Die falschen Mittel
Warum sich Indien gegen den Patentschutz auf Medikamente wehrt von Cléa Chakraverty
Seit über vier Jahren geraten die Verhandlungen zwischen Brüssel und Neu-Delhi über ein Freihandelsabkommen stets am gleichen Punkt ins Stocken. Der Abschluss des „größten einzelnen Handelsabkommens, das jemals weltweit abgeschlossen wurde“, wie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso1 es nannte, wurde mehrfach verschoben und soll nun Ende des Jahres stattfinden – erneute Vertagung nicht ausgeschlossen.
Indien hat zwar auch das „Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (Trips)2 der Welthandelsorganisation (WTO) unterschrieben und in seiner Gesetzgebung verankert. Da aber die indischen Hersteller von Generika – wirkstoffgleiche Nachahmerprodukte eines eingeführten Medikaments – im Verdacht stehen, den Patentschutz zu verletzen, steht das Land weiterhin in der Kritik.
Laut PricewaterhouseCoopers hat Indiens Pharmaindustrie im Jahr 2009 11 Milliarden Dollar umgesetzt, 2020 könnten es 30 Milliarden sein.3 Im internationalen Vergleich stellt Indien die billigsten Medikamente her und ist der weltgrößte Exporteur von Mitteln gegen Aids, Krebs und Tuberkulose, die in die Länder des Südens gehen. Über die entgangenen Einnahmen ärgern sich die westlichen Pharmaproduzenten, und Brüssel hat für deren Klagen ein offenes Ohr.
Unter Hinweis auf den Schutz geistigen Eigentums wurden in den letzten Jahren wiederholt Generika-Lieferungen aus Indien beim Transit durch die Europäische Union beschlagnahmt, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „Missbrauch der Gesetzgebung gegen Nachahmerprodukte“4 anprangerte. Bei einem Gipfeltreffen indischer Politiker mit EU-Vertretern in Neu-Delhi im Februar 2012 sorgte die Brüsseler Skepsis gegenüber Indiens Generika erneut für Unruhe unter internationalen Gesundheitsexperten. Unter dem Einfluss ihrer mächtigen Pharmaindustrie versuche die EU verschärfte Regelungen zum Patentschutz durchzusetzen, heißt es etwa in einem Kommentar der Hilfsorganisation Oxfam.5
Da ein Fünftel der weltweit produzierten Generika von indischen Unternehmen stammt, haben europäische und US-amerikanische Pharmafirmen ein strategisches Interesse daran, deren Ruf zu schädigen. Die bei der WHO angesiedelte Internationale Taskforce zum Schutz vor Medikamentenfälschungen (Impact) zieht seit ihrer Gründung im Jahr 2006 die Qualität der indischen Generika in Zweifel. Ihre Analysen sind umstritten. Einige WHO-Mitgliedstaaten meinen, für die Taskforce stünden die kommerziellen Aspekte im Vordergrund – ein Vorwurf, der bei der 64. WHO-Versammlung im Mai 2011 für einigen Wirbel sorgte.
Dass in Indien bei der Versorgung mit Medikamenten einiges schiefgeht, ist allerdings unbestritten. „Bei einer Überprüfung in einem Luxuskrankenhaus in Bombay stellte sich heraus, dass ein Teil der tiefgekühlten Medikamente verdorben war“, schreibt etwa Sujay Shetty, Verfasser des Berichts für PricewaterhouseCoopers.
Yussuf Sheikh arbeitet in einer kirana – einer kleinen Apotheke, die zugleich Gemischtwarenladen ist – in einem armen Viertel unweit der Hafenanlagen von Bombay. Tablettenschachteln, Milchkartons und Kosmetika stapeln sich wild durcheinander auf dem Fußboden. Seine Kunden sind die Nachbarn aus der unteren Mittelschicht und deren Bedienstete, die im Slum am Bahnhof hausen.
Bei Yussuf Sheikh variieren die Preise, je nachdem, wer vor seinem Ladentisch steht. „Wenn sie genug Geld haben und sich ein indisches Generikum oder ein amerikanisches Produkt leisten können, dann verkaufe ich es ihnen. Den Ärmeren schlage ich dagegen Billigmedikamente vor“, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Alle würden auf ihre Kosten kommen. „Unsere Gewinnspanne liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Wenn jemand sehr arm ist, verkaufe ich ihm Paracip von Cipla, das ist das gleiche wie Paracetamol. Manchmal stimmt die Dosierung nicht mit den Beipackzetteln überein, oder die Packung ist falsch etikettiert, oder das Medikament ist ein Placebo. Aber dafür muss der Kunde auch nicht 60 Rupien hinblättern, sondern nur 15, und er ist überzeugt, dass er etwas von Cipla gekauft hat. Ihm kann eigentlich nichts passieren. Vielleicht dauern die Kopfschmerzen einen Tag länger, aber daran wird er nicht sterben.“
Kampf gegen Multis, Fälscher und korrupte Behörden
Wie hoch der Anteil an Fälschungen ist, lässt sich kaum einschätzen. „Der WHO zufolge soll jedes vierte in Indien verkaufte Medikament eine Fälschung sein. Wenn das zuträfe, würde unsere Branche Verlust machen“, spottet Dilip Shah, ein Vertreter der Indischen Pharmazeutischen Allianz, der Lobby der indischen Generika-Hersteller, die ihre eigenen Untersuchungen zum Handel mit gefälschten Medikamenten anstellt. „Für die WHO ist jedes Medikament eine Fälschung, das nicht den Normen entspricht, egal ob das Etikett falsch ist, ob es sich um ein Placebo handelt oder um ein Generikum. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass solche Produkte schädlich sind oder wirkungslos. Außerdem werden vor allem rezeptfreie Medikamente gefälscht, und die kursieren nur auf dem heimischen Markt.“
Dieser große, weitgehend informelle Markt, der von lokalen Kleinunternehmern beliefert wird, ist hart umkämpft. Durch den Verkauf rezeptfreier Medikamente in den kirana und in kleinen Supermärkten erreicht man eine ländliche und eine mehr oder weniger urbane Kundschaft, die auch für die großen nationalen und internationalen Konzerne interessant ist.6
Nicht ohne Hintergedanken fordern die indischen Berufsorganisationen eine stärkere Regulierung. „Die indischen Generika-Hersteller fürchten, dass ihnen der riesige und rasant wachsende Markt der Mittelschicht wegbricht“, erklärt Sujay Shetty. Die Gewinnaussichten seien auch deshalb so gewaltig, weil „Indien gut aufgestellt ist, um mindestens ein Drittel der 70 Milliarden Dollar einzustreichen, die mit Medikamenten verdient werden dürften, deren Patentschutz in den Vereinigten Staaten in den kommenden drei Jahren ausläuft.“
Erschwert wird die Regulierung durch einige grundsätzliche Probleme: Laut Dilip Shah ist die indische FDA (die Lebensmittel- und Arzneimittelkontrollbehörde) „vollkommen ineffektiv und teilweise korrupt. Mehr als einmal mussten wir verblüfft feststellen, dass Schwarzhändler, hinter denen wir seit Monaten her waren, einfach verschwanden, nachdem wir die FDA informiert hatten. Kurz vorher hatten sie noch ihre Lager mit gefälschten Medikamenten leer geräumt.“
Vermutlich wäre es das beste Mittel gegen den Schwarzhandel, den Betroffenen einfach die „guten“ Medikamente zur Verfügung zu stellen. So macht man es im J. J. Hospital, einem der größten öffentlichen Krankenhäuser in Bombay. In der winzigen Krankenhausapotheke bekommen Aidspatienten kostenlos Tabletten für die Tritherapie. „Für größere Räume haben wir kein Geld, aber wir versuchen die Ärmsten unserer Patienten dazu zu überreden, zu uns zu kommen, statt sich die Medikamente woanders zu besorgen, auch wenn sie bei uns stundenlang anstehen müssen“, erklärt ein Krankenhausarzt.
Die größte Sorge der indischen Pharmaunternehmer ist jedoch, dass die Klausel 3d des indischen Patentschutzgesetzes gestrichen wird. Diese im Jahr 2005 verabschiedete Klausel, Ergebnis zähen Feilschens mit der WHO, regelt, dass ein Patent nur für neue Arzneimittel beantragt werden kann, die in einem wissenschaftlich seriösen Verfahren entdeckt wurden, und nicht für Produkte, die bereits vorhandene Arzneistoffe wiederverwerten oder verbessern. Es liegt auf der Hand, dass die Klausel 3d die US-amerikanischen und europäischen Pharmagiganten in Rage versetzt, die intensive Lobbyarbeit betreiben, um das Ganze wieder rückgängig zu machen.
„Die Klausel 3d ist unser einziges Sicherheitsnetz!“, empört sich Doktor Jaideep Gogtay, Spezialist für HIV und medizinischer Direktor bei Cipla. „Die Pharmamultis arbeiten mit allen Tricks, um die Laufzeit ihrer Patente zu verlängern. Wir bezeichnen das als Evergreening. Wussten Sie, dass es manchmal hunderte Patente für ein einziges Medikament gibt? Bei HIV- oder Krebsmedikamenten, die in unserem Land unerschwinglich sind, ist das für mich geradezu kriminell!“
Die westlichen Pharmaunternehmen haben einige Trümpfe in der Hand. Im Dezember 2010 enthüllte die indische Wirtschaftszeitung Mint, dass das kalifornische Biotechunternehmen Gilead Sciences den damaligen US-Handelsminister Gary Locke dazu gebracht hatte, sich bei seinem indischen Amtskollegen für ihre Interessen starkzumachen. Es ging darum, außerhalb des legalen Verfahrens das Aidsmedikament Viread auf den Markt zu bringen. Zuvor hatte Indien den Antrag mit Verweis auf Abschnitt 3d seines Patentgesetzes abgelehnt. Viread wurde als neues Medikament präsentiert, war aber tatsächlich nur ein Derivat des seit Langem verfügbaren Medikaments Tenofovir.7
Bremsen ließe sich der monopolistische Eifer westlicher Pharmafirmen durch obligatorische Lizenzen. Diese könnten die internationalen Pharmamultis dazu verpflichten, die Wirkstoffkombination ihrer Präparate herauszugeben und lokalen Laboren gegen Bezahlung von Lizenzgebühren die Nutzung zu erlauben. So geschehen bei der ersten erzwungenen Patentabtretung in der Geschichte Indiens: Mitte März 2012 entschied das indische Patentamt, dass der Pharmakonzern Bayer gegen Zahlung einer geringen Lizenzabgabe das Patent auf sein Krebsmittel Nexavar an den indischen Generika-Hersteller Natco weitergeben muss.
Auf diesem Weg können die Preise gedrückt werden, während zugleich die indischen Produzenten den Zugang zum Binnenmarkt behalten. Nach Cipla-Chef Yusuf Hamied sei dies der einzige Weg, um die Zukunft der indischen Generika zu retten. Denn nach 2015, wenn der strengere Patentschutz zugunsten der monopolistischen Pharmaindustrie greift, sei abzusehen, dass die Preise für Medikamente erheblich steigen werden.8
Davon abgesehen fürchtet die Vereinigung der indischen Medikamentenhersteller (Organisation of Pharmaceutical Producers of India, Oppi), vom Markt verdrängt zu werden, seit Indien unter dem Druck der ausländischen Multis ein Gesetz erlassen hat, das 100-prozentige ausländische Direktinvestitionen im Pharmabereich erlaubt. Mittlerweile gibt es zahlreiche strategische Partnerschaften und Übernahmen lokaler Unternehmen.
Vor diesem Hintergrund wird der Ausgang der Verhandlungen zwischen Brüssel und Neu-Delhi mit Spannung erwartet. Seit dem Gipfeltreffen im Februar ist über den Inhalt der Gespräche nichts nach außen gedrungen. Immerhin hat sich die EU offenbar doch bereit erklärt, die Klausel über die sogenannte Datenexklusivität wieder zu streichen, die sie in den Entwurf für das Freihandelsabkommen eingefügt hatte. Datenexklusivität bedeutet, dass „der Rechteinhaber das Exklusiveigentum an allen mit einem Produkt verbundenen Vorgängen besitzt: von der chemischen Zusammensetzung über die Produktion von Generika bis zum Marketing“, erklärt Leena Menghaney, die in Indien die Kampagne von Ärzte ohne Grenzen für den freien Zugang zu wichtigen Medikamenten koordiniert.
Menghaney erläutert die Problematik an dem klassischen Beispiel Colchicin: Dieser unter anderem im Samen der Herbstzeitlosen vorkommende Wirkstoff wird seit 3 000 Jahren gegen Gicht eingesetzt. Die pharmazeutische Formulierung existiert seit dem 19. Jahrhundert. Deshalb kann sich eigentlich niemand ein Medikament patentieren lassen, das auf dem Wirkstoff Colchicin aufbaut. Und doch ist es kürzlich einer Pharmafirma in den USA gelungen, sich unter Berufung auf die Datenexklusivität bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) ein Exklusivrecht auf das Marketing zu besorgen. Von da war es nur ein Schritt, dem Unternehmen den Status eines Rechteinhabers zu geben. Kurz darauf stieg der Preis des Medikaments von knapp 10 Cent auf 4,85 Dollar.