10.11.2016

Haiti – Freihandel statt Hilfe

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Haiti – Freihandel statt Hilfe

von Frédéric Thomas

Nach den Verwüstungen durch Hurrikan „Matthew“, Coteaux, 22. Oktober ANDRES MARTINEZ/reuters
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Elf Uhr. Die Arbeiterinnen der Factory 4 und ihre wenigen männlichen Kollegen gehen in die Pause, langsam zerstreuen sie sich unter der gleißenden Sonne. Die meisten tragen noch die vorgeschriebene Haube und einen Kittel. Manche verschwinden in der Kantine, die übrigen streiten sich um einen Schattenplatz unter den wenigen Bäumen. Etwa 40 Haitianerinnen haben das Essen zubereitet, das sie für 50 Gourde (0,70 Euro) pro Portion verkaufen. Johnny wird wie seine Kollegen die Mahlzeiten erst in ein paar Tagen bezahlen, nachdem er seinen Lohn bekommen hat, der zweimal im Monat ausgezahlt wird.

Er arbeitet erst seit 14 Tagen hier. 19 Jahre hat er in der Dominikanischen Republik gelebt und ist „wegen der Probleme dort“ nach Haiti zurückgekehrt. Im September 2013 hatte das dominikanische Verfassungsgericht zwischen 100 000 und 200 000 Einwohnern haitianischer Herkunft die Staatsbürgerschaft aberkannt, es folgten massenhafte Abschiebungen, ein rassistisches Klima machte sich breit.

Jetzt nimmt Johnny täglich außer sonntags den langen Weg aus Cap-Haïtien auf sich – für den Mindestlohn von 240 Gourde (3,36 Euro) pro Tag. Das klingt mies, doch in Johnnys Augen ist das gar nicht so schlecht: Die Arbeitslosenquote beträgt in Haiti fast 60 Prozent. Über 9000 Arbeiter, davon fast zwei Drittel Frauen, arbeiten im Industriepark Caracol (PIC), der vor vier Jahren eröffnet wurde.

Am 12. Januar 2010 traf Haiti ein Erdbeben der Stärke 7; 300 000 Menschen starben, ebenso viele wurden verletzt und 1,5 Millionen obdachlos. Nach der dramatischen Medienberichterstattung gab es viel humanitäre Hilfe, die Haiti in eine „Republik der NGOs“ verwandelte.1

Doch der Großteil der versprochenen 10 Milliarden Dollar (etwa 7,2 Milliarden Euro) kam niemals an: Die Zahl beinhaltet Kredite ebenso wie bereits im Haushalt veranschlagte Beträge, Schuldenerlasse und Spendenversprechen, die nicht immer eingehalten wurden. Die Hilfe wurde zum Markt. Sechs Jahre später haben sich die Lebensumstände der Haitianer nicht verbessert, und das Land ist den Naturgewalten nach wie vor schutzlos ausgeliefert.

Am 4. Oktober 2016 schlug der Hurrikan „Matthew“ zu, wie schon 2004 ­„Jeanne“, 2008 „Gustav“, „Hanna“ und „Ike“ oder 2012 „Sandy“. Auch dieses Mal fürchtet man, dass die Cholera sich wieder ausbreitet, die Nahrungsmit­tel­unsicherheit zunimmt und die Einwohner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und gesundheitlicher Versorgung haben. Die Bilder der Ka­tas­trophe waren auf allen Titelseiten, die interna­tio­nale Unterstützung rollte an, und die Helfer erklärten, sie hätten aus dem Fiasko von 2010 gelernt. Es fragt sich nur, welche Lehren das sein sollen.

Am 22. Oktober 2012 wurde der Industriepark Caracol in Anwesenheit des Ehepaars Clinton2 , des haitianischen Präsidenten Michel Martelly und seines Vorgängers René Préval mit großem Pomp eröffnet. Er steht für die Verbindung von humanitärer Hilfe und Marktkonformität, wie die beiden Slogans zeigen: „Besserer Wiederaufbau“ und „Haiti steht für Geschäfte offen“ („Haiti is open for business“).

Hauptmieter ist die Firma S&H Global, eine Tochter des koreanischen Multis Sae-A, führend in der Textilherstellung für bekannte Marken wie Wal­mart, Target und Gap. Sie profitiert vom freien Zugang zum US-Markt, denn laut dem Freihandelsvertrag Caribbean Basin Trade Partnership (­CBTPA), der im Mai 2000 unter US-Präsident Clinton zwischen den USA und 23 Karibikstaaten abgeschlossen wurde, sind in Haiti hergestellte Textilprodukte zollfrei.

Caracol wurde unter Leitung des haitianischen Staates in einer Rekordzeit von zehn Monaten für über 300 Mil­lio­nen Dollar aus dem Boden gestampft, das Geld stammte von der US-Regierung und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB). Der Industriepark sollte die Dezentralisierung des Landes fördern, Zehntausende Arbeitsplätze schaffen und aus der Katastrophe von 2010 eine „günstige Gelegenheit“ machen.

Das Projekt war jedoch bereits vor dem Erdbeben anvisiert worden: Der Industriepark sollte das Aushängeschild des geplanten haitianischen „Wirtschaftskorridors Nord-Nord-Ost“ werden (von Cap-Haïtien bis zur dominikanischen Grenze), der Tourismus- und Bergbauprojekte mit Sonderwirtschaftszonen wie Caracol verbindet.

Ein Industriepark in koreanischer Hand

Der bewaffnete Posten am Eingang des Dorfes La Différence (Der Unterschied) fragt nach dem Grund unseres Besuchs. „Wir wollen zu Sherley von P48.“ Die dicht an dicht stehenden Arbeiterhäuschen in Rosa, Hellblau und Grün bilden eine aseptische, in sich geschlossene Welt, die an die unheimliche Atmosphäre in dem künstlichen Dorf von „Number Six (The Prisoner)“ erinnert, der britischen TV-Serie aus den 1960er Jahren.

Als Bauherrin von La Différence fungierte die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID). Mit dem Bau der Siedlung wollte man den Familien, die beim Erdbeben 2010 ihre Wohnung verloren hatten, ein neues Zuhause geben und zugleich den Industriepark mit schnell verfügbarem Personal versorgen – also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Doch beim Bau der etwa 900 Häuser kam es zu Verspätungen, Kostensteigerungen und technischen Fehlern. Die Siedlung verfügt zwar über eine von S&H Global gesponserte Schule, doch es gibt keinen Supermarkt, keinen Spielplatz und kein Gesundheitszentrum.

Der Industriepark folgt der Logik der Entwicklungspläne, die man Haiti seit 40 Jahren aufzwingt: „Wachstumshebel“ wie Tourismus, Bergbau oder Zulieferindustrie stärken, indem man immer mehr Sonderwirtschaftszonen eröffnet. Diese Strategie habe „teilweise“ Erfolg, erklärt Gilles Damais, der in Haiti für die Interamerikanische Entwicklungsbank arbeitet. Und Liszt Quitel, Geschäftsführer des Industrieparks, verweist auf die 9000 neu geschaffenen Arbeitsplätze sowie die Senkung der Strompreise dank des Kraftwerks in der Zone. Der Park werde indirekt weitere Arbeitsplätze schaffen, die Kaufkraft erhöhen und den Aufbau kleiner Geschäfte ermöglichen, die vorher nicht hätten existieren können.

Keiner unserer beiden Gesprächspartner idealisiert jedoch das bestehende Modell. „Solche Industrieparks sind vor allem Enklaven“, meint Damais. Er sieht darin dennoch eine unabdingbare Übergangsetappe: „Die Idee ist, dass wir von der einfachen Industrie, wo man nur billige Arbeitskräfte braucht, zu einer Montageindustrie aufsteigen, die mehr Wertschöpfung generiert und mehr Erfahrung und Wissen verlangt, und am Ende eine Dienstleistungsindustrie schaffen.“ Ein kurzer Rundumblick lässt einen jedoch am Gelingen dieses Aufstiegsmodells zweifeln.

S&H Global ist mit seinen 8000 Beschäftigten Haitis zweitgrößter Arbeitgeber im Textilsektor. Der südkoreanische Multi hat sich verpflichtet, insgesamt 20 000 Arbeitsplätze zu schaffen, und die Regierung Martelly versprach nicht weniger als 65 000 Jobs im gesamten Industriepark. Doch die Studien zu Sonderwirtschaftszonen neigen dazu, die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze zu überschätzen, und sie berücksichtigen kaum, unter welch prekären Bedingungen diese Arbeit stattfindet.

Hinzu kommt, dass die Zahlen für den Industriepark Caracol als einfache Projektion berechnet wurden, ausgehend von der verfügbaren Fläche und der Anzahl der Arbeiter, die dort unterkommen könnten. Der Mindestlohn, der hier faktisch zugleich den Höchstlohn darstellt, ist aber so niedrig, dass man davon gerade überleben kann. Aufgrund einer Inflationsrate von 15 Prozent und der fortschreitenden Abwertung des Gourde gegenüber dem Dollar (zwischen April 2015 und September 2016 um 40 Prozent) nimmt die Kaufkraft in diesem Land, das 60 Prozent der konsumierten Lebensmittel einführen muss, rasant ab.

„Was wirst du aus all dem machen, Weißer? Wirst du die Wahrheit sagen?“, fragt Rose-Myrlande, eine der Arbeiterinnen. Die Haitianer sind an die internationalen Regierungsvertreter, Berater und Experten aller Art gewöhnt, deren Gehalt oft genauso üppig ist wie ihr Wissen über die Umstände im Land gering. Sie sind wachsam geworden.

Die meist jungen und streitbaren Mitglieder von Batay Ouvriye, einer der beiden Gewerkschaften im Industriepark, die nach eigenen Angaben 3000 Mitglieder zählt, hegen noch die Hoffnung, dass sie hier nur für kurze Zeit jobben, bevor sie ihr Studium wieder aufnehmen können oder eine „richtige“ Arbeit gefunden haben. Sie kommen gerade von einer Demonstration für einen Mindestlohn von 500 Gourde. Inzwischen hat die Regierung ihn auf Druck der Gewerkschaften von 240 auf 300 Gourde erhöht, aber nur im Textilsektor.

Die Hierarchie, die auf dem Gelände des Industrieparks herrscht, ist ein Abbild der globalen Arbeitsteilung: ganz oben die Koreaner, eine Etage tiefer die leitenden Angestellten aus Zentralamerika und der Dominikanischen Republik und ganz unten die unqualifizierten, schwarzen Arbeiter aus Haiti. „Die Koreaner sind sehr hart, sie setzen uns unter Druck. Sie sind hier die Herren.“ „Es heißt ‚Ruhe!‘ und ‚Nein, Madame!‘“, erzählt Sherley. „Sie hören dir nicht zu. Und wenn sie dich anschreien, musst du die Klappe halten, du darfst nicht antworten.“

12.55 Uhr. Sherley, Rose-Myrlande, Azemar und die anderen rühren die steifen Glieder, versuchen ihre Müdigkeit abzuschütteln und gehen zurück in die Factory 1. In den anderen Fabriken hat die Arbeit längst wieder begonnen. Sie müssen noch drei Stunden durchhalten – oder mehr, wenn ein „Extra“, eine Überstunde zu 45 Gourde, angekündigt wird, die man schwer ablehnen kann. Dann geht es in den überfüllten Bus nach Hause. Am nächsten Morgen beginnt alles von vorn.

1 Siehe Céline Raffali, „Die Stunde der Wohltäter“, Le Monde diplomatique, Mai 2013.

2 Hillary Clinton in ihrem Amt als Außenministerin, ihr Mann Bill als UN-Sondergesandter.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Frédéric Thomas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre tricontinental (Cetri) und Autor von „L’Échec humanitaire. Le cas haïtien“, Brüssel (Couleur Livres) 2012.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2016, von Frédéric Thomas