Das andere Kaschmir
von Raphaël Godechot
Eine Galerie in einer besetzten Stadt: Am 12. Januar 2015 eröffnete im Bundesstaat Jammu und Kaschmir zum ersten Mal überhaupt eine kulturelle Einrichtung. Die Gallerie One in der Sommerhauptstadt1 Srinagar war ein Zentrum für zeitgenössische Kunst mit Ausstellungsräumen, einer Bibliothek, einer Medienwerkstatt und Ateliers.
„Endlich gibt es in Kaschmir einen festen Ort für die Kunst“, freute sich der junge Künstler Syed Mujtaba Rizvi damals. Die Galerie war seine Idee – überraschend in einem Kriegsgebiet, wo sich Rebellengruppen und die indische Armee seit über 60 Jahren bekämpfen. Die Kunst hat es schwer angesichts von etwa 700 000 stationierten Soldaten, die laut einem Sondergesetz aus dem Jahr 1990 keine Strafverfolgung befürchten müssen, wenn sie Verdächtige töten und deren Besitz beschlagnahmen.
Trotz allem hat es Rizvi geschafft, das Geld für die Gründung der Gallerie One zusammenzubekommen. Dieselbe Tourismusbehörde, die ihm das 460 Quadratmeter große Gebäude zur Verfügung gestellt hatte, ließ das Kunstzentrum fünf Wochen später wieder schließen – ohne Vorwarnung und unter Anwendung von Gewalt, wobei etliche Werke beschädigt wurden.
„Die Besatzung gilt auch für die Kultur“, meint Rizvi. „Kunst ist auch ein Mittel zu sozialem Aufstieg, und das passt dem Regime natürlich nicht.“ Inzwischen betreibt der junge Mann in Srinagar ein Café, in dem Dichterlesungen und kleine Konzerte mit traditioneller oder moderner Musik stattfinden. Kunst habe im Tal nur eine Chance, wenn sie sich nicht als kaschmirisch zu erkennen gebe, stellt der Hausherr bitter fest, der wie mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Muslim ist.
Bei den großen Überschwemmungen von 2014 wurde auch Srinagars Kunstfakultät zerstört, die danach in ein altes, leerstehendes Unigebäude umziehen musste. Dort unterrichtet Showkat Kathjoo Kunstgeschichte. Manche Künste würden toleriert, andere verboten, erzählt er. Das Kunsthandwerk zum Beispiel hat seit jeher in der Region eine große ökonomische Bedeutung, wohingegen es die zeitgenössische Kunst wegen ihrer potenziell kritischen Inhalte schwer hat.
Dibyesh Anand ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Westminster. Seiner Meinung nach instrumentalisieren die indischen Medien den Kaschmirkonflikt, um den Nationalismus in Indien anzuheizen. In den westlichen Medien hingegen komme der Kaschmirkonflikt kaum vor, auch weil der Westen an der Vorstellung hängt, dass Indien die größte Demokratie der Welt sei. In Zeiten des Kalten Kriegs, als Indien prosowjetisch war, hatten die USA und Großbritannien nichts gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Kaschmir. Die USA waren mit Pakistan verbündet, das ihnen im Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan half, und unterstützten die Rebellen in Kaschmir. Doch nach dem Zerfall der UdSSR wurde Indien zu einem Markt für den Westen. Ab 1998 positionierte sich beispielsweise Frankreich als privilegierter Partner Neu-Delhis, vor allem bei der militärischen Raumfahrt.
Seit dem Beginn des bewaffneten Aufstands in Jammu und Kaschmir in den 1990er Jahren stellen die indischen Medien die Kaschmirer gern als Freunde der Taliban oder neuerdings des IS dar. Da reichen schon ein paar Graffitis wie „Welcome Talibans“ oder vier maskierte Männer, die auf einer Demonstration mit Tausenden von Menschen eine schwarze Fahne schwingen. Dabei lassen sich die islamistischen Kräfte, die es im indischen Teil Kaschmirs durchaus gibt, weder den Taliban noch dem IS zuordnen.
Zu den wichtigsten Rebellengruppen gehören die islamistische Hisb ul-Mudschaheddin, die sich an Pakistan anschließen möchte, und die nichtreligiöse Befreiungsfront Jammu und Kaschmir (Jammu and Kashmir Liberation Front, JKLF), die für Kaschmirs völlige Unabhängigkeit kämpft. 2015 schätzte die Armee die Zahl der Kämpfer in allen Gruppen zusammen auf etwa hundert.2 Darüber, ob sie ganz unabhängig sein oder sich doch lieber an Pakistan anschließen wollen, sind die Kaschmirer gespalten, aber eine Mehrheit will „Azadî“, die Freiheit – weshalb sie fast gewohnheitsmäßig alle ermutigen, die es wagen, Indien die Stirn zu bieten.
Als im April dieses Jahres die Cricketmannschaft der Antillen gegen Indien gewann, feierten das manche Kaschmirer in Srinagar auf den Straßen. Es kam zu Übergriffen und Verhaftungen. Seitdem am 8. Juli Sicherheitskräfte den charismatischen Anführer der Hisb ul-Mudschaheddin, den 22-jährigen Burhan Wani, erschossen haben, herrscht der Ausnahmezustand. Zur Beerdigung des erschossenen 11-jährigen Nasir Shafi zogen am 17. September Tausende durch die Straßen von Harwan. Mindestens 90 Menschen wurden bei den Straßenkämpfen schon getötet und 8000 verletzt, Zeitungen wurden eingestellt, soziale Netzwerke gesperrt, Geschäfte, Schulen, Behörden und Büros geschlossen.
Eine Frauen-Rockband und die erste Onlinezeitung
Die hindunationalistische Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi nutzt den Kaschmirkonflikt auch, um die Opposition in Indien zu knebeln. Wer es wagt, die Ausschreitungen des indischen Militärs zu thematisieren, ist „antinational“; die nationalistische Rechte gibt den Ton an. Im indischen Parlament sitzt kein einziger Muslim oder Christ, obwohl 14,2 Prozent der Bevölkerung Muslime sind.
Der aus dem Kaschmirtal stammende Journalist Fahad Shah hat im Juni 2001 The Kashmir Walla gegründet, die erste Onlinezeitung in Jammu und Kaschmir – und eine Gegenstimme zu den mächtigen indischen Medien, in denen nur bestimmte Aspekte vorkommen und der Staat verherrlicht wird. Bereits im April 2015 hatte die indische Regierung Al Jazeera English für fünf Tage gesperrt, nachdem der Sender eine Karte gezeigt hatte, auf der die Grenze zwischen der pakistanisch kontrollierten Zone und dem indisch besetzten Gebiet nicht eindeutig zu erkennen war.3 The Kashmir Walla, das vor allem die jungen englischsprachigen Leser in Kaschmir, Indien und auch im Ausland erreicht, ist ein Bollwerk gegen die Desinformation. Fahad Shah setzt auf den digitalen Journalismus und die sozialen Medien, um die Mythen über Kaschmir zu zerstören. Für ihn ist das Internet wie ein Wächter, der dafür sorgt, dass man nicht mehr irgendwelche Behauptungen zum Kaschmirkonflikt in die Welt setzen kann, ohne dass sie widerlegt werden können.
2013 brach ein Shitstorm über Shah herein, nachdem er die kaschmirische Frauenrockband Pragash verteidigt hatte. Der Großmufti hatte eine Fatwa gegen die jungen Frauen verhängt und ihre Musik für antiislamisch erklärt. Dagegen erinnerte Fahad Shah an die weibliche Musiktradition der Sufis im Tal. Nach den Berichten über die Musikerinnen erhielt Shah mehrere Anrufe, in denen er aufgefordert wurde, seine Zeitung einzustellen. The Kashmir Walla ist weiterhin online, aber die jungen Frauen von Pragash haben aufgehört, Musik zu machen.4
Shah meint, die Dinge könnten sich verbessern, wenn das internationale Interesse größer wäre. „Die Situation in Kaschmir ähnelt der in Palästina. Wir müssen das Thema entnationalisieren. Hier kann sich nichts verändern, wenn die Welt sich nicht für den Konflikt interessiert, wenn keine einflussreichen Persönlichkeiten darüber sprechen. Es ist wichtig, dass Menschen aus der ganzen Welt Berichte über Kaschmir lesen, Kunst anschauen oder Musik hören können, die von hier stammt.“
Die indische Regierung hingegen tut alles, um die Besatzung als Normalzustand und Kaschmir als integralen Bestandteil ihres Landes erscheinen zu lassen. Deshalb brauchen ausländische Journalisten auch kein eigenes Visum, um in das Tal zu reisen.
Farah Shah und Syed Mujtaba Rizvi sind nicht die Einzigen, die Initiative ergreifen. Das Stück „I protest (Remembrance)“ von MC Kash (für Kaschmir), dem ersten Rapper im Tal, bezieht sich auf die dramatische Eskalation des Dauerkonflikts im Jahr 2010. Der Tod von drei Zivilisten hatte Proteste ausgelöst, die gewaltsam niedergeschlagen wurden: Damals starben 112 Demonstranten.5
In seinem im Internet veröffentlichten Song bezeichnet Roushan Illahi (so der richtige Name des Rappers) die Besatzung als ein „tödliches Regime“. Ihm fehlt bei der traditionellen Kunst Kaschmirs der Bezug zur Gegenwart, sie „spricht nicht von den Problemen, die unsere Generation hat. Das Leiden der Menschen, die Morde, die Vergewaltigungen kommen darin nicht vor. Deshalb öffnen wir uns für andere Künste wie Rap, Graffiti und HipHop.“ Eine Haltung, mit der man sich in Kaschmir verdächtig macht: MC Kashs Studio ist bereits mehrfach durchsucht worden und sein Telefon wird abgehört.
Khurram Parvez von der Menschenrechtsorganisation Jammu Kashmir Coalition of Civil Society beobachtet jedoch eine neue Entwicklung: So wie man in den 1990er Jahren zu den Waffen gegriffen habe, beziehe man heute mit Texten und Kunst Stellung gegen Indien. Schon damals hätten die Kaschmirer keine Besatzung mehr gewollt. Aber wegen „der Gewalt und des dazugehörigen Dogmatismus hat ihnen Widerstand prinzipiell Angst gemacht“, erläutert Parvez. „Jetzt gibt es keinerlei Akzeptanz mehr für die Besatzung. Sie abzulehnen ist zur allgemeinen Norm geworden.“ Deshalb konnte sich eine Protestmusik wie Rap im Tal so weit verbreiten: „Heute gibt es Hunderte Rapper“, versichert MC Kash. Und Fahad Shah weiß von immer mehr Webseiten und Onlineforen, die sich kritisch mit dem Konflikt auseinandersetzen.
Der Dokumentarfilm „Bring Him Back“ (Bringt ihn zurück) aus dem Jahr 2015 ist nur eines von vielen Beispielen für das künstlerische Interesse dieser neuen Generation. Der Film erzählt die Geschichte der Mutter von Maqbool Bhat, dem „Che Guevara Kaschmirs“, der die JKLF mitgegründet hat. Über 30 Jahre hat seine Mutter versucht, die sterblichen Überreste ihres Sohns, der 1984 im Tihar-Gefängnis in Neu-Delhi gehenkt wurde, in ihre Heimat zu überführen.
Shah führte Regie, Rizvi hat das Plakat gestaltet, und MC Kash steuerte einen Song bei, den er dem Widerstandskämpfer gewidmet hat. Über die konkrete Zusammenarbeit hinaus zeigt der Film die Verbundenheit dieser Generation, die Kunst, Kultur und Journalismus zusammenbringt, um gegen die Besatzung zu kämpfen. 2015 erschien der erste Comic im Tal, „Munnu: A Boy From Kashmir“. Der Zeichner Malik Sajad, ein Freund von Rizvi, hat darin seine von dem Konflikt geprägte Kindheit festgehalten.
1 Die Winterhauptstadt der von Indien besetzten Region ist Jammu.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Raphaël Godechot ist Journalist.