08.09.2016

Schablonen des Westens

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Schablonen des Westens

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Schon immer meinte der Westen, im Südosten Europas existiere eine Form des Islam, die sich radikal von der Praxis in der übrigen Umma unterscheidet. Die Neigung, den balkanischen Islam als distinkte Glaubensrichtung darzustellen, war besonders in den 1990er Jahren stark ausgeprägt. Sie entsprach einem konkreten politischen Bedürfnis, weil damals zeitgleich mit dem Konflikt in Bosnien-Herzegowina auch der Bürgerkrieg in Algerien tobte.

Für manche Intellektuelle stellt sich die Welt nicht so sehr als komplexe, verwirrende Realität dar, die es zu entziffern gilt, sondern eher als Abfolge von Konflikten, bei denen man die „richtige Sache“ unterstützen muss. Da man zwischen einem guten und einem bösen Islam zu unterscheiden hatte, begeisterte man sich für die Alkohol trinkenden Bosniaken – als hätte noch nie ein Türke seinen Raki getrunken! Dabei verführte die mangelnde Unterscheidung zwischen „muslimischer“ nationaler Identität und religiöser Überzeugung dazu, diejenigen Muslime besonders „modern“ zu finden, die ihre Religion nicht praktizieren.

Die Realität der fortschreitenden Laizisierung, die unter dem jugoslawischen Sozialismus eingesetzt hatte, verstellte offenbar den Blick auf eine parallele Realität: dass ein Teil der Bevölkerung muslimischer Herkunft durchaus seinen Glauben lebt. Wer diese doppelte Realität übersah, konnte auch nicht die Renaissance des Islam begreifen, die nach dem Zerfall des sozialistischen Staats einsetzte.

Die Bosniaken als Inbegriff von Muslimen, die frei von den rituellen Vorschriften ihrer Religion leben, wurden zu einem Modell idealisiert, das man den Versuchungen des Radikalismus, der die gesamte muslimische Welt erfasst hat, entgegenhalten konnte. 25 Jahre später sind viele junge Muslime vom Balkan in den globalisierten Dschihad gezogen. Mehr als 800 wurden allein in Syrien gezählt.1

Das ideologische Konstrukt des „säkularen Bosniaken“ verweist darauf, wie unsicher der westliche Blick auf den Balkan ist. In Anknüpfung an die Kritik des „Orientalismus“ von Edward Said hat die bulgarische Ethnologin Maria Todorova den Begriff „Balkanismus“ geprägt.2 Während der Orient, wie Europa ihn sich vorstelle, ein „Nicht-Ort“ sei, eine Utopie, die als Projektionsfläche für westliche Fantasien diene, gehöre der Balkan, gerade weil er eine Schwelle bilde, eine Pufferzone zwischen Okzident und Orient, zur Realität. Diese Realität versuche der Westen – in der Rolle des Schöpfergotts – seit zwei Jahrhunderten zu kontrollieren und zu gestalten.

Die Idee einer „Europäisierung“ des Bal­kans, die 1999 am Ende des Kosovokriegs aufkam, geht davon aus, dass die Annäherung an Europa eine Transformation der Gesellschaften auf dem Balkan bewirken werde. Dann würden sie mit der Zeit auch bestimmte angeblich kulturelle Wesenszüge wie schlechte Regierungsführung, Korruption, autoritäre Neigungen und einen Mangel an Ordnungssinn überwinden.

In dieser schablonenhaften Wahrnehmung ist der Islam – wie der orthodoxe Glaube der byzantinischen „Ostkirche“ – das Identitätsmerkmal eines negativ definierten Andersseins. Und doch ist und bleibt der Islam in der Balkanregion ein bestimmender Faktor. Aber welcher Stellenwert soll ihm aus der Perspektive eines von islamfeindlichen Strömungen durchzogenen Westens zukommen?

Eine Antwort auf diese Frage ist die Vorstellung eines „europäischen Islam“, die es erlaubt, dem „europäisch“ gewordenen Balkan einen „modellhaften“ Islam zuzuschreiben. Doch der gelebte Islam auf dem Balkan ist natürlich viel komplexer als das reduktionistische Begriffspaar radikaler versus gemäßigter Islam.

Le Monde diplomatique vom 08.09.2016