Macht, Geschäfte und Moral
Russland und die USA haben sich über die Beteiligung am Syrienkonflikt erneut entzweit. Doch das komplexe Verhältnis der beiden Großmächte kann sich auch schnell wieder ändern: In den letzten hundert Jahren haben sich beide Seiten gegenseitig mal verteufelt oder hofiert – je nach eigener Interessenlage und unabhängig von Moral und Ideologie.
von Dmitry V. Shlapentokh
Ein wesentliches Element jedes geopolitischen Konflikts ist das Moralisieren. Das gilt insbesondere für Staaten wie die USA und Russland. Derzeit neigt man vor allem in Washington dazu, die moralische Karte zu spielen – jedenfalls im Hillary-Clinton-Lager, wo man den Bösewicht Donald Trump mit dem Hinweis entlarven kann, er missachte die edlen Prinzipien, auf denen die US-Außenpolitik seit den Gründervätern beruht. Eine Abkehr von diesen Grundprinzipien sieht man in Trumps erklärtem Wunsch, sich mit dem autoritären russischen Präsidenten Putin anzufreunden.
Auch in Moskau versichert man gern, dass sich die russische Außenpolitik stets an hohen Prinzipien orientiere. Allerdings zielt der Kreml mit seiner moralisierenden Rhetorik vor allem auf das russische Publikum, während das Moralisieren in Washington an die internationale Öffentlichkeit gerichtet ist.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das Verhältnis zwischen den USA und Russland (respektive der Sowjetunion) nicht etwa von Prinzipien – formuliert im jeweils herrschenden ideologischen Jargon – bestimmt wurde, sondern von einem nüchternen Pragmatismus. Daraus folgt, dass beide Länder in Zukunft durchaus kooperieren könnten, trotz der feindseligen Rhetorik, die den Diskurs in den USA und in Russland bestimmen, und die in Zukunft auch nicht vollständig verschwinden wird.
Es begann schon mit der Oktoberrevolution. 1917 hatten die meisten US-Amerikaner, und in gewisser Weise die gesamte westliche Elite, von den Bolschewiken ein Bild, das der heute herrschenden Wahrnehmung des IS ähnelt: Das neue Regime war die Inkarnation des Bösen, sein Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit. Die Bolschewiken wiederum sahen ähnlich optimistisch in die Zukunft wie die heutigen Islamisten. Ihr Sieg und die revolutionären Aufstände in Teilen Europas beflügelten ihre Hoffnungen auf eine weltweite proletarische Revolution.
Die Folge war, dass man nicht miteinander sprach. Doch dann merkte man in Moskau, dass die erwartete Revolution nicht kommen würde. Die sowjetischen Ideologen räumten ein, dass die kapitalistische Welt in eine Periode „zeitweiliger Stabilisierung“ eingetreten sei und man sich mit ihr arrangieren müsse. Auch im Westen kapierte man, dass die Sowjetunion so bald nicht verschwinden würde, und begann, den neuen Staat de facto wie de jure anzuerkennen.
Die westlichen Politiker, die auf das sowjetische Regime zugingen, interpretierten die Entwicklung in Moskau als einen „Thermidor“ – in Analogie zu jener Phase der Französischen Revolution, in der die radikalen Jakobiner (mit denen die Bolschewiken häufig verglichen wurden) von einer gemäßigteren Fraktion abgelöst wurde. Der sowjetische „Thermidor“ wurde mit dem Ende des Regimes gleichgesetzt. Diese Interpretation war damals im Westen weit verbreitet, auch in Kreisen der russischen Opposition, bei Menschewiken und Trotzkisten.
Man befand, die UdSSR sei fast ein „normales Land“ und könnte in den Kreis der Weltmächte aufgenommen werden. Die Gründe waren natürlich eher pragmatische als moralische. Man konnte die Sowjetunion nicht mehr ignorieren, außerdem sah man die Perspektiven, die in dem Riesenland winkten. 1933 nahmen die USA diplomatische Beziehungen zur UdSSR auf. Damals hatte Stalin bereits die volle Kontrolle übernommen und mit der Kollektivierung der Landwirtschaft begonnen, in deren Verlauf viele Millionen Menschen verhungerten oder im Gulag verschwanden.
Aber das hat die Entscheidungen in Washington nicht beeinflusst. Die Gründe waren nicht nur geopolitische, es ging auch um unternehmerische Interessen. Die USA litten unter der Großen Depression und die Sowjetunion war ein riesiger Markt für Maschinen und andere Ausrüstungsgüter. Tatsächlich war die UdSSR damals das einzige große Land, das in den USA solche industriellen Güter kaufte, während die anderen europäischen Staaten, die ebenfalls in der Depression steckten, ihre Märkte abzuschirmen versuchten.
Und es gab noch andere Vorteile: Stalin forcierte die Industrialisierung und musste mit allen Mitteln harte Währung auftreiben. Eines davon war der Verkauf russischer Kulturschätze. Viele Leute im Westen, auch Amerikaner, haben damals ihr Schnäppchen gemacht. All das trug dazu bei, ein bestimmtes Image der Sowjetunion und vor allem eine bestimmte Politik ihr gegenüber zu erzeugen. Mitglieder der herrschenden Elite feuerten ab und zu Propagandasalven gegen die gottlosen Sowjets, aber zugleich machten sie ihren Handel mit ihnen. Die Bolschewiken waren nicht so schlimm, dass man auf Geschäfte mit ihnen verzichten musste.
Als dann Roosevelt seinen New Deal ins Werk setzte, wurde die Einstellung zum Kreml in Washington wie in der Öffentlichkeit noch nachsichtiger. Der Hauptgrund war, dass Roosevelts Politik eines direkten Engagements des Staates in der Wirtschaft, das zuvor undenkbar gewesen war, das sowjetische Experiment in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ.
Das galt insbesondere für die Linke, die sich wenig darum scherte, dass Stalin die Kulaken verfolgte und die berüchtigten Säuberungen begonnen hatte. Der Moskauer Korrespondent der New York Times, Walter Duranty, stellte die UdSSR in seinen Berichten als fast ideale Gesellschaft dar. Und das war keine Ausnahme. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der auf dem Höhepunkt der Großen Säuberung nach Moskau fuhr, veröffentliche 1937 einen idealisierenden Bericht.
Know-how aus Amerika für die Sowjetindustrie
Wie Feuchtwanger feierten andere europäische Linke die Sowjetunion, wofür sie – wie die Linken in den USA – ihre eigenen historischen Gründe hatten. Europäische und zumal jüdische Linke waren zutiefst besorgt über den Faschismus, speziell den der deutschen Nazis mit seinem antisemitischen Tönen. Auf der Suche nach alternativen politischen Modellen wandten sie sich der UdSSR zu. Dabei sahen sie kein Problem, Stalins Terror war anfangs nicht speziell gegen Juden gerichtet. Vielmehr gab es in der Geheimpolizei NKWD sehr viele Juden, darunter auch der erste NKWD-Chef Genrich Jagoda, der 1936 zu den Initiatoren der Großen Säuberung gehörte. 1938 wurde er selbst Opfer des Terrors.
Während man im Westen viele Gründe fand, mit Moskau trotz aller Differenzen zusammenzuarbeiten, entdeckte man auch in Moskau, dass mit den „kapitalistischen Räubern“ gute Geschäfte zu machen waren. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatte sich das konsolidierte sowjetische Regime allmählich in die globale Ordnung integriert. Das wirkte sich auch auf die Ideologie aus: Zwar blieb der Marxismus-Leninismus das offizielle Credo, aber darunter entwickelte sich der neue „Nationalbolschewismus“. Kern dieser Doktrin war die Annahme, dass der Bolschewismus nicht durch die – marxistisch begründete – Perspektive der proletarischen Weltrevolution legitimiert sei, sondern durch die Gründung der mächtigen Sowjetunion, die als erneuerte Form des alten, seit Jahrhunderten existierenden russischen Reiches aufgefasst wurde.
Die neue Ideologie beinhaltete eine pragmatische Außenpolitik, für die die USA kein großes Problem darstellten. Sie wurden vielmehr als ein nützlicher, freundlicher Staat angesehen. Noch vor der offiziellen Aufnahme diplomatischer Beziehungen belieferten die USA die Sowjetunion mit wichtigen Maschinen, und US-Amerikaner, die zu Hunderten oder sogar zu Tausenden in der UdSSR arbeiteten, brachten wichtige Fertigkeiten mit. Zwar wurde in der sowjetischen Propaganda immer wieder auf die Not der amerikanischen Arbeiter in der Großen Depression aufmerksam gemacht, um die Schrecken des Kapitalismus zu veranschaulichen,1 aber der Kreml drohte Washington nicht wie anderen westlichen Hauptstädten.
Stalin ließ sogar eine Wertschätzung der USA erkennen, als er meinte, die Sowjetunion müsse sich deren technische Errungenschaften ebenso zum Vorbild nehmen wie die Organisationsprinzipien und die hohe Produktivität ihrer Unternehmenskultur. Bis Ende der 1930er Jahre entwickelten beide Staaten eine für beide Seiten profitable Zusammenarbeit. Eine Kooperation oder gar eine Allianz mit Nazi-Deutschland galt in dieser Zeit dagegen für als undenkbar. Schließlich gehörte die Vernichtung des Bolschewismus zu den erklärten Hauptzielen von Hitlers Außenpolitik und sein 1936 mit Japan geschlossener „Anti-Komintern-Pakt“ war explizit gegen die UdSSR gerichtet.
Doch mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 24. August 1939 wurden Moskau und Berlin über Nacht zu militärischen Verbündeten. Der Anti-Komintern-Pakt war vergessen. Die Sowjetunion und Deutschland einigten sich auf die Teilung Polens im Auftakt zum Zweiten Weltkrieg und planten weitere gemeinsame Abenteuer. Das populäre sowjetische Karikaturistenkollektiv Kukryniksy zeichnete Bilder, auf denen Flugzeuge der „verbrüderten Völker“ gemeinsam London bombardierten.
Diese abrupte Wende in den Beziehungen zwischen den Sowjets und den Nazis führte zu einem ebenso dramatischen Wandel des Ansehens, das die UdSSR bei den Eliten des Westens und insbesondere der USA genossen hatte. Plötzlich entdeckte man, dass Stalin nicht der „fortschrittliche“ Staatsmann war, der die Bewegung gegen die faschistische Bedrohung anführte, sondern ein blutrünstiger Diktator derselben Sorte wie Hitler und Mussolini. Die Wahrnehmung des sowjetischen Regimes veränderte sich auch bei den westlichen Linken. Einige von ihnen waren ehrlich enttäuscht, andere passten ihre Einstellung einfach der allgemeinen Stimmung an.
Dieser Fall von ideologischem Opportunismus war nicht der erste. Und auch nicht der letzte. 30 Jahre später sahen westliche Linksintellektuelle in der chinesischen Kulturrevolution, die mit brutalen Gewaltakten jeglicher Art einherging, einen Ausdruck der Tatkraft gegenüber einer korrupte Bürokratie, der am Ende den „wahren Sozialismus“ hervorbringen würde. So reisten die einflussreichen französischen Intellektuellen Tsvetan Todorow und Julia Kristeva während der Kulturrevolution nach China und verkündeten anschließend, dass der Sozialismus das „Ende der Geschichte“ ist. Als das ideologische Klima umschlug, entdeckten sie, dass der Sozialismus eine Sackgasse der Geschichte war. Ähnlich ging es den westlichen Intellektuellen, die 1939 plötzlich bemerkten, dass sie mit ihrer Einschätzung Stalins und seines Regimes völlig falsch gelegen hatten.
Aber damals kam gleich die nächste Kehrtwende. Nicht einmal zwei Jahre nach dem deutsch-russischen Abkommen überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Und sofort änderte sich die gegenseitige Einschätzung Washingtons und Moskaus wieder. Präsident Roosevelt machte Stalin zum gutmütigen „Uncle Joe“. Dessen Taten wurden implizit mit der Argumentation gerechtfertigt, Stalin habe nur getan, was jeder andere Staatsführer auch tun sollte, nämlich die „fünfte Kolonne“ im eigenen Land zu vernichten. Warum sollte man die Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung nach Sibirien und Zentralasien anders bewerten als ähnliche „Präventivmaßnahmen“, mit denen in den USA mehr als 100 000 Bürger japanischer Abstammung in Internierungslager gesteckt wurden?
Als die Rote Armee an der Ostfront die Wende im Kriegsgeschehen erzwang und der Niedergang Großbritanniens sich immer deutlicher abzeichnete, kam in Washington sogar die Idee auf, dass man die globale Vormachtstellung in der Nachkriegszeit mit Moskau teilen könnte. Der ideologische Hintergrund für eine solche Allianz, die zumindest als Option erwogen wurde, erschließt sich aus einem Buch, das kurz nach dem Krieg publiziert wurde. In „The Great Retreat“ (Der große Rückzug) versuchte Nicholas Timasheff aufzuzeigen, dass die UdSSR endgültig ihr Thermidor- Stadium erreichte habe und dass sich eine Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung anbahne.2 Warum sollten die USA, die vor 1917 gute Beziehungen mit dem Zarenreich unterhalten hatten, nicht ebenso gut mit Stalin auskommen und die globale Vorherrschaft mit ihm teilen?
Eine ähnliche Idee hatten übrigens eine Zeit lang strategische Köpfe in den USA auch im Hinblick auf China entwickelt. Noch vor wenigen Monaten schlug Zbigniew Brzeziński, der ehemalige Nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, eine geopolitische Strategie vor, wonach die USA die globale Vorherrschaft mit der Volksrepublik China teilen könnten.3
Solche Pläne haben bisher aber weder im Hinblick auf China noch auf Russland funktioniert. 1946 begann der Kalte Krieg und das alte Bild Stalins als blutiger Tyrann wurde wieder hervorgeholt. Das zeigt einerseits, wie schnell und radikal sich die Dinge ändern können und, andererseits, dass die pragmatischen Interessen von Moskau und Washington immer die entscheidende Rolle gespielt haben. Das lässt sich auch anhand der russisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Ende der Sowjetunion aufzeigen.
Das Verhältnis zwischen Moskau und Washington nach 1991 wurde nicht dadurch bestimmt, wie sich die russischen Führer verhielten oder wie populär sie zu Hause waren, sondern danach, welches die Interessen und Bedürfnisse der Eliten beider Länder waren. In diesem Verhältnis war kein Platz für die „moralischen“ Motive, die man gern in Washington – und besonders im Lager von Hillary Clinton – als wichtige Triebkraft der US-Außenpolitik darstellt.
Es gab sowjetische wie postsowjetische Führer, die bei der Mehrheit der Russen verhasst waren. Und es gab Führer, die nach den Maßstäben jeder westlichen demokratischen Gesellschaft fürchterliche Verbrechen begangen haben und dennoch von Washington akzeptiert wurden, wenn ihr Verhalten insgesamt für die US-amerikanischen Interessen von Nutzen war.
Ein Beispiel ist Gorbatschow, der schon sehr früh die Sympathien der meisten Russen verlor. Und zwar aus legitimen Gründen, denn sie mussten erleben, wie ihr Lebensstandard abstürzte und ihr Land sich auflöste.4 Dann folgte Jelzin, der das Parlament unter Beschuss nahm, wobei Hunderte, wenn nicht Tausende Moskauer Bürger getötet wurden, der die Menschen massenhaft in die Armut trieb und die russische Industrie zerstörte. Jelzin war bei Millionen Russen zutiefst verhasst. Aber die US-amerikanische Darstellung von damals – wie von heute – stilisiert Gorbatschow und Jelzin zu großen Führern und Wohltätern des russischen Volkes. Sie wurden zu sonderbaren Neuauflagen des alten „Uncle Joe“, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie haben die UdSSR, den geopolitischen Hauptrivalen der USA, zerstört.
Auch Putin hätte man auf den Denkmalsockel von „Uncle Joe“ stellen können. Präsident Bush (der Ältere) erklärte immerhin, er habe Putin in die Augen gesehen und festgestellt, dass der ein aufrichtiger Kerl sei, mit dem man arbeiten könne. Dieses Lob erklärt sich natürlich nicht aus der Naivität des Präsidenten, sondern aus der Einschätzung der US-Elite, was Russland und ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten betrifft. Während der gesamten 1990er Jahre erlebte Russland in den Augen der USA nicht etwa bloß eine Schwächeperiode, sondern einen unumkehrbaren Niedergang. Und die Tatsache, dass Putin nichts gegen die Etablierung von US-Militärbasen in Zentralasien, also im geopolitischen Hinterhof Russlands, hatte, wurde als klares Zeichen russischer Impotenz gewertet.
Zu dieser Zeit war sich Washington seiner absoluten Überlegenheit derart sicher, dass die herrschenden „Neocons“ sich nicht mal mehr um das übliche Moralfeigenblatt scherten. Einer ihrer führenden Ideologen, der Publizist Robert Kagan, veröffentliche 2002 einen skandalösen Aufsatz,5 in dem er Europa als schwach und effeminiert darstellte, als eine Art naive Venus, die noch an so überholte Nichtigkeiten wie das Völkerrecht glaubt. Die USA dagegen repräsentieren für Kagan den Kriegsgott Mars, den knallharten sozialdarwinistischen Pragmatiker, der verstanden hat, dass außenpolitische Konflikte nicht durch sinnlose Verhandlungen, sondern nur, um Bismarck zu zitieren, „mit Blut und Eisen“ gelöst werden.
Die einflussreiche Zeitschrift Foreign Affairs brachte 2006 einen Artikel, dessen Inhalt noch skandalöser war. Die beiden Autoren Keir A. Lieber und Daryl G. Press spitzten ihre Analyse der atomaren Machtverteilung auf die Behauptung zu, Russland und China seien nunmehr derart schwach, dass sie durch einen präventiven Atomschlag der USA auszuschalten wären, bevor sie über eine Vergeltung auch nur nachdenken könnten.6 Der Zusammenbruch dieser beiden verbliebenen Konkurrenten würde den USA nicht nur die totale weltpolitische Dominanz sichern, sondern auch die Ausbreitung der Demokratie fördern.7 Damit schrumpfte Putin zum Uncle Joe im Taschenformat, den man bevormunden oder einfach ignorieren kann. Tatsächlich war Russland in dieser Periode fast vollständig aus den US-Massenmedien verschwunden.
Von Lenin und Wilson bis Putin und Obama
Erst das russische Vorgehen 2008 in Georgien und später dann in der Ukraine führten zur Wiederkehr Putins als gefährlicher machiavellistischer Tyrann, der gestoppt werden muss. Dieses Putin-Image ist heute wieder vorherrschend in die Medien der USA, aber auch im Wahlkampf von Hillary Clinton. Ihr Gegner Donald Trump hingegen verkündet eine „America First“-Politik und will mit Putin auf Freundschaft machen.
Einige Kommentatoren interpretieren diesen Unterschied als Gegensatz zwischen dem zynischen Krösus Trump und der noblen Politikerin Clinton, die sich zu den amerikanischen Werten bekennt. Aber das ist eine ziemlich naive Erklärung. Wenn man die tieferen Gründe dieses Konflikts und die potenziellen Folgen für die Beziehungen zwischen Russland und den USA analysiert, dürfte sich eher zeigen: Ganz unabhängig vom Wahlausgang in den Vereinigten Staaten ist es durchaus möglich, dass Putin für die Amerikaner wieder zu einem Uncle Joe wird, wenngleich auf merkwürdige und verzwickte Art.
Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, dass die Verwandlung von Stalin in einen Uncle Joe, und die von Putin in einen Diktator von Machiavelli-Format jeweils nicht nur davon abhing, wie Washington die Nützlichkeit der sowjetischen beziehungsweise russischen Führung beurteilte, sondern auch davon, wie die USA ihre eigene Stärke einschätzten. Aus diesem Blickwinkel sollten wir uns auch Donald Trumps Wahlkampfslogan „America First“ einmal genauer ansehen.
Das Trump-Lager behauptet, dass diese Formel etwas Neues ist und dass die Verbündeten der USA bislang nur die Gutmütigkeit und Naivität Washingtons auf parasitäre Weise ausgenutzt hätten. Aber das stimmt einfach nicht. Die US-Außenpolitik hat sich immer an das Prinzip „America First“ gehalten. Man kann es auch als „nationales Interesse“ übersetzen. Und die USA haben seit Beginn ihrer Geschichte unablässig ihre nationalen Interessen verfolgt, so wie sie von der eigenen Elite jeweils verstanden wurden.
Da unterscheiden ich die USA natürlich in keiner Weise von anderen Ländern. Wenn es um ihre Interessen geht, schenkt diese Elite den Absichten oder Interessen ihrer Verbündeten in Europa fast keine Beachtung. Das gilt für die Zeit des Kalten Kriegs und mehr noch für die Jahre unmittelbar danach. Die heutige „America First“-Doktrin mit ihren isolationistischen Anklängen entspricht schlicht und einfach der Einsicht der US-amerikanischen Elite – zumindest eines Teils von ihr –, dass ihr Land heute nicht über die nötigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ressourcen verfügt, um ihr ererbtes Imperium aufrechtzuerhalten.
Damit wurde der globale Rückzug unvermeidlich. In der einflussreichen Zeitschrift Washington Quarterly merkt der Autor und Politikwissenschaftler Michael Mazarr an, dass durchaus die Möglichkeit eines geopolitischen „Bankrotts“ der USA bestehe, wenn sie nicht mehr in der Lage sein sollten, ihre globalen Verpflichtungen zu erfüllen.9 Solche Annahmen sind der Hintergrund für Trumps Appell an Putin, auf dessen Hilfe er künftig angewiesen sein könnte. In einem solchen Fall wäre Putin dann wieder „ein gar nicht so schlechter Kerl“ – oder gar ein vollwertiger neuer Uncle Joe.
Sollte Hillary Clinton die Wahlen gewinnen, wäre die Konstellation nicht viel anders. Ihre Slogans sind zwar andere, aber auch sie müsste sich auf den Mangel an Ressourcen einstellen. Obwohl sie Putin als Diktator und Imperialisten bezeichnet hat, wäre sie gezwungen, einen pragmatischen Umgang mit Moskau zu pflegen.
Auch der Kreml wäre wahrscheinlich ungeachtet aller Unstimmigkeiten zu einer Kooperation bereit. Und dies nicht, weil Russland von Natur aus friedfertig wäre, wie der Kreml für den internen Gebrauch gern behauptet, sondern weil seine Ressourcen ebenfalls begrenzt sind. Der Ölpreisverfall wird seine ökonomischen Probleme noch verschärfen und den Lebensstandard weiter absinken lassen. Putin kann die Möglichkeit von Massenprotesten keineswegs ausschließen. Das ist der Hauptgrund für Putins Entschluss, eine große russische Nationalgarde zu schaffen,9 die vor allem die öffentliche Ordnung aufrechterhalten soll. Die Aufstellung der Garde soll bis 2017 abgeschlossen sein – zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, den die russische Elite mit gemischten Gefühlen begehen dürfte. Auch Putins militärisches Abenteuer im Nahen Osten ist nicht unbedingt ein großer Erfolg. Deshalb wird er bemüht sein, dem Sumpf des Syrienkonflikts zu entkommen, ohne vollständig das Gesicht zu verlieren.
So stellt sich für jede der beiden Seiten die komplizierte Frage, welches Bild der Gegenseite sie dem eigenen Lager präsentiert. In Washington wird man Putin – je nach Stand der Entwicklung – als Uncle Joe oder als „Diktator“ darstellen oder auch schlicht ignorieren. In Moskau wird man die neuen Leute im Weißen Haus als „unsere amerikanischen Partner“ oder als Vertreter westlicher Aggressivität sehen, oder sie ebenfalls ignorieren.
In jedem Fall werden diese widersprüchlichen Darstellungen ihr Eigenleben entwickeln, ohne aufeinander bezogen zu sein. Und in beiden Ländern würde die Mehrheit das Bild akzeptieren, das ihr die spin doctors vorsetzen. Bekanntlich sind die Leute besonders leicht zu beeinflussen, wenn sie mit einem Thema keinerlei persönliche Erfahrungen verbinden.
3 „Towards a Global Realignment“, The American Interest, 17. April 2016.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Dmitry Shlapentokh ist Dozent für Geschichte an der Indiana University South Bend. Zuletzt erschienen: „Global Russia: Eurasianism, Putin and the New Right“, London (I. B. Taurus) 2013.
© Le Monde diplomatique, Berlin