaven“ dafür zahlen müssen, dass ihr Land große internationale Marken und deren Subunternehmer anzulocken vermochte.2 Die Fixierung auf internationale Investitionen erklärt zum Teil auch die Weigerung der wechselnden Regierungen, den Aufstieg des gewalttätigen Islamismus seit den 1990er Jahren zur Kenntnis zu nehmen.
Die Partei Jamaat-e-Islami und die Führung ihrer Studentenorganisation setzten auf eine „stille Revolution“, eine Islamisierung durch Infiltration der Institutionen, um die Gesellschaft von oben zu verändern. Doch viele ihrer ehemaligen Mitglieder schlossen sich deutlich radikaleren Gruppierungen an, die Intellektuelle, Politiker, NGOs, Anhänger anderer Religionen oder Atheisten ins Visier nahmen.
Aus Afghanistan zurückgekehrte Kämpfer gründeten eine Gruppe, aus der 1998 die Jamaat-ul-Mujahideen Bangladesh (JMB) hervorging, eine Bewegung, die das Land in einen islamischen Staat verwandeln will. Ihre Tochterorganisation Jagrata Muslim Janata Bangladesh (JMJB) ist von den Taliban inspiriert. JMJB-Chef Bangla Bhai überzog den Nordwesten des Landes mit Terror, und die BNP ließ ihn gewähren, weil er auch untergetauchte Kommunisten jagte.
Das änderte sich, als die JMJB am 17. August 2005 eine Reihe von Bombenattentaten in 63 der 64 Bezirke des Landes verübte. Auf den wachsenden internationale Druck hin ließ Premierministerin Khaleda Zia die Anführer der JMB und der JMJB verhaften. Sie wurden 2006 zum Tode verurteilt und 2007 von der Übergangsregierung hingerichtet. Daraufhin entstanden andere international vernetzte Terrorgruppen wie etwa die 2001 von einem Universitätsprofessor gegründete Hizb ut-Tahrir Bangladesh oder das Ansarullah Bangla Team, das 2007 auf einer al-Qaida nahestehenden Website auftauchte.
Die zahlreichen radikalen Gruppen binden Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft ein, von den traditionsbewussten Milieus der orthodox-sunnitischen Deobandi-Schulen (eine dogmatische sunnitische Strömung in Südasien) bis hin zu Studenten aus der Mittelschicht, die sich dem Dschihad anschließen.
Nach der erneuten Machtübernahme der Awami-Liga 2009 und der wieder aufgenommenen Verfolgung der Kriegsverbrecher von 1971 nahmen die Spannungen weiter zu. Schon 1973 war ein Gerichtshof zur Verfolgung von „Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ während des Unabhängigkeitskriegs gegründet worden. Doch ein Dreiparteienabkommen zwischen Indien, Pakistan und Bangladesch zur Regelung der Kriegsschäden zwang Mujibur Rahman, im darauf folgenden Jahr den bangladeschischen Kollaborateuren der pakistanischen Streitkräfte praktisch Straffreiheit zu gewähren.
Zwei Jahrzehnte später kämpfte seine Tochter für die Wiederaufnahme der Prozesse. Das 2009 wiederbelebte „Internationale Strafgericht“, in dem allerdings nur Richter aus Bangladesch sitzen, hat sich wegen unzureichender Rechte der Verteidigung die Kritik von Amnesty International und Human Rights Watch eingehandelt.
Todesurteile gegen Kriegsverbrecher
Das Gericht verurteilte zunächst vor allem Funktionäre der Jamaat-e-Islami, die an den Massakern von 1971 beteiligt waren, darunter deren stellvertretender Generalsekretär Abdul Quader Mollah, der im Dezember 2013 gehenkt wurde, sowie Generalsekretär Ali Ahsan Mohammad Mojaheed, der im November 2015 zusammen mit dem BNP-Politiker Salahuddin Quader Chowdhury hingerichtet wurde.
Abdul Quader Mollah, der „Schlächter von Mirpur“ (ein Stadtviertel von Dhaka), war im Februar 2013 zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt worden, woraufhin es zu massiven Protesten kam, bei denen seine Hinrichtung gefordert wurde. Daraus formierte sich die Shahbag-Bewegung, benannt nach einem Platz im Zentrum Dhakas. Die breite Mobilisierung der Jugend über Social Media verband Nationalismus und Antiislamismus und erinnerte ein wenig an den „Arabischen Frühling“. Ihr Ziel war das Verbot der Jamaat-e-Islami. Diese friedlichen Proteste riefen wiederum die Gewalt der Islamisten hervor, die mit aller Härte unterdrückt wurde.
Im September 2016 wurde Mir Quasem Ali hingerichtet, ein führender Politiker der Jamaat-e-Islami und ehemaliger Anführer der Al-Badr-Miliz, die 1971 mit den Razakar und der pakistanischen Armee zusammengearbeitet hatte. Islamabad legte Protest gegen die Exekution ein, was Bangladesch als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten zurückwies. Scheich Hasina nutzte die Gelegenheit und boykottierte das Gipfeltreffen der Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC). Damit folgte sie dem Beispiel Indiens und Afghanistans, die pakistanische Dschihadisten für den Angriff auf ein Militärlager in Kaschmir und Attentate in Kabul verantwortlich machten. Schließlich musste Gastgeber Pakistan den für 2016 geplanten Gipfel absagen.
In den vergangenen Jahren nahmen die gezielten Anschläge auf angeblich antiislamisch gesinnte Prominente immer weiter zu. 2013 fiel der atheistische Blogger Ahmed Rajib Haider einem Attentat zum Opfer.3 Neben Bloggern, Verlegern, liberalen Intellektuellen, Schwulen- oder Trans-Aktivisten gerieten in den Jahren 2014 und 2015 schließlich auch fromme Schiiten, Christen und Hindu-Priester ins Visier der sunnitischen Extremisten. Die Mörder waren Bangladescher, aber zu ihren Taten bekannten sich al-Qaida oder der IS.
Der IS verdrängte allmählich die durch den Tod von Osama bin Laden 2011 geschwächte Al-Qaida. Deren neuer Anführer Aiman Sawahiri verkündete im September 2014 die Gründung von al-Qaida im Heiligen Krieg auf dem indischen Subkontinent (AQIS). Er kritisierte die Unabhängigkeit Bangladeschs als Verrat, denn ihr eigentliches Ziel habe in der „Schwächung der Umma auf dem Subkontinent“ bestanden, und er rief die „Brüder“ in Bangladesch zum Aufstand gegen die Kreuzzügler und deren Handlanger auf.4 Während AQIS (und die mit ihr verbundene bangladeschische Ansar al-Islam) die Verantwortung für die Ermordung von Bloggern und Liberalen übernahm, rief der IS dazu auf, den Kampf auf alle „Apostaten“ (vom Glauben Abgefallenen) auszuweiten, die früher oder derzeit eine Machtposition bekleideten: die Awami-Liga, aber auch die BNP und sogar die Jamaat-e-Islami – was viel über die Grabenkämpfe zwischen den islamistischen Strömungen verrät.
Nach der blutigen Geiselnahme am 1. Juli haben sich Awami-Liga und BNP gegenseitig die Schuld zugeschoben, während die Kommentatoren vor allem die Regierung kritisierten, weil sie so tut, als gäbe es den IS und al-Qaida in ihrem Land gar nicht.5 Die Frage ist jetzt, ob die islamistische Gefahr weiterhin auf terroristische Einzelaktionen begrenzt bleibt – oder ob sie das dysfunktionale, verkommene und von alten Rivalitäten zermürbte politische System von Grund auf erschüttern wird.
2 Siehe Oliver Cyran, „Unsere Toten in Bangladesch“, in: Le Monde diplomatique, Juni 2013.
3 Ende Dezember 2015 wurden zwei Studenten für den Mord an Haider zum Tode verurteilt.
5 Siehe: Syed Badrul Ahsan, „In denial in Dhaka“, in: The Indian Express, Neu-Delhi, 4. Juli 2016.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Jean-Luc Racine ist emeritierter Forschungsdirektor des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Forscher am Asia Centre, Paris.