10.11.2016

Bomben auf die Zukunft

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Bomben auf die Zukunft

Russland erhöht den Einsatz im Kampf um Syrien

von Jacques Lévesque​

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Das Hauptziel der russischen Militärintervention in Syrien war schnell erreicht. Als sie Anfang September 2015 begann, ging es Moskau vor allem darum, die militärische Niederlage des syrischen Regimes zu verhindern, das zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten territoriale Verluste erlitten hatte.1 Die Intervention der russischen Luftstreitkräfte machte es zudem unmöglich, über Syrien eine Flugverbotszone einzurichten. Bereits 2013 hatte Moskau die syrische Führung dazu gebracht, ihr Chemiewaffenarsenal unter internationale Kontrolle zu stellen, und damit die Begründung einer westlichen Intervention gegen das Regime in Damaskus erschwert.2

Die weiteren Ziele, die Wladimir Putin in seiner Rede vor den Vereinten Nationen am 28. September 2015 formulierte, klangen schon ehrgeiziger. Sie waren eine Kampfansage an die USA und ihre Verbündeten, die der russische Präsident in die Defensive drängen wollte. Entscheidend war allerdings der Zeitpunkt von Putins Rede, denn der Zustrom von syrischen Flüchtlingen nach Europa nahm immer stärker zu, und die Welle der in Syrien geplanten Anschläge des „Islamischen Staats“ (IS) auf europäischem Boden hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.

Putin betonte damals, dass einzig die Streitkräfte des Assad-Regimes und die Kurden „dem Terrorismus mutig entgegentreten“. Er behauptete weiter, der russische Militäreinsatz in Syrien sei, im Gegensatz zu den Luftschlägen westlicher Staaten, mit dem Völkerrecht vereinbar, da er auf Bitten der syrischen Regierung erfolge. Zudem erinnerte er daran, dass die in Li­byen eingerichtete Flugverbotszone und die Unterstützung der dortigen Rebellen nicht nur zum Sturz des Gaddafi-Re­gimes geführt hätten; vielmehr habe man auch den gesamten libyschen Staatsapparat zerstört und damit den Nährboden für die Ausbreitung des IS geschaffen. Angesichts der strategischen Bedeutung Syriens, so Putins Argument, könnte eine mili­tärische ­Niederlage des Assad-Regimes ganz ähnliche Entwicklungen auslösen.

Dabei verwies Putin auch auf die Anti-Hitler-Koalition zwischen der Sowjetunion, den USA und Großbritannien, die sich im Zweiten Weltkrieg ab Juni 1941 gegen Nazideutschland gestellt habe. Er plädierte für ein entsprechendes Bündnis auch gegen den IS, der heute darauf aus sei, „die islamische Welt zu beherrschen“. Aber er betonte auch, dass der IS Zulauf aus den Reihen der „angeblich moderaten Opposition in Syrien“ erhalte, die vom Westen unterstützt werde: „Zuerst werden sie bewaffnet und ausgebildet, und dann laufen sie zum sogenannten Islamischen Staat über.“3

Putins Rede lief auf eine einfache Formel hinaus: Wenn man zwischen zwei Übeln wählen muss, sollte man sich für das kleinere entscheiden. In diesem Sinne schlug er dem Westen vor, gemeinsam mit Russland einen Waffenstillstand in Syrien zu unterstützen, der alle Kriegsparteien mit Ausnahme des IS einschließen sollte. Gleichzeitig müsse man unter Einbeziehung aller Akteure eine politische Lösung suchen.

Im Westen gingen alle maßgeblichen Politiker lange davon aus, dass die Abdankung Assads eine notwendige Voraussetzung für die Lösung des Konflikts in Syrien sei. In Europa wurde diese Prämisse erstmals von Angela Merkel infrage gestellt, die am 23. September 2015 erklärte: „Es muss mit vielen Akteuren gesprochen werden, dazu gehört auch Assad.“4 Ähnlich äußerte sich kurz darauf David Cameron und später auch Barak Obama. Nach den Anschlägen vom 13. November in Paris fand sich auch Frankreichs damaliger Außenminister Laurent Fa­bius zu der Aussage bereit: „Ein geeintes Syrien setzt eine politische Übergangsphase voraus. Das bedeutet nicht, dass Baschar al-Assad vor dieser Übergangsphase abtreten muss. Aber wir brauchen Garantien für die Zukunft.“5

Allerdings verweist man in Washington und anderswo seit Beginn des russischen Militäreinsatzes immer wieder darauf, dass die russischen Kampfflugzeuge nur wenige IS-Stellungen, aber vor allem andere Rebellengruppen angreifen würden – und sich dabei nicht groß bemühen, die Zivilbevölkerung zu verschonen. Das Hauptziel Moskaus war es, die Stellungen des Regimes zu stärken, die von anderen Gruppen als dem IS bedroht waren. Es gab daher gute Gründe für die Annahme, dass es Putin vor allem darum ging, die politische Position Assads in künftigen Verhandlungen zu stärken.

Um Vertrauen unter den westlichen Partnern und ihren Verbündeten in Syrien zu gewinnen, stimmte Russland am 18. Dezember 2015 für eine von den USA eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrats. Darin wurde eine politische Lösung und die Bildung einer „Übergangsregierung mit vollumfänglichen Exekutivbefugnissen“ gefordert.

Auf Grundlage dieser Resolution, die vom Assad-Regime natürlich abgelehnt wurde, wollte man versuchen, eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche, internationale Kooperation zustande zu bringen. Mit dem Verweis auf die Notwendigkeit eines international abgestimmten Vorgehens erkannte Russland im Grunde an, dass es das Assad-Regime allein mit der militärischen Unterstützung aus Moskau nicht schaffen würde, das gesamte syrische Territorium wieder unter seine Kontrolle zu bringen oder auch nur jene Gebiete zurückzuerobern, in denen sich die vom Westen unterstützten Rebellen behaupten konnten.

Die von Moskau befürwortete breite Allianz blieb jedoch ein frommer Wunsch. Heute muss man eher von zwei Bündnissen sprechen, die sich im Oktober und November 2015 bei den Wiener Verhandlungen unter der Schirmherrschaft des russischen Außenministers Sergei Lawrow und seines US-Amtskollegen John Kerry gegenübersaßen: Zu dem von Russland angeführten Lager gehören der Iran, die libanesische Hisbollah und auch der Irak, der allerdings auch dem zweiten, von den USA angeführten Lager angehört. Dieses ist mit etwa 50 Staaten sehr viel größer, damit aber auch viel heterogener, weil es auch Länder umfasst, die für Verhandlungen nur schwer zu gewinnen sind, wie etwa Saudi-Arabien und die Türkei.

Die Saudis sehen im Iran ihre Hauptbedrohung, und zwar nicht nur in Syrien, wo die iranischen Al-Quds-Brigaden – eine Eliteeinheit der Revolutionsgarden – aufseiten der syrischen Armee kämpfen. Deshalb waren sie erst nach beträchtlichem Druck aus Washington bereit, sich in Wien mit den Iranern an einen Tisch zu setzen. Die Hauptsorge Ankaras ist dagegen, dass in Nordsyrien ein faktisch unabhängiges kurdisches Gebiet entstehen könnte. Das erklärt auch die türkische Militärintervention von Ende August, die zum Ziel hatte, den Zusammenschluss kurdischer Gebiete südlich der türkischen Grenze zu verhindern.

Die Bemühungen um eine politische Lösung beschränkten sich indes nicht auf die internationale Ebene. Moskau und Washington drängten gemeinsam auf die Gründung eines „Forums“ in Genf, an dem unter Schirmherrschaft des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura alle syrischen Konfliktparteien teilnahmen (mit Ausnahme des IS und der mit al-Qaida verbündeten Al-Nusra-Front).6 Am Rande des Forums traf sich de Mistura mehrfach zu Einzelgesprächen mit den Konfliktparteien, um mit ihnen nicht nur über einen Waffenstillstand, sondern auch über den Weg zu einer stufenweisen Regelung des Konflikts zu verhandeln – wenn auch ohne großen Erfolg.

Die Kooperation zwischen Moskau und Washington überstand nicht nur den Abschuss eines russischen Bombers durch die türkische Armee am 13. November 2015, sondern auch die – erfolglosen – Drohungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Er­do­ğan, den Konflikt als Nato-Bündnisfall zu behandeln.

Am 14. März 2016 verkündete Präsident Putin zur allgemeinen Überraschung einen Teilrückzug der russischen Interventionskräfte, der bemerkenswert rasch umgesetzt wurde. Die Botschaft aus Moskau galt vor allem Baschar al-Assad. Dank der russischen Unterstützung war es dem syrischen Regime gelungen, seine Gebietsverluste zum Teil rückgängig zu machen. Assad wollte den entstandenen Vorteil voll ausnutzen und auch die zweitgrößte Stadt des Landes, Aleppo, wieder ganz unter seine Kontrolle bringen. Dafür nahm er auch den Bruch einer Waffenruhe in Kauf, auf die sich Russland und die USA nach zähen Verhandlungen am 27. Februar geeinigt hatten.

Dieser Vorgang zeigt, dass Moskau seinen syrischen Verbündeten nicht wirklich unter Kontrolle hat. Assad weiß genau, dass Syrien der einzige russische Stützpunkt in einer Region ist, in der Moskau seinen alten Einfluss zurückgewinnen will. Ohne sich offen von seinem Verbündeten in Damaskus zu distanzieren, wollte Putin mit dem Teilabzug also deutlich machen, dass er allein über die Bedingungen für die russische Unterstützung entscheidet.

Durch eine Eroberung Aleppos würde das syrische Regime wieder 70 Prozent der syrischen Bevölkerung kon­trol­lieren; zudem würde ein solcher Sieg dem Regime erlauben, unnachgiebig auf den eigenen Positionen zu beharren und alle Verhandlungen mit der Opposition zum Scheitern zu bringen.

Wenn Putin ab und zu seine Distanz zu Assad demonstriert, dann deshalb, weil er sein Hauptziel nicht gefährden will: den USA und den Europäern deutlich zu machen, dass Russland zwar schwächer als der Westen sein mag, aber immer noch ein entscheidender Faktor ist, nicht nur in Syrien. Der russische Präsident will also zeigen, dass die großen internationalen Probleme nur durch Kompromisse gelöst werden können, bei denen die russischen Interessen berücksichtigt werden.

Die USA und Russland setzten ihre Kooperation in Syrien noch einige Monate fort. Mehrere ausgehandelte Feuerpausen wurden von den Verbündeten des einen oder des anderen Lagers gebrochen. Ende Juni 2016 wurde bekannt, dass US-Präsident Obama einen Vorschlag an Russland übermittelt hatte, der Folgendes vorsah: abgestimmte Militäraktionen nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen die Nusra-Front; im Gegenzug sollte Russland dafür sorgen, dass die syrische Luftwaffe am Boden bleibt und der Kampf gegen andere bewaffnete Rebellengruppen eingestellt wird, die von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei unterstützt werden.7

Dieser am 27. Juni nach Moskau übermittelte Vorschlag stieß innerhalb der Obama-Administration auf massiven Widerstand. Insbesondere Verteidigungsminister Ashton Carter kritisierte, dass man damit der syrisch-russischen Seite zu weit entgegenkomme, da die Nusra-Front die weitaus wichtigste bewaffnete Oppositionsgruppe sei. Die etwa 30 anderen Rebellengruppen, die als „moderat“ eingestuft werden, machen nur etwa 15 Prozent der Anti-Assad-Kräfte aus.

Der Verteidigungsminister sträubte sich auch gegen einen Austausch militärischer Informationen mit Moskau und bezeichnete Russland öffentlich als Hauptgegenspieler der USA – eine Aussage, die Obama und Kerry bisher vermieden haben. Nach Informationen der Washington Post argumentierte Carter – nicht ganz zu Unrecht –, dass Putin mit seinen Aktionen in Syrien vor allem versuche „die Isolation Russlands im Gefolge der Militärinterven­tion in der Ukraine zu durchbrechen“.8 Als Reaktion auf die russische Anne­xion der Krim hatte die Nato im Juli 2016 auf Drängen des Pentagon beschlossen, 4000 Soldaten in den baltischen Staaten und Polen zu stationieren – die größte Truppenaufstockung seit Ende des Kalten Krieges. Solche Differenzen innerhalb der US-Administration führen zu Uneindeutigkeiten, die Washingtons Syrienpolitik nicht gerade förderlich sind.

Während syrische Regierungstruppen seit dem 4. September den Ostteil Aleppos eingekesselt hatten, formulierte die russische Seite die Bedingungen, unter denen sie Obamas Vorschlag annehmen könnte. Moskau forderte den Abzug der von Washington unterstützten Kampfeinheiten, die unweit der Nusra-Stellungen operierten – und häufig sogar mit der Nusra-Front kooperierten –, damit diese nichtislamistischen Kämpfer nicht von russischen Bomben getroffen werden.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass sich die USA und Russland gegenseitig Bedingungen gestellt haben, deren Einhaltung keine der beiden Seiten garantieren kann. Zudem wird deutlich, wie fragil die Teilübereinkommen waren, die dem Waffenstillstand vom September zugrunde lagen und deren Bruch zur aktuellen Tragödie von Aleppo geführt hat.

Einige, vielleicht auch die meisten Kämpfer an der syrischen Bürgerkriegsfront können oder wollen sich nicht von der Nusra-Front distanzieren, die in den Rebellengebieten geradezu omnipräsent ist. Ihr vorrangiges Ziel ist der Sieg über das Assad-Regime. Doch sie könnte jederzeit auch gegen andere Gruppen losschlagen, die sich von ihr absetzen.

Dennoch versucht Washington, andere Rebellengruppen zu veranlassen, sich von der Nusra-Front zu distanzieren. Nach einem Bericht der New York Times vom 6. August haben sich Vertreter dieser Gruppen im August darüber beschwert, dass die über Saudi-Ara­bien abgewickelten Lieferungen US-amerikanischer Waffen (von denen einige an die Nusra-Front weitergegeben oder verkauft wurden) stark zurückgegangen sind. US-Außenminister John Kerry war im Juli 2015 dafür kritisiert worden, dass er bei einer Veranstaltung zwei dieser Gruppen als Unterabteilungen der Nusra bezeichnet hat.9

Die Bedingungen des von Kerry und Lawrow ausgehandelten Waffenstillstands vom 13. September waren so unsicher und mehrdeutig, dass sie alle 48 Stunden überprüft werden mussten und nicht einmal veröffentlicht wurden. Angesichts dessen ist es fast verwunderlich, dass die Waffenruhe überhaupt ein paar Tage gehalten hat. Noch tragischer ist allerdings, dass sie durch einen US-Angriff auf syrische Truppen gebrochen wurde, bei dem mehr als 60 Menschen starben.

Baschar al-Assad wollte natürlich nicht glauben, dass dieser Angriff ein Versehen war, wie Washington beteuert hat. Vielmehr nutzte er die Situa­tion für eine umfassende Offensive mit dem Ziel, ganz Aleppo unter seine Kontrolle zu bringen. Nur einige Stunden nach Ende der Waffenruhe wurde am 19. September östlich von Aleppo ein UNO-Hilfskonvoi bombardiert. Für diesen Angriff, bei dem etwa 20 Zivilisten starben, machte Washington die Russen verantwortlich.

Moskau geht mit seiner rückhaltlosen Unterstützung von Baschar al-Assad ein großes Risiko ein, zumal die Intensivierung der Luftangriffe die humanitäre Katastrophe in Aleppo ständig weiter verschärft. Am 8. Oktober musste Russland von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch machen, um eine französische Resolution zu verhindern, die eine Einstellung der Kämpfe forderte. Gegen die Resolution stimmte neben Russland nur Venezuela, China enthielt sich. Und am 28. Oktober kritisierte Russlands UN-Botschafter Tschurkin den vom Sicherheitsrat in Auftrag gegebenen Bericht der UN-Ermittlungskommission, demzufolge das Assad-Regime für mindestens drei Giftgasangriffe verantwortlich ist. Syrien selbst solle die Fälle untersuchen, schlägt Tschurkin vor.

Putin versucht den relativen Machtverlust der USA und das Ende der Amtszeit Obamas auszunutzen, um die Position seiner Verbündeten vor der Suche nach einer politischen Lösung zu stärken. Sollte er jedoch keinen Hebel finden, um die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen, wäre die russische Glaubwürdigkeit ebenso stark belastet wie das künftige Verhältnis seines Landes zu den Vereinigten Staaten und Europa.

1 Siehe Alexei Malaschenko, „Chruschtschow, Putin und die Assads“, Le Monde diplomatique, November 2015.

2 Siehe Jacques Lévesque, „Russlands großer Auftritt“, Le Monde diplomatique, November 2013.

3 Putins Rede ist dokumentiert in der Washington Post vom 28. September 2015 (www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/09/28/read-putins-u-n-general-assembly-speech).

4 Rede auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel, zitiert nach: www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-merkel-will-gespraeche-mit-assad-a-1054471.html.

5 Zitiert nach: Le Progrès (Lyon), 5. Dezember 2015.

6 Die Al-Nusra-Front benannte sich im Juli 2016 in „Dschabhat Fatah asch-Scham“ um und erklärte offiziell ihre Abkehr von al-Qaida.

7 Siehe The Independant, 30. Juni 2016 (www.independent.co.uk/news/world/americas/barack-obama-plans-new-military-alliance-russia-syria-a7111136.html).

8 Gareth Porter, „A New Fight over Syria War Strategy“ auf dem Blog antiwar.com (original.antiwar.com/porter/2016/07/08/new-fight-syria-war-strategy).

9 Josh Rogin in: Washington Post, 12. Juli 2016.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Jacques Lévesque ist emeritierter Politologe der Universität Québec.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2016, von Jacques Lévesque​