Moldauer Sumpf
Alte Funktionäre, neue Oligarchen und der Jahrhundertdiebstahl
von Julia Beurq
HipHop-Beats schallen über den kleinen Platz im Zentrum der moldauischen Hauptstadt Chișinău: „Sieh dir den dicken Politiker an, der gestohlen hat, was er kann. / Sie leben in Palästen und die anderen auf der Straße. / Aber eines Tages werden sie für die Milliarden, die sie gestohlen haben, vor Gericht bezahlen ...“ Traian Barbara rappt vor eine Gruppe Jugendlicher seine Texte ins Mikro. „Den Song haben wir 2013 geschrieben. Wir hatten keine Ahnung, dass sie zwei Jahre später tatsächlich eine Milliarde stehlen würden“, erzählt der junge Musiker.
Die zwischen der Ukraine und Rumänien gelegene ehemalige Sowjetrepublik Moldau mit ihren 3,5 Millionen Einwohnern ist seit der Unabhängigkeit 1991 so gespalten, dass kaum ein gemeinsamer Neuanfang möglich schien. Neben den ethnischen Gräben (angesichts der großen ukrainischen, russischen und gagausischen Minderheiten) gibt es sprachliche (zwischen Rumänisch- und Russischsprechenden) sowie religiöse (zwischen Orthodoxen, die den Patriarchaten von Moskau und Bulgarien beziehungsweise der autokephalen Kirche Griechenlands unterstehen) und territoriale (durch die De-facto-Unabhängigkeit Transnistriens1 ). Diese Konfliktlinien haben zu einer Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern einer Annäherung an die Nato und die Europäische Union geführt, während wirtschaftliche und soziale Belange in den Hintergrund traten.
Derzeit könnte allerdings die gemeinsame Wut auf die korrupten Oligarchen helfen, die Gegensätze zwischen prowestlichen und prorussischen Kräften zu überwinden. Bereits im April 2015 hatte die Regierung, nachdem die Medien und einzelne Politiker über Monate immer wieder von einem massiven Bankbetrug berichtet hatten, schließlich eingeräumt, dass innerhalb von zwei Tagen aus drei großen Banken etwa eine Milliarde Euro – das entspricht 15 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes – verschwunden war.
Am 3. Mai 2015 folgten Zehntausende einem Aufruf der von ein paar Intellektuellen gegründeten Bürgerplattform „Würde und Wahrheit“ (Demnitate și Adevăr, DA). Sie versammelten sich auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt und verlangten die „Rückgabe der Milliarde“. Eine so große Demonstration hatte es in der Republik Moldau seit der Unabhängigkeit nicht mehr gegeben. Zur allgemeinen Überraschung schlossen sich der als prowestlich geltenden DA bei weiteren Demonstrationen auch prorussische Bewegungen an. Gemeinsam protestierte man gegen die regierende proeuropäische Allianz, die für den Bankenskandal verantwortlich gemacht wurde.
Der Schattenherrscher von Chișinău
Der „Jahrhundertdiebstahl“ löste eine Kettenreaktion aus. Die Landeswährung Leu verlor innerhalb weniger Monate 30 Prozent ihres Werts, was zu einer Verteuerung der – zu großen Teilen importierten – Lebensmittel, der Energiepreise und der Mieten führte. Letztere werden in Moldau wie in vielen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern in Euro festgelegt. „Zum erstem Mal seit Langem ist unser Land geeint. Die Moldauer haben begriffen, dass sie alle bestohlen wurden, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer Sprache“, sagt die Journalistin und Fernsehmoderatorin Natalia Morari.
Der Medienunternehmer und Oligarch Wladimir Plahotniuc gilt als Verkörperung der Korruption innerhalb des moldauischen Staatsapparats und dessen Vereinnahmung durch verschiedene Clans. Der 50-jährige Geschäftsmann hatte sich in der Zeit, als er die Unternehmen des kommunistischen Staatspräsidenten Wladimir Woronin (2001–2009) verwaltete, zunächst ein Wirtschaftsimperium aufgebaut. 2010 betrat der „Schattenherrscher“ offiziell die politische Bühne: Er kaufte sich gewissermaßen die Demokratische Partei Moldaus (PDM), wurde zu deren Hauptfinancier – und sicherte sich damit die Unterstützung ihrer Abgeordneten, den Posten des Vizeparlamentspräsidenten und schützte letztlich auch seine ökonomischen Interessen.
Als Strippenzieher innerhalb der größten Partei im proeuropäischen Regierungsbündnis wurde er zu einer Schlüsselfigur im Land. Für den Autor und Herausgeber Emilian Galaicu-Păun ist Plahotniuc wie „ein Unkraut, das gewachsen ist, ohne die anderen Pflanzen zu sehr zu stören. Erst als es zu blühen begann und man es entfernen wollte, stellte sich heraus, dass seine Wurzeln bereits zu tief gewachsen waren.“
Die Aufdeckung des Jahrhundertdiebstahls hat Moldau politisch destabilisiert – innerhalb weniger Monate stürzten drei Regierungen. Als die Abgeordneten sich Anfang 2016 nicht auf einen neuen Ministerpräsidenten einigen konnten, brachte Plahotnuic sich selbst als Kandidaten ins Spiel. Erst das Veto von Staatspräsident Nicolae Timofti stoppte ihn. Aus Angst vor einem Sieg der prorussischen Kräfte im Falle vorgezogener Parlamentswahlen beschleunigte das proeuropäische Regierungsbündnis daraufhin das Nominierungsverfahren: Am 20. Januar wurde unter höchster Geheimhaltung innerhalb von knapp sieben Minuten der PDM-Politiker und Plahotnuic-Vertraute Pawel Filip zum neuen Ministerpräsidenten ernannt; mehrere Parteien verließen daraufhin das Bündnis.
Dieser Coup löste noch im hintersten Winkel Moldaus große Empörung aus. Auch der 52-jährige Paprikabauer Vasile Neaga aus dem Dorf Răscăieți, der noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatte, stieg in den ersten Bus Richtung Hauptstadt. In Chișinău versammelten sich trotz Kälte und anbrechender Dunkelheit Tausende vor dem Parlament, um die Amtseinführung von Filip zu verhindern. In der Menge staunte Neaga, ein überzeugter Befürworter der Wiedervereinigung mit Rumänien2 und der Annäherung an die EU, über seine Mitstreiter: „Ich war von prorussischen Demonstranten umgeben, die hatten völlig andere Ansichten und Wertvorstellungen als ich. Aber wir hatten alle das gleiche Ziel: diese Regierung zu Fall zu bringen, die nur so tut, als wäre sie prowestlich.“
Auf der Treppen zum Parlamentsgebäude mahnten die drei Chefs der Oppositionsparteien zwischen der aufgebrachten Menge und einer Reihe von Bereitschaftspolizisten zur Ruhe. Igor Dodon, Chef der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica Moldova, PSRM), Renato Usatîi, ein Millionär mir dubioser Vergangenheit – beides Russlandsympathisanten – sowie der prowestliche Andrei Năstase von der Bürgerplattform DA verhinderten, dass die Situation eskalierte.
Am 4. März sorgte dann ein Urteil des Verfassungsgerichts dafür, dass der nie zuvor dagewesene Konsens wieder zerbrach. Mit der Entscheidung, den Präsidenten künftig direkt von den Bürgern und nicht mehr von den Abgeordneten wählen zu lassen, schürte das Gericht die Rivalitäten zwischen den Oppositionsführern. Alle Versuche, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, schlugen fehl.
„Innerhalb der Bewegung gab es rechte und linke, prorussische und prowestliche Politiker“, rechtfertigte Dodon seine Entscheidung für einen Alleingang bei den bevorstehenden Wahlen am 30. Oktober. Das ehemalige Mitglied der Kommunistischen Partei ist laut Umfragen der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt, was nicht zuletzt mit seiner Annäherung an die DA zu tun hat. So behauptet er beispielsweise: „Ich bin weder prorussisch noch prowestlich, ich bin promoldauisch.“ Dabei hat er vor knapp zwei Jahren noch mit Wladimir Putin auf Wahlplakaten posiert.
Die Verlegenheit der EU
Die anderen beiden Oppositionskandidaten, Andrei Năstase und Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate), hängen ihre prowestliche Orientierung nicht an die große Glocke – aus Angst, sie könnten für Plahotniuc-Sympathisanten gehalten werden. Der Medienunternehmer präsentiert sich gern als großer Freund der USA. Vor Kurzem kursierte im Internet in Foto von ihm und Victoria Nuland, der Europa- und Eurasienbeauftragten der USA. Dass sich eine hochrangige US-Diplomatin mit dem meistgehassten Mann Moldaus zeigt, hat einerseits Verwunderung ausgelöst. Doch andererseits regiert Plahotniuc de facto das Land. Und da in Anbetracht der angespannten Situation mit Russland derzeit niemand will, dass auch noch in der Republik Moldau die Probleme zunehmen, könnte Plahotniuc fast als stabilisierender Faktor gelten.
Als US-Vizepräsident Joe Biden 2011 in Chișinău zu Gast war, bezeichnete er die Entwicklung des Landes als eine „Erfolgsgeschichte“ der östlichen Nachbarschaftspolitik der EU. Dieser vielfach wiederholte Ausspruch schadet inzwischen dem Ansehen der Europäischen Union. Denn die hat bei der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und den beschlossenen Visa-Erleichterungen bereitwillig über die korrupten Strukturen in der Republik Moldau hinweggesehen, um ihren Einfluss in der Region zu stärken.
Die Fassade bröckelte bereits 2012, als Details aus geheimen Abmachungen zwischen den Regierungsparteien bekannt wurden. Darin hatten sich Regierungsvertreter auf eine Verteilung von Posten in Politik, Justiz und Finanzwesen verständigt. Diese unerlaubten Absprachen führten zu erbitterten internen Machtkämpfen. Nachdem der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen zu einem tödlichen Unfall bei einem Jagdausflug, an dem er selbst und mehrere hochrangige Staatsvertreter teilgenommen hatten, behindert hatte, sah Ministerpräsident Vlad Filat im Dezember 2012 die Gelegenheit gekommen, seinen ehemaligen Geschäftspartner Plahotniuc zu entmachten. Doch dann geriet Filat aufgrund seiner Rolle bei der Privatisierung der Banca de Economii (BEM), eines der in den „Jahrhundertdiebstahl“ verwickelten Geldhäuser, selbst in den Fokus der Ermittlungen. Im Juni dieses Jahres wurde er wegen Korruption und Geldwäsche zu neun Jahren Haft verurteilt. „Erst als sie Filat aus dem Amt jagten, haben wir begriffen, dass es sich um einen Krieg zwischen Oligarchen handelt“, gesteht ein westlicher Diplomat.
Die EU reagierte wütend auf die Skandale, schließlich betrafen sie eine prowestliche Regierung. Der Westen, der das 2014 unterzeichnete und seit dem 1. Juli 2016 vollständig in Kraft getretene Assoziierungsabkommen samt gegenseitiger Marktöffnung und der Übernahme wirtschaftlicher und rechtlicher EU-Standards als Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit präsentiert hatte, musste sich eines Besseren belehren lassen. Man befürchtete einen Aufstand wie in der Ukraine, nur mit umgekehrten geopolitischen Auswirkungen.
Ihre Finanzhilfen stellte die EU erst ein, als der „Jahrhundertdiebstahl“ ans Licht kam. In einem Land, dessen Staatshaushalt zeitweise zu mehr als einem Viertel auf ausländischen Subventionen beruht, hätte diese Maßnahme durchaus Erfolg haben können. „Wir hatten gehofft, dass die EU die in die Politik abgewanderten Geschäftemacher disziplinieren kann, indem sie ihnen ins Portemonnaie greift“, sagt Valentin Lozovanu, Ökonom am Institut für Entwicklung und soziale Initiativen (IDIS) in Chișinău. „Aber wenn eine Regierung sich nicht gegenüber ihren Bürgern, sondern sich nur gegenüber externen Geldgebern verantwortlich fühlt, und wenn sie obendrein von Letzteren weder bestraft noch kritisiert wird, dann schwächt das die Demokratie, und zwar auf allen Ebenen.“
Auch in Zukunft werden geopolitische Faktoren den Machtkampf in Moldau bestimmen. Da die Politiker kein Programm haben, suchen sie sich lieber äußere Feinde, die angeblich den Staat bedrohen. Um ihre Gegner zu diskreditieren, warnte die proeuropäische Regierungskoalition vor der Parlamentswahl 2014 sogar vor einer Rückkehr russischer Panzer.
Im letzten Winter hat der „Jahrhundertdiebstahl“ ein neues staatsbürgerliches Bewusstsein geschaffen, das sich nicht nur über die Sprache oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe definiert. Im Vorfeld der Wahl am 30. Oktober scheint dieses Bewusstsein jedoch kaum in politisches Handeln zu münden – nicht zuletzt, weil auch die Medien in zwei Lager gespalten sind: die Ableger russischer Sender auf der einen und proeuropäische Kanäle auf der anderen Seite.
Kein einziger Politiker hat den Ehrgeiz, das oligarchische System zu reformieren. „Das Problem ist nicht wirklich Plahotniuc, sondern der moldauische Staat“, sagt der Soziologe Petru Negură, der die kritische Website Platzforma.md mit ins Leben gerufen hat. „Die Schwäche des Staats hat Plahotniuc zu dem gemacht, was er heute ist. Selbst wenn er eines Tages verschwinden sollte, würde er durch jemand anderen ersetzt werden, und am Zustand des Landes würde sich rein gar nichts ändern.“
1 Siehe Jens Malling, „Ein Fall für Moskau“, Le Monde diplomatique, März 2015.
2 Siehe Guy-Pierre Chomette, „Moldawien: Abgedrängt nach Osten“, Le Monde diplomatique, Januar 2002.
Aus dem Französischen von Richard Siegert
Julia Beurq ist Journalistin.