Vom Kapital lernen
von Mathias Greffrath
Die kapitalistische Akkumulation untergräbt die Springquellen alles Reichtums: die Erde und den Arbeiter.“ So ist es im „Kapital“ von Karl Marx zu lesen, am Ende des Kapitels über die Mehrwertproduktion. Gut vorausgesagt. Aber ist die großflächige Prognose von Klimakrise und chronischer Arbeitslosigkeit ein Grund, das Buch noch einmal zu lesen, 150 Jahre nach seinem Erscheinen? Lässt sich die Wirklichkeit von heute mit Marx’schen Begriffen noch verstehen? Folgenreicher verstehen?
Mit „Mehrwertproduktion“ hebt Marx’ Buch an, dieser Roman der Moderne, in dem „das Kapital“ der Held ist, eine unsichtbare, insofern metaphysische, aber durchaus im Diesseits wirkende Macht, die sich eine „Welt nach ihrem eigenen Bilde schafft“. Dieser Macht gibt Marx im 4. Kapitel des „Kapitals“ einen fassbaren Körper, den eines Geldbesitzers. Den lässt er auf einer Straße irgendwo in England auf einen Arbeitskraftbesitzer treffen, woraufhin die beiden nach einer kurzen Verhandlung, in „jene verborgne Stätte der Produktion“ eilen, „an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business“; der eine „bedeutungsvoll schmunzelnd, . . . der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der die eigne Haut zu Markt getragen hat . . .“
Hinter dieser Tür wird Mehrwert produziert. Möglich ist das, weil der Kapitalist seinem Gegenüber eine Ware abgekauft hat, die über die wundersame Eigenschaft verfügt, mehr Wert zu erzeugen, als zu ihrer Produktion erforderlich war. Wer Arbeitskraft kaufen kann und mit Maschinen kombiniert, kann sein Geld vermehren. Und umgekehrt: Wer nur Arbeitskraft zu verkaufen hat, fängt immer wieder von vorn an.
Jedenfalls solange er kann.
Marx, der Analytiker, sieht – trotz aller frühkapitalistischen Schweinereien, die er als Historiker beschreibt – im Kapitalisten nicht den Schurken, sondern den Agenten des Fortschritts. Einen Getriebenen, den die Konkurrenz nötigt, zur Steigerung der Produktivität der Arbeit immer neuere arbeitssparende Maschinen, immer rationellere Produktionsverfahren auf immer größerer Stufenleiter anzuwenden.
„In dem Maße, in dem die große Industrie sich entwickelt“, so seine weit vorausschauende Extrapolation, „ist die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als . . . vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion“. Die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Entwicklung des „gesellschaftlichen Individuums“, sprich einer Gesellschaft von gut ausgebildeten und gebildeten Menschen – sie „erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren“. Und dann folgt der kühne Satz: „In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“1
Und wie sieht es damit aus, heute?
„Die Bedeutung der Arbeit nimmt ab, die von Wissen nimmt zu.“ „Wissen wirft längst höhere Investitionsrenditen ab als Kapital.“ Das sind nur zwei der Formeln, mit denen die „Wissensgesellschaft“ ausgerufen wird.
Wissen als eigenständiger Produktionsfaktor? Marx hätte solch Theorem „Vulgärökonomie“ genannt: ein Denken, das sich nicht vom Alltagswissen und der unmittelbar wahrnehmbaren Realität lösen kann. Wissen als unabhängige Wertquelle? Was geschieht denn in dieser Wissensökonomie anders, als was beim Übergang vom Handwerk zur Fabrik passierte, nur eben in größerem Maßstab? Wenn damals „Muskeln, Schärfe des Blicks, Virtuosität der Hand“ in die Maschine wanderten, so verschwinden jetzt die Arbeitsroutinen und der Erfahrungsschatz ganzer Berufe in den Algorithmen der Informationsmaschinen und werden als „geistiges Eigentum“ patentiert.
In Marx’ Vision einer tendenziell vollautomatisierten Produktion schöpft nicht „die Wissenschaft“ als „erste Produktivkraft“ die Werte, sondern: die ganze Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Wissenschaft Teil des „allgemeinen Wissens“ geworden ist, in der technischer Fortschritt den Zeitwohlstand aller gesteigert hat: „Zeit, das heißt Raum für die Entwicklung der vollen Produktivkräfte der einzelnen, daher auch der Gesellschaft“. Eine Gesellschaft von Individuen, „in deren Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert“, die in ihrer freien Zeit künstlerische und wissenschaftliche Fähigkeiten erworben haben und mit dieser Bildung wieder die Maschinenparks und die Produkte verändern.
Das also wäre die Marx’sche „Wissensgesellschaft“. Was wir gerade erleben, sieht anders aus. Nicht die Individuen werden allseits gebildet, sondern in Generationen erarbeitetes Expertenwissen wird von den Personen abgelöst, in Software verwandelt und erscheint so als Eigenschaft des Kapitals. Die ungeheuren Renditen von Microsoft, Amazon und Google/Facebook entstehen ja weniger dadurch, dass diese IT-Entwickler der Welt eine neue Dimension hinzufügen, als dass sie das bestehende System von Produktion, Zirkulation und Kommunikation rationeller, schneller und billiger machen. Das Internet beschleunigt den Umschlag der Waren, es horcht Kunden aus und stupst Bedürfnisse an. Computer und Software steigern die Produktivität der Arbeit, beschleunigen die Entwicklung hin zu neuen Stufen der Automatisierung.
Das Internet macht einerseits universelle Kommunikation möglich, andererseits neue Formen der Ausbeutung. Zum Beispiel die Crowdwork, in der isolierte Individuen an ihren Rechnern Werbetextchen formulieren oder Roboter trainieren, keine Arbeitszeitbegrenzung kennen und auch noch unterschreiben müssen, dass sie nicht miteinander kommunizieren. Keine Gewerkschaft kann denen helfen, sie sind freie Verkäufer ihrer Arbeitskraft, schutzloser noch als der Tagelöhner, den Marx’ Bilderbuchkapitalist über die Schwelle zur Mehrwertproduktion lockte: arbeitsteilig Arbeitende, voneinander getrennt, nur durch das Kapital formiert und verbunden.
„Wir reklamieren den Inhalt der Geschichte“, schrieb Friedrich Engels 1844, und das sollte heißen: Wir und unsere Vorfahren haben das erarbeitet, wir haben ein Recht auf Teilnahme an der Geschichte und auf Teilhabe an ihren Resultaten. Denn warum ist eine Nation reich? Weil Bürger die Stadtfreiheit erkämpften; weil Seeleute neue Ideen mitbringen; weil Flüchtlinge härter arbeiten als andere; weil zehn begabte Feinmechaniker zehn andere anziehen; weil Manchester pfiffige Fabrikjungens und Schwaben pfiffige Ingenieure hervorbringt – kurz, weil die ganze Geschichte eines Landes mitproduziert hat, weil die vollständige Liste der Mitwirkenden an der Mehrwertproduktion mindestens so lang ist wie der Abspann von hundert Hollywoodfilmen.
Deshalb ist Mehrwert – wie einige andere tragende Begriffe im „Kapital“ – nicht nur eine ökonomische Kategorie, sondern ebenso eine historische und wertende. Sie bestimmt das moralische Empfinden vieler Menschen. Und zwar in stärkerem Maße, als es professorale Neoklassiker und liberale Diversitätstheoretiker wahrhaben wollen, oder die Silicon-Valley-Propagandisten, die den Überflüssigen ein karges Grundalmosen spendieren wollen. Dafür jedenfalls sprechen die jüngsten Wahlergebnisse in den Ländern des stagnierenden Spätkapitalismus.
Zum Beispiel die von Ohio: „Here in northeast Ohio, back in eighteen-o-three / James and Danny Heaton found the ore that was linin’ Yellow Creek / They built a blast furnace here along the shore / And they made the cannon balls that helped the Union win the war.“ So beginnt, lakonisch und tonlos, Bruce Springsteen sein Lied vom unteren Fünftel: „Youngstown“ ist die Ballade einer Vertragsverletzung, gegen die man vor keinem Gericht der Welt Einspruch erheben kann. Eine Ballade über den historischen Mehrwert: „Mein Alter stand hier vorm Hochofen, seit er aus dem Zweiten Weltkrieg kam, und ich kam direkt aus Vietnam hierher. Jetzt verschrotten sie die Werke, wo die Panzer gebaut wurden, die Hitler besiegten. Immer dieselbe Geschichte: siebenhundert Tonnen Metall haust du raus, jeden Tag, und irgendwann kommen die Chefs und sagen: Leute, die Welt hat sich gerade geändert. Und wir? Haben sie reich gemacht, so reich, dass sie unseren Namen vergessen können.“
1 Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, Berlin (Dietz) 1953, S. 592 ff.
Mathias Greffrath ist Soziologe und Journalist.
© Le Monde diplomatique, Berlin