Wie groß ist Europa?
Überlegungen zu Vorgeschichte und Selbstverständnis der Union
von Michel Foucher
Europa ist im Umbruch. Die Europäische Union steht nicht erst seit dem Brexit vor dramatischen Veränderungen. Eine grundsätzliche Debatte über die Zukunft Europas ist angesichts der politischen Zerwürfnisse innerhalb der EU und der beängstigenden Herausforderungen vor ihrer Haustür unerlässlich. Um diese Debatte sinnvoll zu führen, müssen wir uns zunächst die geopolitischen Etappen vergegenwärtigen, die das europäische Projekt überhaupt erst möglich gemacht haben.
„Europa“ ist ein schwammiger Begriff, der, anders als etwa im Falle Australiens, ein Gebiet ohne naturgegebene Begrenzungen bezeichnet. Diese begriffliche Unsicherheit birgt gewisse Schwierigkeiten. Wo sind die Grenzen dieses Europas? Sind sie identisch mit denen der Europäischen Union, des erweiterten Binnenmarkts oder doch des europäischen Kontinents?
Die Unsicherheit hat allerdings den Vorteil, dass sie eine eigene Dynamik entfalten kann. Denn letztlich entscheiden die Europäer mit ihrer Politik über die geografische Ausdehnung ihres Projekts. Und damit auch über die Abgrenzung ihrer Gemeinschaft nach außen: Wer gehört zum Euroraum? Was geschieht nach dem Brexit? Wo werden die Migrationsströme kontrolliert? Die Antworten auf diese Fragen werden auch darüber entscheiden, ob die EU eine Union der Staaten und Völker sein wird oder ein Zusammenschluss von Nationalstaaten.
Geografisch gesehen reicht Europa im Osten bis zum Uralgebirge und dem Fluss Ural, im Südosten bis zum Fluss Aras, der durch Armenien, die Türkei, Aserbaidschan und den Iran fließt, und im Süden bis zur Mittelmeerküste. Diese in unseren Köpfen fixierten Grenzen sind das Ergebnis konkreter Entscheidungen, die unter spezifischen historischen Bedingungen getroffen wurden. Hätte Mustafa Kemal Atatürk nach seinem Sieg von 1922 nicht auf der Rückgabe von Ostthrazien an die Türkei bestanden, wäre der Bosporus heute eine geopolitische Grenze. Und hätte König Sebastian von Portugal 1578 die „Schlacht der drei Könige“ gewonnen, verliefe die Grenze Europas heute nicht in der Straße von Gibraltar, sondern zwischen Rifgebirge und Rabat.
Der Ural hingegen war nie eine internationale Grenze, und er wird es auch nie sein. Ihn zur Grenze Europas zu erklären, war die Idee des im Dienst Peters des Großen stehenden Geografen Wassili Tatischtschew (1686–1750). Sie diente dem Ziel, das Großfürstentum Moskau aus Asien herauszulösen und die Türken und Tartaren hinter die gut zu verteidigende Wolgagrenze zurückzudrängen.
Das Uralgebirge bildet eine eher unscheinbare natürliche Grenze: ein Gebirgszug, der sich über 2000 Kilometer erstreckt und von vielen niedrigen Pässen durchzogen wird.1 Aus russischer Sicht beginnt der asiatische Kontinent erst östlich des Baikalsees, wo relativ wenige Russen leben. Der Ural als geografische Grenze ist somit eine Idee von Kartografen. Sie hat sich durchgesetzt, weil sich das in Europa und Asien liegende Russland in erster Linie als eine europäische Macht versteht.
Diese Sichtweise machte sich auch Frankreichs Staatspräsident de Gaulle zu eigen, als er 1962 von der zu schaffenden „europäischen Solidarität vom Atlantik bis zum Ural“ sprach. Damit wollte er Moskau signalisieren: Die deutsch-französische Annäherung ist kein Akt des Kalten Kriegs, zielt also nicht darauf ab, die Länder außerhalb des gemeinsamen Markts auszuschließen. Er nannte jedoch eine Bedingung, die nur selten Erwähnung findet: „Damit dieses Europa möglich wird, sind große Veränderungen nötig. Zu allererst in der Sowjetunion, die wieder zu Russland werden muss.“ Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie eine klassische Grenze aus den Erdkundebüchern dazu dient, präzise geopolitische Vorstellungen zu veranschaulichen.
In Transkaukasien, das seit Jahrhunderten unter persischem und türkischem Einfluss steht, verläuft der Fluss Aras. Als Südostgrenze des europäischen Kontinents gilt er erst seit dem Ende des dritten Russisch-Persischen Kriegs, in dem sich die Truppen des Zaren südlich des Kaukasus gegen das geschwächte Perserreich behauptet hatten. Davor reichte Europa nur bis zum Hauptkamm des Kaukasus und später bis zum Tal der Kura.
Der Vertrag von Gulistan
Die im Vertrag von Gulistan 1813 festgelegte Grenze war eine politische. Sie trennte Russland von Persien und wurde von georgischen und armenischen Geografen als Grenze Europas interpretiert. Grenzen sind also auch dann, wenn sie überaus deutlich durch Gebirgszügen oder Flüsse markiert sind, ein Ergebnis politischer Umstände.
Historisch lässt sich Europa als eine jahrtausendealte Zivilisation begreifen, die auf dem römischen Recht und dem Christentum gründet. Diese Zivilisation entstand mit der Zeit aus einem doppelten Beziehungsgeflecht, argumentiert der Philosoph Marc Crépon: „Zum einen natürlich aus den Beziehungen der europäischen Nationen untereinander (ihrem Handelsaustausch und der Übersetzung ihrer Sprachen), zum anderen aber aus den gewachsenen Beziehungen der ‚Europäer‘ zu denjenigen, die sie sich in ihrer Fantasie als die Andersartigen erträumt oder vorgestellt haben.“2
Das Fehlen offensichtlicher natürlicher Grenzen war eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung eines spezifisch europäischen Selbstverständnisses – und zwar in bewusster Abgrenzung zu den benachbarten Welten, etwa zu den muslimisch geprägten, militärisch expansiven arabisch-berberischen Königreichen oder zum Byzantinischen Reich und seinem osmanischen Nachfolgestaat. Die Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453 war ein so traumatisches Ereignis, dass Papst Pius II. die zerstrittenen christlichen Fürsten aufrief, sich als „Europäer“ (européicos) zu betrachten und die Osmanen vereint zurückzuschlagen.
In der Diplomatensprache hat sich der Begriff Europa erst nach der Reformation durchgesetzt – als Ersatz für das Wort Christenheit, das durch die konfessionelle Spaltung problematisch geworden war. Nach 1918 wurde Europa dann zu einem Versprechen und einem politischen Ideal.
Damals bildete sich ein europäisches Bewusstsein heraus, das zwei unterschiedliche Wurzeln hatte: zum einen das „Europäertum“, also das Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit zu einer jahrhundertealten Zivilisation; und zum anderen den „Europäismus“, der die europäische Einheit wollte – zunächst, um den Kontinent vor weiteren Kriegen zu bewahren, und in den 1930er Jahren, um seinen Niedergang abzuwenden. Es war nicht mehr als ein verzweifelter Versuch der Länder, die damals Europa ausmachten.
Nach 1945 entstanden im Westen des geteilten Kontinents die ersten supranationalen Gemeinschaften. 1951 entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1957 folgte die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Mit dem Zerfall der Sowjetunion von 1991 entstanden neue geopolitische Gegebenheiten, die eine Ausweitung des institutionalisierten Europas nach Osten begünstigten.
Ein historisches Novum war die Errichtung einer „Rechtsgemeinschaft“. Sie bedeutete den Bruch mit einer Vergangenheit, in der rivalisierende, militärisch hochgerüstete Staaten den Kontinent immer wieder zu einem Schlachtfeld gemacht hatten. Angesichts dessen war der Wiederaufbau Europas auf der Basis von Verträgen und Institutionen – statt machtpolitischer Kräfteverhältnisse – eine historische Zäsur.
2016 ist ein Jahr existenzieller Bedrohungen und knallharter internationaler Machtpolitik. In dieser Welt erwies sich die Stärke der Europäischen Union, die ihre Existenz dem Streben nach Frieden und Kompromiss verdankt, zugleich als ihre Schwäche. Alle Staaten, die der Union angehören oder beitreten wollen, handeln aufgrund spezifischer nationaler Interessen. Durch die EU-Erweiterung und die damit verbundene Ausweitung der Nato auf verschiedene mittel- und osteuropäische Länder wurden Grenzen verschoben.
Das Abkommen von Schengen
Wie aber soll sich die Union als feste Einheit begreifen und eine überzeugende Außenpolitik entwickeln, wenn die nächsten Nachbarn ständig hereingebeten werden? Und wie kann man sicher sein, dass die Außengrenzen des Schengenraums unter Kontrolle sind, wenn diese bereits achtmal verschoben wurden?
Der EWG-Vertrag von 1957 macht in Artikel 237 das Wort „europäisch“ zu einem Kriterium für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der Vertrag von Maastricht (1992) knüpft daran an, ohne den Begriff „europäisch“ offiziell zu definieren. Zu Beginn der 1990er Jahre, als eine Erweiterung noch gar nicht zur Diskussion stand, schrieb die Brüsseler Kommission: „Der Begriff umfasst geografische, historische und kulturelle Aspekte, die alle zur europäischen Identität beitragen. Die gemeinsame Erfahrung von Ideen, Werten und historischen Verflechtungen lässt sich nicht zu einer einfachen zeitlosen Formel verdichten und muss von jeder nachfolgenden Generation neu ausgelegt werden.“ Es sei weder möglich noch ratsam, die Grenzen der Europäischen Union jetzt festzulegen, denn deren Konturen würden sich erst im Lauf der Zeit herausbilden.
Das bedeutet, dass die räumliche Dimension des Projekts durch die jeweilige Summe der Mitgliedstaaten definiert wird. Diese Konzeption wurde von der „Reflexionsgruppe zur Zukunft Europas“ bestätigt, die 2010 unter Leitung des früheren spanischen Regierungschefs Felipe González einen Bericht erarbeitete. In diesem Papier kam das Thema Grenze lediglich in einem der 46 Absätze vor.3 Daran hielt man sich bis zum Ausbruch der jüngsten Krisen in Gestalt des Kriegs in der Ukraine, der Aushöhlung des Schengener Abkommens und der terroristischen Bedrohung.
Eine Diskussion über die Grenzen wurde auch deshalb nicht geführt, weil sie zu Streitigkeiten geführt hätte und weil die Meinungsverschiedenheiten nicht an die Öffentlichkeit dringen sollen. Zum Beispiel setzten die Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei angesichts der Brisanz des Themas bei der Reflexionsgruppe durch, dass deren Report sich nicht auf eine endgültige EU-Außengrenze festlegte. Mit ihrer Weigerung, Grenzen zu erörtern und dann auch festzulegen, verfolgten sie ein klares Ziel: Letztlich soll die Europäische Union alle Staaten umfassen, die auch dem Europarat angehören.
Zum Europarat gehören die 47 Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, darunter die Türkei (seit 1950) und Russland (seit 1998), nicht aber Weißrussland.4 In einem Bericht des französischen Senats heißt es zur Frage der EU-Erweiterung: „Sollen wir wegen der unterschwelligen politischen Gegensätze nicht mehr fragen, wo die ‚Grenzen Europas‘ verlaufen? In diesem Fall bliebe ein anhaltendes Unbehagen in der Öffentlichkeit ohne Antwort – ein Unbehagen, das den Rückhalt für die europäische Einigung schwächen könnte.“5
Die Unsicherheit über die geografische Ausdehnung Europas hängt auch damit zusammen, dass sich die Grenzen der Gemeinschaft immer wieder verändern. Aus den anfangs (im Jahr 1951) sechs Mitgliedstaaten sind 28 geworden; ohne Großbritanniens werden es demnächst nur noch 27 sein. Derweil werden die Beitrittskandidaten Türkei, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Albanien sowie die potenziellen Beitrittskandidaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Moldau, Ukraine und Georgien bereits ungeduldig.
Aber wie kann man ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft entwickeln, wenn deren Territorium nicht klar definiert und erkennbar ist? Der französische Schriftsteller Régis Debray weist zu Recht darauf hin, dass auf den Euroscheinen nichts aufgedruckt ist, was konkrete gemeinsame Bezugspunkte verkörperte: abstrakte Fenster oder Tore auf der Vorderseite, eine Brücke auf der Rückseite, aber keine bedeutenden europäischen Persönlichkeiten.
Eine Einigung auf endgültige Grenzen scheint auch deshalb unmöglich, weil es mehrere gegensätzliche Konzepte gibt. Die Verfechter eines föderalen, also stärker integrierten Europas, etwa die deutsche CDU, halten eine zusätzliche EU-Erweiterung für ein Integrationshindernis. Die gegensätzliche Position beziehen etwa die britischen Euroskeptiker. Frankreich beschreitet einen Mittelweg. Das Land orientiert sich nach Süden, um ein Gegengewicht zu Deutschlands Einfluss im Osten zu schaffen. So ist Griechenland in der Amtszeit (1974–1981) von Präsident Valéry Giscard d’Estaing der EG beigetreten; und in der Amtszeit (1995–2007) von Jacques Chirac folgten der Beitritt von Zypern und Malta.
Es gibt verschiedene Visionen der europäischen Einigung. Doch in der Praxis standen von Anfang an zwei konkurrierende politische Konzeptionen zur Debatte. Zum einen die des französischen Unternehmers Jean Monnet (1888–1979), der als einer der Gründerväter Europas gilt. Der Architekt des Zusammenschlusses der westeuropäischen Schwerindustrie sah die entstehende Gemeinschaft als einen Markt, der sich irgendwann zu einer politischen Macht entwickeln würde.
Der von der Annexion Elsass-Lothringens durch Deutschland geprägte französische Christdemokrat Robert Schuman (1886–1963) hingegen war der Meinung, man dürfe nur ähnliche Partner zu einem erweiterten „karolingischen“ Europa zusammenfügen. Diese Vorstellung wurde 1994 von den CDU-Politikern Wolfgang Schäuble und Karl Lamers unter dem Begriff „Kerneuropa“ wieder aufgegriffen.6 Wie eine Reminiszenz an Schumann mutet auch das informelle Gipfeltreffen vom 25. Juni 2016 an, zu dem sich die sechs Gründungsstaaten Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, Niederlande und Italien zusammenfanden.
In der Praxis hat sich letztlich die (angloamerikanische) Vision Jean Monnets durchgesetzt – zumindest bis zum Brexit-Votum am 23. Juni 2016. Ihr wirtschaftliches Ziel war die Schaffung eines gemeinsamen, den Regeln des Wettbewerbs unterworfenen und grenzenlosen Binnenmarkts. Nach all den geopolitischen Krisen und territorialen Konflikten hatten die Staaten allen Grund, die Einigung Europas voranzutreiben. Die Geschichte hat sie gelehrt, dass die kollektive Sicherheit eher garantiert ist, wenn die Nachbarländer endlich demselben Klub angehören. Zum Beispiel liegt es im Interesse Deutschlands wie Polens, dass beide Länder in dieselben europäischen Strukturen integriert sind.
Für Mittelosteuropa wie für die baltischen Staaten gilt allgemein, dass die Union zusammen mit der Nato die wiedergewonnene nationale Souveränität garantiert. In anderen Ländern entstand der Wunsch, zu Europa zu gehören, aus der Suche nach dem richtigen politischen Weg heraus. So wird die EU in Portugal mit der Rückkehr zur Demokratie und dem Ende der Kolonialkriege gleichgesetzt. In Spanien steht sie für das Ende der Franco-Ära, in Griechenland für das Ende der Militärdiktatur.
Rumänien für Moldau, Griechenland für Serbien
Der Beitritt Irlands und Großbritanniens wiederum hat geholfen, eine obsessive Konfrontation zu entschärfen und das Verhältnis der beiden Länder zu befrieden. Auch auf dem Balkan hat die „europäische Perspektive“ die verfeindeten Staaten zum Dialog verpflichtet.
Eine solche Erweiterung entspricht der angloamerikanischen Strategie, wonach die Grenzen des geeinten Europas sich am Ende mit denen des Europarats decken sollen – ausgenommen Russland. Deshalb haben auch die US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama einen EU-Beitritt der Türkei befürwortet. Und Obamas Vizepräsidenten Joseph Biden unterstützt die ukrainischen Behörden in der Errichtung einer Pufferzone, die sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstrecken soll.
Während es also in Washington eine klare Vorstellung der künftigen Grenzen Europas gibt, vertreten die EU-Mitgliedstaaten je nach ihren nationalen Interessen unterschiedliche Positionen. Polen setzt sich heute für die Ukraine ein, wie es Schweden gestern für die baltischen Staaten getan hat. Rumänien setzt sich für die Republik Moldau und Georgien ein, Griechenland für Serbien. Das sind legitime Positionen, die in ihrer Summe auf eine ständige Erweiterung hinauslaufen.
Einige Staaten und politische Kräfte betonen die geostrategische Bedeutung des europäischen Projekts im Hinblick auf die Nato. Das gilt etwa für die mittel-, nord- und nordosteuropäischen Länder sowie die baltischen Staaten. Für sie sollte die EU irgendwann die Türkei einschließen, nicht aber Russland, während sie sich bei den Südkaukasusländern Armenien, Aserbaidschan und Georgien unsicher sind.
Eine andere Gruppe sieht als entscheidendes Beitrittskriterium die „Identität“, womit sie vor allem eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Werte meint. Für diese Leute hat etwa die muslimische Türkei keinen Platz in der Union. Diese Position vertritt die konservativ-liberale Europäische Volkspartei (EVP), die für das Modell der konzentrischen Kreise eintritt, bestehend aus EU, Euroraum und einem „Kerneuropa“ stärker integrierter Länder. In diesem Sinne äußern sich Wolfgang Schäuble, Joseph Daul, Nicolas Sarkozy und Alain Juppé.
Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) zeigt sich offener für eine Erweiterung und sieht eine Chance zur Verbreitung europäischer Werte (Laizismus respektive Förderung einer „islamischen Demokratie“). Die Europäische Kommission schließlich betreibt eine kontinuierliche Erweiterungspolitik. Damit repräsentiert sie ein „Europa der Bürokraten“, eine Art entpolitisierte Regierung, die sich auf die Themen Binnenmarkt, Wettbewerb und vertiefte Integration konzentriert – mit stillschweigender Unterstützung der für einen Staatenbund eintretenden Länder.
Andere wollen eine zusätzliche Erweiterung nur unter der Bedingung zulassen, dass die Union überhaupt in der Lage ist, neue Mitglieder aufzunehmen. Sie befürworten eine lange Pause im Erweiterungsprozess, eine intensivierte Nachbarschaftspolitik – ohne gleichzeitige Aufnahmeperspektive – sowie „privilegierte Partnerschaften“, etwa mit der Türkei. Diese Position vertreten Politiker in Frankreich (darunter Hollande), Deutschland und Italien.
Das Szenario einer Union, die deutlich differenzierter wäre als bisher, sieht fünf bis sechs Ebenen vor. Da ist zunächst der europäische Wirtschaftsraum, der aus 32 Staaten bestehen könnte, wozu ab 2019 auch Großbritannien gehören würde; sodann die gegenwärtige EU der 27 (gemeinsamer Binnenmarkt, Strukturpolitik, Werte); weiter das finanzpolitisch stärker integrierte Europa der Eurozone; sowie das Europa des Schengenraums, das im Innern Freizügigkeit garantiert und seine Außengrenzen kontrolliert.
Zurück zur alten EWG-Gruppe
Als weitere Ebene könnte „Schengen plus“ hinzukommen: ein noch zu definierender Raum mit nur wenigen Mitgliedstaaten, die eigene Sicherheitskontrollen durchführen. Und als engster Kreis das Europa der Gründerstaaten rund um Frankreich, Deutschland und Italien, wo in bestimmten Sachfragen andere Länder mitwirken könnten: etwa Spanien, wenn es um die Mittelmeerregion und Afrika geht, oder Polen im Rahmen des Konsultationsforums „Weimarer Dreieck“.
In ihrer gemeinsamen Erklärung vom 25. Juni 2016 haben die Außenminister der sechs Gründungsstaaten festgestellt, „dass es unter den Mitgliedstaaten mit Blick auf das Projekt der europäischen Integration unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt“. Wenn dem so ist, stellt sich allerdings die Frage, wie die Europäer ihre hoheitlichen Aufgaben – Verteidigung, Wahrung der Souveränität und Sicherheit – wahrnehmen wollen. Nur wenige Länder (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien) sind diesen Aufgaben überhaupt gewachsen.
Das europäische Projekt muss neu durchdacht werden. Wobei man sich zunächst darüber einigen muss, was die einzelnen Mitgliedstaaten auf der jeweiligen Ebene beitragen können – innerhalb des Kontinents, in den Nachbarregionen im Süden und Osten und weltweit. Es geht keineswegs darum, den einen oder anderen Staat auszuschließen, sondern die Bedingungen für effektives außenpolitisches Handeln zu schaffen. Nur so kann Europa seinen Werten Geltung verschaffen und gemeinsame Interessen verfolgen.
Europa braucht strategische Unabhängigkeit, um die Sicherheit der Warenströme (Zugang zu Rohstoffen, Schutz der Handelswege zu Wasser und zu Land) und eine Grundversorgung (wichtige Infrastrukturnetze) zu garantieren. Europa muss fähig sein, Krisen in seiner Umgebung politisch und diplomatisch zu lösen und einen strategischen Dialog mit den Schwellenländern zu führen. Es muss in einer multilateralen Welt die Rolle eines „vermittelnden Dritten“ anstreben, um die Herausbildung einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China zu verhindern. Und schließlich sollte die EU als weltweit größte Geldgeberin auch in der Entwicklungshilfe vorangehen.
Wird es den Gründungsmitgliedern Frankreich, Deutschland, Italien und Benelux gelingen, eine neue Gemeinschaftspolitik für die künftigen Herausforderungen in der Welt zu formulieren, wie es ihnen in der Epoche des Kalten Krieges und der Entkolonialisierung gelungen ist? Wenn sie es nicht schaffen, ein Gravitationszentrum zu bilden im Sinne einer gemeinsamen Diagnose, Debatte und bewussten Option für ein „europäisches Europa“, wer könnte es dann? Etwa Moskau, Peking oder Washington?
2 Marc Crépon, „Altérités de l’Europe“, Paris (Galilée) 2006.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Michel Foucher ist Geograf und Exdiplomat. Er lehrt angewandte Geopolitik am Collège d’études mondiales (FMSH). Zuletzt erschienen: „Le retour des frontières“, Paris (CNRS éditions) 2016.