08.09.2016

Die Gespenster von Workuta

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Die Gespenster von Workuta

von Philippe Descamps

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Am 25. und 26. Februar 2016 kamen bei Schlagwetterexplosionen in der Kohlegrube Sewernaja 31 Bergleute und 5 Rettungskräfte ums Leben. Die Grube liegt etwa zehn Kilometer von der russischen Kohlestadt Workuta entfernt. Um das Feuer zu löschen, musste der Schacht wochenlang geflutet werden. Die im Juni begonnenen Abpumparbeiten könnten sich noch bis zum Jahresende hinziehen. Gut 1000 Bergleute mussten vorübergehend in eine der vier noch arbeitenden Minen versetzt werden. Seit 1991 hat das zuständige Kombinat Vorkutaugol bereits acht Schächte geschlossen. Die Zahl der Beschäftigten sank nach Angaben des Severstal-Konzerns, des einzigen Aktionärs von Vorkutaugol, auf 7000. 1967, auf dem Höhepunkt der Förderung, waren es 45 000.

Seit der Entdeckung der ersten Erz­ader im Jahr 1930 bildet die Kohleförderung die Hauptdaseinsberechtigung der auf Permafrostboden erbauten Stadt Sewerny. Das gesamte Baumaterial wurde per Bahn aus dem Süden herangeschafft. Heute sieht es in den Wohnvierteln aus wie nach einem Krieg. Überall Verfall und Rost. Immerhin treffen wir ein paar Leute, die uns das einzige neue Gebäude zeigen: eine orthodoxe Holzkirche, deren lebhafte Farben sich vom Grau der Umgebung abheben. Was wird wohl aus den für die monoindustriellen sowjetischen Städte typischen Wohnblöcken, wenn der Schacht nicht wieder öffnet? Schon heute stehen zahlreiche Gebäude leer, sind Dächer durch Schnee oder Feuer zerstört. Außerhalb des Zentrums sind ganze Viertel, wie zum Beispiel Rudnik, wo seinerzeit das erste Lager entstand, nur noch riesige Ruinen im eisigen Wind.

Nach Jahren des Niedergangs, der vom Anstieg der Kriminalität und des Drogenkonsums geprägt war, schöpfte die Bevölkerung von Workuta ab 2003 neue Hoffnung. Nachdem der Severstal-Konzern Vorkutaugol gekauft hatte, schien der Absatz der Kokskohle gesichert. Das russische Metallurgieunternehmen, zu dessen Kunden auch Renault und VW gehören, wollte den Kohleabbau in den 34 Kilometer langen Stollen der größten Steinkohlelagerstätte Russlands fortsetzen und die ­Produktion von jährlich 13 Millionen Tonnen Roh­steinkohle aufrechterhalten. Der Konzern stand jedoch vor einer geologischen Herausforderung, da manche Lagerstätten bis zu 1000 Meter unter die Erde liegen. Mit dem Kursverfall des Rubels seit 2010 und dem Druck, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, wird die Kohle zudem weniger attraktiv.

Als größter Arbeitgeber der Stadt ist Severstal auch verpflichtet, Sozialprogramme, Ferienlager, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel zu finanzieren. Innerhalb des Rings, den die dreizehn Schächte von Workuta bilden, leben offiziell noch 60 000 Menschen. 1989 waren es noch 216 000.1 Bei diesem rasanten Niedergang könnte Workuta bald als größte Geisterstadt der Welt enden – ähnlich wie Gagnon in Quebec oder Bodie in Kalifornien, die ihre Existenz ebenfalls dem Rohstoffabbau verdankten.

Dabei ist Workuta schon mehrmals nach schweren Zeiten wieder auf die Beine gekommen. Ebenso wie die Eisenbahnlinie entlang des Urals wurde auch Workuta unter dem Einsatz von Zehntausenden Zwangsarbeitern erbaut. Das auch als „eisige Guillotine“ bezeichnete Arbeitslager von Workuta war 1936, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Repression, Schauplatz eines Hungerstreiks der politischen Häftlinge (überwiegend Trotzkisten) und des großen Aufstands von 1953.2 Durch die Freilassung der Ausländer und die Entstalinisierung sank die Zahl der Häftlinge von 70 000 (1950) auf 39 000 (1958) und ging danach weiter zurück.

Als Ersatz für die Zwangsarbeiter rekrutierten die Behörden Jugendliche und entlassene Soldaten. Sie rühmten die Pionierrolle der Stadt und ihren entscheidenden Beitrag zur Versorgung von Leningrad während der Belagerung von 1941 bis 1944. Mit sozialen Vorteilen und hohen Gehältern gewann man gute Arbeitskräfte und steigerte die Kohleproduktion bis 1988 auf 22 Millionen Tonnen jährlich.

Es gibt weit und breit kaum Überreste von den Lagern, kein Museum, das zur Beschäftigung mit dieser Vergangenheit einladen würde. Deshalb bleiben der Gulag und die Eroberung des Nordens in vielen Dimensionen unverstanden. Warum sind beispielsweise so viele Gulag-Häftlinge nach ihrer Freilassung in der Stadt geblieben? Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hat zwar in eigenen Bibliotheken und Archiven Dokumente aus den sowjetischen Arbeitslagern (Opferkarteien, Häftlings­erinnerungen, Prozessunterlagen und so weiter) gesammelt und wissenschaftliche Forschungen über das Repressionssystem durchgeführt.

Doch sichtbare Spuren der Vergangenheit sind schwer zu finden: ein paar Gräber an symbolträchtigen Orten oder kleine Denkmäler, die von den Angehörigen ehemaliger, zumeist ausländischer Häftlinge errichtet wurden. Im Schatten der riesenhaften Industrieruinen sind solche Zeugnisse leicht zu übersehen.

⇥Philippe Descamps

1 Alan Barenberg, „Gula Town, Company Town. Forced Labor and Its Legacy in Vorkuta“, New Haven (Yale University Press) 2014.

2 Jospeh Scholmer, „Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta“, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1954.

Le Monde diplomatique vom 08.09.2016, von Philippe Descamps