Kolumbiens Nein zum Frieden
von Gregory Wilpert
Kolumbien ist betäubt von 52 Jahren Bürgerkrieg. Vier Jahre Verhandlungen haben nicht ausgereicht, um die starren politischen Fronten im Land zu lösen. Dass die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) und die kolumbianische Regierung überhaupt begannen, miteinander zu reden, liegt daran, dass beide Seiten einsehen mussten, dass eine militärische Lösung unmöglich ist.1
Die Farc hat schwere Verluste hinnehmen müssen, besonders während der verstärkten Repression unter Präsident Álvaro Uribe (2002–2010), der alle Kräfte mobilisiert hatte, um die Guerilla zu vernichten. Damals bekleidete der heutige Präsident Juan Manuel Santos das Amt des Verteidigungsministers. Es war ihm gelungen, mehrere prominente Anführer der Farc töten zu lassen; die übrigen Guerilleros lud er mit flankierenden Resozialisierungsprogrammen ein, die Waffen niederzulegen. Ihre Reihen lichteten sich, aber sie verschwanden nicht. Auch auf staatlicher Seite begann man zu begreifen, dass diese Maßnahmen nicht ausreichten.
In den 1990er Jahren, unter Präsident Gaviria (1990–1994), hatte die Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung begonnen: Senkung der Einfuhrzölle, Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung des Außenhandels, verstärkte Produktion für den Weltmarkt.2 Diese neoliberale Wirtschaftspolitik wurde jedoch vom Bürgerkrieg konterkariert: Die Farc und andere Konfliktparteien erhoben in den von ihnen kontrollierten Gebieten Steuern von den Grundbesitzern; sie entführten immer häufiger Geiseln und forderten Lösegeld. Die internationalen Unternehmen, zumal in den Bergbauregionen, mussten Unsummen für ihre Sicherheit ausgeben.
Die Antwort der Eliten auf diese Situation war die massive Förderung und teilweise Neugründung von rechtsextremen paramilitärischen Gruppen. Die stärkste war die AUC (Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens). Deren offizielles Ziel war es, dem Staat bei der Bekämpfung der Guerillas zu helfen. Sie begingen unzählige politische Morde an Gewerkschaftlern, Bürgerrechtlern, Journalisten und Angehörigen oppositioneller Parteien. Und sie sorgten für die Vertreibung von mehreren Millionen Kleinbauern, die der Grundbesitzeroligarchie bei der Ausweitung des Bergbaus und der exportorientierten Agrarindustrie im Wege waren.3
Als Nachfolger des Hardliners Uribe wurde im August 2010 Juan Manuel Santos Präsident: einer, der die kosmopolitische Oberschicht der Städte perfekt verkörperte und die kolumbianische Wirtschaft modernisieren wollte. Die Zeit war gekommen, mit der Farc und der anderen großen Guerillagruppe, der ELN, zu reden.
Die Verhandlungen, die im September 2012 in Havanna begannen, verfolgten sechs wesentliche Ziele: Richtlinien für einen Waffenstillstand und die folgende Entwaffnung festzulegen; den Opfern des Bürgerkriegs, der schätzungsweise 250 000 Tote gefordert hatte, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; das Problem des Drogenhandels zu lösen; die ländliche Entwicklung zu fördern, da die Armut auf dem Lande einer der wichtigsten Auslöser des Konflikts gewesen war; den ehemaligen Kämpfern zu ermöglichen, sich in der Politik zu engagieren, und breitere Bevölkerungsschichten zur Mitwirkung zu ermuntern; und schließlich die Durchsetzung und Überwachung all dieser Vereinbarungen sicherzustellen. Um die Legitimation der Verhandlungen zu stärken, versprach Santos, eine landesweite Volksabstimmung über deren Ergebnis durchzuführen. Die Farc hatte dagegen zunächst Vorbehalte, stimmte aber dann doch zu.
Das Ende September unterzeichnete Friedensabkommen beinhaltete keine Lösung der Landfrage, und es sieht schon gar keine keine Änderung des Wirtschaftssystems vor. Die extrem ungleichen Besitzverhältnisse sollten erhalten bleiben: In Kolumbien gehört einem Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Bodens. Keines der Probleme, die am Ursprung des Bürgerkriegs standen, wird damit gelöst; das Abkommen begnügt sich damit, den Status quo beizubehalten, ohne den Anspruch, die Vorkriegssituation wiederherzustellen. Angesichts der hohen Zahl von Menschen, die durch den Krieg vertrieben wurden, stimmten die Unterhändler darin überein, dass die Rückgabe der Ländereien ein heikler Prozess werden würde.
Die Abstimmungskampagne für das Friedensabkommen hatte mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen: Zwischen dem Abschluss der Verhandlungen am 24. August und der Abstimmung am 2. Oktober lagen nur sechs Wochen, in denen das 300 Seiten umfassende Dokument verständlich und überzeugend zusammengefasst und vermittelt werden musste.
Mit falschen Informationen Propaganda für das Nein
Zudem litt das Ja-Lager an einer großen Schwäche: Präsident Santos ist auch aufgrund der wirtschaftlichen Probleme des Landes sehr unbeliebt; die Arbeitslosigkeit liegt bei 9 Prozent, die Inflation bei 7 Prozent. Als die Umfragen verkündeten, die Befürworter des Friedensabkommens lägen mit großer Mehrheit vorn, sahen dessen Anhänger sich bereits als Sieger und nahmen ihre Gegner nicht mehr ernst.
Der Verantwortliche für die Nein-Kampagne, der konservative Exsenator Juan Carlos Vélez Uribe aus Medellín, enthüllte wenige Tage nach dem Referendum in einem Interview mit der Tageszeitung La República Details seiner Kampagne, die er als „billigste und effektivste der Geschichte“ bezeichnete.4 Eine seiner wichtigsten Strategien bestand darin, für Empörung zu sorgen, indem falsche oder tendenziöse Informationen verbreitet wurden. So lenkten die Gegner des Abkommens beispielsweise die öffentliche Aufmerksamkeit auf die finanzielle Unterstützung, die Angehörige der Farc erhalten sollten, die über keine anderen Einkünfte verfügten. Der Betrag von 212 Dollar pro Monat wurde wieder und wieder genannt – und darauf hingewiesen, dass er 90 Prozent des Mindestlohns entspricht, und für ein armes Land viel zu hoch sei.
Noch gefährlicher war die Behauptung, das Abkommen enthalte Klauseln, die die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare in Kolumbien legalisieren würden5 – denn 30 Prozent der Einwohner Kolumbiens gehören einer evangelikalen Kirche an. In Wahrheit werden in dem Dokument weder Ehe noch Homosexualität auch nur erwähnt. Die Gegner erklärten zudem, das Abkommen werde Kolumbien zu einem „castro-chavistischen“ Land machen, das heißt zu einen Staat wie Kuba oder Venezuela. Und schließlich bezog sich ein durchschlagendes Argument auf die Vereinbarungen zur Übergangsjustiz, nach der Strafmilderungen für Farc-Kämpfer vorgesehen sind, wenn sie sich zu Kriegsverbrechen bekennen. Diese Klausel sorgte für besondere Wut bei einer Bevölkerung, deren Wahrnehmung des Konflikts durch die Medien einseitig beeinflusst war.
Die Wissenschaftlerin und Bloggerin Alexandra García6 hat über 500 Artikel untersucht, die zwischen 1998 und 2006 in den großen kolumbianischen Tageszeitungen (El Tiempo, El Colombiano, El Heraldo und andere) erschienen waren. Sie wies nach, dass der Begriff „Paramilitär“ oder die Namen rechtsextremer Organisationen in 75 Prozent der Artikel über Gewalttaten, die diesen Gruppierungen zuzurechnen waren, überhaupt nicht auftauchten. Man schrieb lediglich von „Bewaffneten“ oder „maskierten Männern“. Wenn es um Gewalttaten der Guerilla ging, wurde sie jedoch in 60 Prozent der Fälle namentlich benannt. Deshalb geben 32 Prozent der Bevölkerung der Farc auch die Hauptschuld an der Gewalt in Kolumbien, während sämtliche wissenschaftliche Studien eine ganz andere Verantwortungshierarchie bei Gewaltverbrechen aufzeigen: An oberster Stelle steht der Staat, dann kommen Verbrechen, die nicht im Zusammenhang mit einer bestimmten Organisation stehen, gefolgt von den Paramilitärs, den Drogenbanden und den Guerillas.7
Während der gesamten Kampagne schlug Expräsident Uribe, der wichtigste Vertreter des Nein-Lagers, seinen Gegnern die Vereinbarungen zur Übergangsjustiz um die Ohren. Auch Human Rights Watch sprach sich für die Ablehnung des Abkommens aus: Geständige Farc-Kämpfer sollten ihre Gefängnisstrafen nicht einfach in gemeinnützige Arbeit oder Hausarrest umwandeln können. Viele Friedensabkommen, wie etwa in El Salvador oder Südafrika, sahen allerdings ähnliche Maßnahmen im Rahmen einer Wiedergutmachungsjustiz vor.
Uribe hat für seine strikte Ablehnung des Friedensabkommens vermutlich ganz andere Gründe als Human Rights Watch. Die Menschenrechtsbilanz während seiner Amtszeiten als Gouverneur von Antioquía und später als Präsident lässt die Annahme zu, dass Gerechtigkeit nicht zu seinen politischen Prioritäten zählt. Als Staatschef hat er zudem dafür gesorgt, dass den Paramilitärs bei ihrer offiziellen Auflösung 2005 noch sehr viel großzügigere Übergangsregelungen zugestanden wurden als den Farc-Kämpfern heute.
Wahrscheinlich ist es aber die Frage der Landrückgabe, die ihm die meisten Sorgen bereitet. Die Familie Uribe ist eng mit der ländlichen Oligarchie verbunden, die Angst hat, den vertriebenen Bauern ihr Land zurückerstatten zu müssen. Nach dem Referendum schlug Uribe umgehend Änderungen am Text des Friedensabkommens vor, von denen die wichtigste genau dieses Thema betraf: „Das Abkommen muss anerkennen, dass eine kommerzielle Produktion im großen Maßstab vorhanden ist, dass sie von Bedeutung für die ländliche Entwicklung und die Wirtschaft des Landes ist und dass der Staat verpflichtet ist, sie zu fördern.“8 Man solle darauf verzichten, brachliegendes Land zu konfiszieren, das zuvor vertriebenen Bauern gehört hatte. Man dürfe die Privateigentümer, die dieses Land „im guten Glauben“ erworben hätten, nicht dazu verpflichten, es den früheren Besitzern zurückzugeben, auch wenn diese durch Übergriffe von Paramilitärs oder den Bürgerkrieg zur Flucht gezwungen worden waren.
Das negative Ergebnis des Referendums vom 2. Oktober ist maßgeblich auf die geringe Wahlbeteiligung von 37 Prozent zurückzuführen, was dazu führte, dass die Neinstimmen von 18 Prozent der Wahlberechtigten für die Ablehnung ausreichten. Die Stürme in den Küstenregionen am Tag der Abstimmung haben dabei sicherlich eine Rolle gespielt: In den nordöstlichen Küstendepartamentos Magdalena und La Guajira lag sie bei 75 beziehungsweise 80 Prozent. Aber die Wahlmüdigkeit ist auch ein Ergebnis der Entpolitisierung des Landes, die wiederum auf die Repressionen und Medienmanipulationen in seiner jüngsten Geschichte zurückzuführen ist. Die Todesschwadronen der Paramilitärs haben praktisch eine ganze Generation von politisch Engagierten und Bürgerrechtlern ermordet. Unter diesen Umständen verwundert es kaum, wenn Kolumbien notorisch eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen in Lateinamerika aufweist.
Der Sieg der Gegner des Friedensabkommens bringt jedoch beide Seiten in eine unangenehme Lage. Die Farc erklärte, sie sei bereit, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, würde aber den Abschnitt zur Übergangsjustiz nicht mehr antasten, der den Gegnern so wichtig ist. Auch diese führen einen seltsamen Eiertanz auf: Uribe hat sich zwar vor allem gegen das Justizmodell für den Frieden ausgesprochen, in Wahrheit aber will er die Landrückgabe verhindern. Santos könnte das Abkommen vielleicht retten, wenn er Änderungen einfügen würde, die den Justizteil unangetastet lassen und der Farc größere Zugeständnisse in der Landfrage abringen. Die Guerilleros müssten sich dann vermutlich damit begnügen, auf der Umsetzung des 2011 verabschiedeten Gesetzes zur Landrückgabe9 zu bestehen.
In ganz Kolumbien engagieren sich soziale Bewegungen für die Umsetzung des Friedensabkommens in der unterzeichneten Fassung. Vor dem obersten Gericht wird das Ergebnis des Referendums angefochten, da sich die Kampagne der Gegner nachweislich falscher Behauptungen bedient habe. Doch dieses Verfahren wird wohl nicht rechtzeitig zum Abschluss kommen: Präsident Santos verfügt – auch durch die Verleihung des Friedensnobelpreises – über das nötige Gewicht, um sich mit der Farc auf eine modifizierte Form des Abkommens zu einigen. Bei den Nachverhandlungen, die seit Ende Oktober laufen, gibt es laut Santos bisher mehr als 500 Änderungsvorschläge. Ob ein geändertes Abkommen erneut dem kolumbianischen Volk zur Abstimmung vorgelegt werden soll, ließ er offen.
1 Siehe Gregory Wilpert, „Stadt, Land, Guerilla“, Le Monde diplomatique, Oktober 2012.
4 La República, Bogotá, 5. Oktober 2016.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Gregory Wilpert ist Journalist bei therealnews.com. Autor von: „Changing Venezuela by Taking Power. The History and Policies of the Chávez Government“, London (Verso) 2007.