14.12.2012

Nichts ist normal in Karabach

zurück

Nichts ist normal in Karabach

Armenier und Aserbaidschaner pflegen einen kämpferischen Waffenstillstand von Philippe Descamps

Nichts ist normal in Karabach
Infokasten zu Karabach

Wir liegen in Askeran im Schützengraben und lu-gen durch eine Schießscharte im Beton. „Sie dürfen höchstens fünfzehn Sekunden gucken. Dann müssen Sie sich wieder ducken.“ Keine zweihundert Meter entfernt liegen die ersten aserbaidschanischen Soldaten auf der Lauer. Die Szenerie hat etwas von Erstem Weltkrieg: einfache Kasematten, Sandsäcke, ein kleiner Holzofen für den Winter und verrostete Konservendosen zum Alarmschlagen bei nächtlichen Überfällen. Die drei jungen Soldaten auf dem Posten, gerade mal zwanzig Jahre alt, kommen aus Eriwan. Ihr Offizier findet, dass es heute relativ ruhig ist.

„Gestern hat der Feind achtzehnmal den Waffenstillstand gebrochen, wir nur einmal“, versichert Generalleutnant Movses Hakobian, der Verteidigungsminister von Berg-Karabach. „Sobald an der dreihundert Kilometer langen Front jemand den Kopf rausstreckt, dürfen sie schießen. Wir sind jeden Tag im Krieg.“ Anfang Juni hatten die Gefechte an zwei Tagen acht Todesopfer gefordert.

Seit dem letzten Waffenstillstand, der am 16. Mai 1994 in Moskau unterzeichnet wurde, hat sich der Frontverlauf nicht geändert. Um einer Niederlage zu entgehen, hat die aserbaidschanische Regierung damals zugestimmt – zu diesem Zeitpunkt kontrollierten die Armenier sowohl das einstige Autonomiegebiet Berg-Karabach („gebirgiger schwarzer Garten“) und sehr große angrenzende Gebiete; insgesamt umfasste das eroberte Territorium etwa 13 Prozent der früheren Sowjetrepublik Aserbaidschan. Seither belauern sich Soldaten und Eliteschützen Tag und Nacht, an einigen Frontabschnitten keine hundert Meter voneinander entfernt.

Die Gefechte geben den Rhythmus internationaler Treffen vor. Sie werden immer häufiger, obwohl Russland mehrfach Gipfelgespräche mit den Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans organisiert hat. Moskau ist allerdings kein neutraler Vermittler: Mit seinen engen Beziehungen zu Armenien steht es dem turksprachigen Aserbaidschan und der Türkei – Russlands traditionellem Erzfeind – gegenüber. So wird dieser regionale Konflikt weit über seine Grenzen hinaus zum gefährlichen Spannungsherd.

Dreimal im 20. Jahrhundert führten das armenische Bergvolk und die aserbaidschanischen „Tataren“ aus den Tälern Krieg gegen einander – 1905, 1918 und von 1991 bis 1994. Das Gebiet Berg-Karabach wurde gegen den Protest der armenischen Bevölkerung nach dem Willen der KPdSU 1921 der neu gegründeten Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen. Am Ende der Sowjetära gehörten die Armenier von Berg-Karabach 1988 zu den Ersten, die aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ausbrechen wollten. (Kurz darauf erklärten die baltischen Republiken ihre Unabhängigkeit und die ganze UdSSR brach auseinander.)

Die Minsker Gruppe, die 1992 unter der Ägide der OSZE gegründet wurde, um einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden, hat wenig erreicht. Hilflos wirken Auftritte wie der beim G-20-Gipfel im Juni, als die Präsidenten Russlands, Frankreichs und der USA, die gemeinsam der Gruppe vorstehen, „die beiden im Konflikt stehenden Staaten“ aufforderten, „wichtige und notwendige Entscheidungen zu treffen, um zu einer dauerhaften und friedlichen Lösung zu gelangen“.

Die Armenier aus Berg-Karabach, die früher für die Zugehörigkeit zur Sowjetrepublik Armenien gestimmt hatten, votierten nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 für die völlige Unabhängigkeit. So wurde aus einem Territorialstreit zwischen zwei Staaten ein nationaler Befreiungskampf. Die Republik Berg-Karabach mit ihren 140 000 Einwohnern hat eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament, eine eigene Fahne, eine eigene Armee, eigene Institutionen und eine eigene Regierung. Tatsächlich ist sie jedoch eng mit ihrer „großen Schwester“ verbunden, alle wichtigen Entscheidungen fallen in Armeniens Hauptstadt Eriwan.

Das Volk der Berge und die Tataren der Täler

Während die Militärs von Berg-Karabach darauf warten, eines Tages an den Verhandlungstisch geladen zu werden, lassen sie die Muskeln spielen. Am 9. Mai dieses Jahres feierte man in der Hauptstadt Stepanakert (Chankendi für die Aserbaidschaner) mit einer Militärparade den 20. Jahrestag der Eroberung von Schuscha. Damit hatten die Rebellen die Kontrolle über den Korridor von Latschin (Berdsor für die Armenier) gewonnen, der Berg-Karabach mit Armenien verbindet, und den Artilleriebeschuss auf ihre Hauptstadt unterbunden. Viele Exilarmenier feiern diesen Sieg gegen die „türkischen“ Aserbaidschaner noch heute als gelungene Rache für die Verbrechen der Vergangenheit.

Auf der Tribüne saßen der armenische Präsident Sersch Sargsjan, zwei Prälaten und Bako Sahakjan, der Präsident der „Republik Berg-Karabach“, die kein Land der Welt anerkennt, und applaudierten beim Vorbeizug von Panzern, unbemannten Flugzeugen und Raketen. „Das Volk der Berge“, sollte diese Demonstration zeigen, werde sein Recht auf Selbstbestimmung niemals aufgeben. Die demokratische Entwicklung der Republik Berg-Karabach entspreche internationalen Standards, behauptet Präsident Sahakjan: „Früher oder später wird die internationale Gemeinschaft unsere Unabhängigkeit anerkennen. Wir wollen nicht noch einmal einen Krieg erleben. Aber die Sicherheit des Landes hat oberste Priorität. Wir sind bereit, uns zu verteidigen – wenn es sein muss auch präventiv.“

Seit dem offiziellen Kriegsende vor bald zwanzig Jahren hat sich die Provinzhauptstadt Stepanakert/Chankendi (50 000 Einwohner) sehr verändert. Rundum erneuert strahlt das „Schaufenster der armenischen Sache“, das wesentlich mehr Flair besitzt als die Industriestädte im postsowjetischen Armenien. Nur fünfundzwanzig Kilometer von der Front entfernt flanieren junge Frauen in bunten Kleidern auf der Hauptstraße. In Berg-Karabach liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen mit 2 200 Euro über dem armenischen Durchschnitt. Die selbst ernannte Republik unterhält eine Armee von 15 000 Mann, zahlt Pensionen aus, baut Straßen und Brücken, investiert in das Gesundheits- und Schulwesen und kontrolliert einen großen Teil der Unternehmen. Und Eriwan zahlt: Zwei Drittel des Haushalts trägt Armenien.

„Aserbaidschan hat sein Erdöl, die Armenier haben ihre Diaspora“, pflegte der frühere Präsident von Karabach, Arkadi Ghukassian, zu sagen. Ein Großteil der Gelder aus den weltweit verstreuten Exilgemeinden fließt heute nach Berg-Karabach. Michel Tancrez, der in Stepanakert den „Fonds arménien de France“ verwaltet, sagt, dass die Hälfte der französischen Spenden den Armeniern in Berg-Karabach zugutekommen. Der Geldsegen bringt allerdings nicht nur Gutes hervor. So empört sich der Journalist Ara K. Manoogian auf seiner Website regelmäßig über Verschwendung und Unterschlagung.1

In der historischen Hauptstadt Schuscha herrscht eine ganz andere Atmosphäre. Die restaurierte Kathedrale zeugt zwar von vermeintlich wiedergewonnenem Glanz, doch die meisten Einwohner wohnen in heruntergekommen Breschnew-Bauten, in denen wegen mangelnder Wartung oft die Heizungen ausfallen – und das in 1 300 Metern Höhe. Man behilft sich mit Gas- oder Holzöfen, die Rohre ragen aus den Fenstern. An vielen Gebäuden sieht man noch Einschusslöcher. Häuser, in denen damals Aserbaidschaner lebten, wurden zerstört. Die beiden großen Moscheen und der alte Basar verfallen. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Bevölkerung von Schuscha noch gemischt, doch nach dem großen Pogrom von 1920 flohen die überlebenden Armenier aus der Stadt. In der Sowjetära waren die meisten der damals etwa 10 000 Einwohner Aserbaidschaner. Heute leben nur noch 3 000 Leute in Schuscha – Armenier, die nach den Pogromen im Februar 1988 aus Sumgait, einem Vorort der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, hierher gekommen sind.

Lavrent Gumanian, der mehrfach verwundet und ausgezeichnet wurde, klagt über die Arbeitslosigkeit. „Mit zwanzig war ich im Krieg. Heute bin ich vierzig und habe keine Arbeit. Das Gefühl, unnütz zu sein, ist auch für meine Kinder schwer zu ertragen.“ Die allgemein herrschende Depression hat allerdings weniger mit dem vermeintlichen Kampf der Kulturen zwischen Muslimen und Christen zu tun, als viel mehr mit den langfristigen Folgen des ökonomischen Schocks nach dem Zerfall der Sowjetunion. „Hinter dem ganzen Nationalismus verbirgt sich nämlich ein Riesenberg an sozialen Problemen“, meint der Anwalt Sevag Torossian.2

Auch die Beziehungen zu den Nachbarn entsprechen nicht dem Kulturkampfschema: So ist das christliche Armenien durch die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) mit dem orthodoxen Russland und den muslimischen Staaten Zentralasiens verbündet. Außerdem pflegt es gute Beziehungen zum schiitischen Iran, der seinerseits dem ebenfalls schiitischen Aserbaidschan mit großem Misstrauen gegenübersteht, das wiederum eng mit der vorwiegend sunnitischen Türkei und dem christlichen Georgien verbunden ist, wobei Georgien wiederum mit Russland verfeindet ist.

Armenisch seit zweitausend Jahren

Mithilfe des Irans konnte Armenien die aserbaidschanisch-türkische Blockade durchbrechen und vor allem Gas und Erdöl importieren. Teheran sorgt sich wegen der nationalistischen Haltung Bakus, denn im Nordwesten des Irans leben 15 Millionen Aserbaidschaner. Außerdem fürchten Eriwan und Teheran die enger werdenden Beziehungen zwischen Baku und Jerusalem, die im Februar 2012 einen Waffenvertrag über 1,2 Milliarden Euro unterzeichnet haben.3 Im Austausch für Erdöl bekam Baku hochmoderne Waffen aus Israel, darunter auch Drohnen. Amerikanische Diplomaten und Geheimdienstler verdächtigen zudem die Regierung in Jerusalem, im Süden von Baku „einen Flugplatz gekauft“ zu haben, um von hier aus die Atomanlagen im Iran bombardieren zu können.4 In Eriwan malt man sich schon voller Bangen einen darauffolgenden Angriff auf Berg-Karabach aus.

Zwei verschiedene Verkehrswege, die zurzeit nicht genutzt werden können, zeugen von der besonderen Situation dieses Gebiets, das von Armenien durch eine Bergkette mit Pässen in 2 300 Meter Höhe getrennt ist. Vor dem Krieg gab es eine Bahnstrecke, die von Stepanakert hinunter in die Kura-Ebene und weiter bis nach Baku führte. Davon ist heute nur noch der Bahndamm übrig, die Gleisanlagen wurden demontiert. Nicht weit vom ehemaligen Bahnhof von Stepanakert wurde vor über einem Jahr ein Flughafen eingeweiht, doch bisher ist niemand aus Eriwan hier gelandet: Die aserbaidschanischen Streitkräfte drohen, jedes Flugzeug abzuschießen, das sich am Himmel über Karabach zeigen sollte. Sie haben nicht vergessen, dass ganz in der Nähe, im Dorf Khodjali, bei der ersten armenischen Großoffensive vom 26. Februar 1992 zahlreiche aserbaidschanische Zivilisten umkamen. Der Krieg um Berg-Karabach forderte über 20 000 Tote, zahllose Verletzte, Kriegsinvaliden und Flüchtlinge. Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden innerhalb Aserbaidschans 570 000 Personen umgesiedelt, außerdem kamen 220 000 Flüchtlinge aus Armenien.5 Armenien seinerseits hat 300 000 armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan aufgenommen.

Die Höhen von Agdam sind, wie es in der offiziellen UN-Sprache heißt, „besetztes Territorium“, das früher nicht zum Autonomiegebiet gehörte. 1993 verlangte der UN-Sicherheitsrat, dass „sich die Besatzungsmächte sofort, vollständig und bedingungslos aus dem Rayon Agdam und allen anderen kürzlich besetzten Zonen zurückziehen“.6 In diesen militärischen Pufferzonen liegen Dutzende verlassene Dörfer und Städte wie Fisuli, Dschabrail oder das einstige regionale Handelszentrum Agdam. Nur ein paar entminte Äcker werden von den Bauern und vor allem von armenischen Viehzüchtern wieder genutzt. Zehntausende Häuser wurden im Krieg zerstört oder systematisch geplündert. Möbel, Balken, Dachziegel, Wasserrohre, Stromleitungen und alles, was nicht niet- und nagelfest und wiederverwertbar war, wurde weggeschleppt – was brennbar war, ging in Rauch auf. Übrig sind nur noch Ruinen.

Die Armenier wollen ihren Anspruch auf die verlassenen Gebiete geltend machen und rechtfertigen ihn mit archäologischen Funden, die bis in die Antike und in die Ära Großarmeniens zurückreichen. Sieben Kilometer nördlich von Agdam wurde eine Siedlung entdeckt, die nach dem armenischen König Tigranes II. (140–55 v. Chr.) benannt wurde, sie heißt jetzt Tigranakert. Der Wächter der Ausgrabungsstätte erzählt, wie er sie 2005 entdeckt hat: „Hier hatte ein Fuchs einen Bau gegraben, und durch das Loch habe ich eine Mauer gesehen. Die hab ich Hamlet Petrossian gezeigt, dem Direktor des Instituts für Archäologie. Bei den Ausgrabungen wurden dann die Überreste einer armenischen Basilika aus dem 6. Jahrhundert gefunden.“ Es wurde auch eine Ringmauer aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. freigelegt, die als Beweis gilt, dass es sich hier um eine Stadtgründung aus der Zeit des antiken Großarmeniens unter Tigranes II. handelt.

In der Diskussion um die territoriale Integrität Aserbaidschans spielen auch die armenischen Klöster eine maßgebliche Rolle. Zum Beispiel Dadiwank, das nur über eine marode Straße entlang der Tartar-Schlucht zu erreichen ist. In dem mittelalterlichen Kloster befinden sich Chatschkars (kunstvoll behauene Stelen) aus dem 13. Jahrhundert. Es liegt im Bezirk Kelbadschar, der zu Aserbaidschan gehörte, bis er im April 1993 von armenischen Kämpfern erobert wurde.

Die Nordroute, die durch den besetzten Bezirk Kelbadschar führt, war strategisch und militärisch ebenso wichtig wie der Korridor Latschin/Berdsor in der Mitte. Mit dem Beginn der Ausbeutung der Bodenschätze in Drmbon, in der Nähe des Sarsang-Stausees, Anfang der 2000er Jahre, erlangte sie auch wirtschaftliche Bedeutung. Im ganzen Bezirk Martakert liegen Gold, Kupfer und Molybdän (ein Metall, das wegen seiner besonderen Eigenschaften für diverse Legierungen äußerst wertvoll ist). Das Unternehmen Base Metals, der größte Arbeitgeber in Berg-Karabach, verpflichtete sich, die Straße zu erneuern, um die Erze in die kaum hundert Kilometer entfernten armenischen Fabriken nach Wardenis zu bringen. Die Bauarbeiten haben im letzten Frühjahr begonnen.

Solche Investitionen stoßen in Baku auf Protest, da man eine Festschreibung des Status quo fürchtet. Der autokratische Präsident Alijew seinerseits nutzt den Ölreichtum Armeniens, um seinen Einfluss auszudehnen. „Wir werden unsere diplomatischen Bemühungen fortsetzen. Aber wir werden keine Möglichkeit ausschließen, unsere territoriale Integrität wiederherzustellen.“7 Seit 2004 haben sich die Militärausgaben Aserbaidschans verfünffacht. 2011 wurden 2,5 Milliarden Euro ausgegeben – in Armenien 335 Millionen.8

Dieses Ungleichgewicht alarmiert die internationalen Vermittler, zumal vom Sechs-Punkte-Katalog der Minsker Gruppe bisher nichts umgesetzt wurde: Ende der armenischen Besetzung der aserbaidschanischen Territorien außerhalb Berg-Karabachs; Interimsstatus für Berg-Karabach, der Selbstbestimmung und Sicherheit garantiert; ein Landkorridor, der Berg-Karabach mit Armenien verbindet; Klärung der Statusfrage durch ein Referendum; Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge; und internationale Sicherheitsgarantien, was die Option der Stationierung einer multilateralen Friedenstruppe einschließt.

Jede Lösung wird die Geografie mit einbeziehen müssen, denn die Bergkette des Kleinen Kaukasus verläuft quer durch die Region. Im Norden der armenisch kontrollierten Zone erheben sich über 3 000 Meter hohe Berge, die Berg-Karabach von der Region Schahumjan trennen, in der früher viele Armenier lebten. Das 1992 schwer umkämpfte Gebiet steht unter der Kontrolle Aserbaidschans. Auch die Provinz Kelbadschar, die damals von den Armeniern besetzt wurde, ist durch die Berge isoliert. Die Regierung in Stepanakert ermuntert die Armenier, sich dort niederzulassen. Ungefähr 15 000 Personen leben in dieser Zone und in der benachbarten Zone von Latschin/Berdsor, während die übrigen eroberten Territorien verwaisen.

Aserbaidschanisch und ungeteilt

Präsident Alijew ist damit einverstanden, dass die Provinzen Kelbadschar und Latschin für fünf Jahre einen Übergangsstatus bekommen sollen. Grundsätzlich stimmt er auch der Einrichtung eines Korridors für diese Provinzen zu.9 Außerdem hat er sich bereit erklärt, dem früheren Autonomiegebiet Berg-Karabach eine gewisse Unabhängigkeit zuzugestehen. Zwei Punkte sind für ihn allerdings nicht verhandelbar: die territoriale Unversehrtheit Aserbaidschans und die Rückkehr der Vertriebenen – auch nach Schuscha. Dass es den Führungsriegen beider Seiten so offenkundig schwerfällt, Kompromisse einzugehen, hat damit zu tun, dass der Konflikt beiden zur Macht verholfen hat. In Aserbaidschan wie in Armenien steht die Karabach-Frage im Zentrum des politischen Lebens und ist die Ursache für innenpolitische Spannungen.

Seit der damalige Präsident Lewon Ter-Petrossjan 1998 zurücktreten musste, weil ihm vorgeworfen wurde, er hätte die armenischen Interessen verkauft, als er einer Teillösung zustimmte, sitzen in Eriwan Männer aus Karabach an allen Hebeln der politischen und wirtschaftlichen Macht.10 Der aktuelle Präsident Sersch Sargsjan war damals Verteidigungsminister, und er weiß sehr wohl, dass der Status quo auch für die Armenier einen hohen Preis hat. Nach dem Scheitern seines Annäherungsversuchs an die Türkei kann er nicht mehr darauf hoffen, die Blockadehaltung aufzugeben und den internationalen Druck zu mindern, ohne auf den starren Widerstand eben jenes Systems zu stoßen, das er selbst verkörpert.

Zu Sowjetzeiten war Armenien innerhalb des arbeitsteiligen Sowjetsystems ein Zentrum der Wissenschaft und Schwerpunkt der Industrie. Drei traumatische Ereignisse prägen das Land bis heute: 1988 kamen in Armenien bei einem schweren Erdbeben 28 000 Menschen ums Leben, 31 000 wurden verletzt; 1991 löste sich die Sowjetunion auf; und 1992 begann der Krieg um Berg-Karabach. Während die Oligarchen in den Medien, die sie kontrollieren, ihren Wohlstand zur Schau stellen, mussten viele der alten Mischkonzerne aufgeben. Mehr als ein Drittel der Felder liegt brach und erzhaltiger Boden wird meistbietend an russische Unternehmen verkauft.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Mai 2012, die die Republikanische Partei des Präsidenten Sargsjan mit 44 Prozent der Stimmen deutlich gewann, kam es zu Schießereien zwischen Anhängern der Regierung und der Opposition. Viele Armenier gingen erst gar nicht wählen. Und immer mehr Menschen verlassen das Land: Seit Ende der 1980er Jahre sind zwischen 700 000 und 1,3 Millionen Armenier ausgewandert,11 allein 35 000 gehen im Jahr nach Russland.12 Die Bevölkerungszahl ist inzwischen auf 2,8 Millionen gesunken. Da helfen auch vereinzelte staatliche Maßnahmen nicht, wie kostenlose Entbindungen in einem ansonsten maroden Gesundheitssystem.

Im Stadtzentrum von Eriwan tut sich indes ein Lichtblick auf: In einer Grünanlage protestieren seit mehreren Monaten junge Aktivisten gegen die Privatisierung dieses öffentlichen Raums, der an Geschäftsleute verscherbelt werden soll. Und das sei kein Einzelfall, sagen die Aktivisten. Überall im Land werde Gemeineigentum privatisiert, doch die Leute, abgelenkt von den nationalistischen Phrasen der Regierung, bekämen davon nichts mit.

Armen Radekian ist in der französischen Diaspora geboren und seit acht Jahren in Schuscha zu Hause. Der Schlüssel für Armeniens Zukunft liege im Aufbau einer Zivilgesellschaft, sagt er, und dazu möchte er mit seinem Verein zur Nachbarschaftshilfe etwas beitragen. Als Erstes, meint Radekian, müsse man Vertrauen schaffen: „In meinem Viertel lebt zum Beispiel eine Familie, deren Sohn vor einem Jahr von Aserbaidschanern getötet wurde. Dieser Familie kannst du nicht einfach sagen, dass die Aserbaidschaner gute Nachbarn sind, mit denen man endlich Frieden schließen soll.“

Das erste Signal zur Entspannung müsste von der Front ausgehen: Austausch von Toten und Gefangenen, Rückzug der Posten, geregelte Überwachung des Waffenstillstands und schließlich die Bereitschaft aller Beteiligten, miteinander zu reden – und das nicht nur bei den großen diplomatischen Zusammenkünften.

Fußnoten: 1 Siehe thetruthmustbetold.com. 2 Sevag Torossian, „Le Haut-Karabakh arménien. Un Etat virtuel?“, Paris (L’Harmattan) 2005. 3 Associated Press, 26. Februar 2012. 4 Mark Perry, „Israel’s secret staging ground“, Foreign Policy, Washington, 28. März 2012. 5 „Die Flüchtlinge in der Welt“, UNHCR, Genf 2000. 6 Resolution 853 des UN-Sicherheitsrats, 29. Juli 1993. 7 Rede zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit am 17. Oktober 2011. 8 Stockholm International Peace Research Institute (Sipri). 9 Rede vor der aserbaidschanischen Gemeinschaft von Berg-Karabach, Baku, 6. Juli 2010. 10 Siehe Jean Gueyras, „Zwei Verbrecher und ein Hexer. Armenien hat einen neuen Präsidenten und eine neue Opposition“, Le Monde diplomatique, April 2008. 11 „Migration and human development: opportunities and challenges“, UN-Entwicklungsprogramm, New York 2009. 12 Zwischen 1991 und 2009 sind nach dem statistischen Jahrbuch Russlands 450 000 Armenier eingewandert. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Philippe Descamps ist Journalist.

Was wann geschah

14. Mai 1805 Das Khanat Karabach tritt seine Souveränität an Russland ab.

21. Februar 1828 Die Khanate Eriwan und Nachitschewan geraten ebenfalls unter russische Herrschaft.

Februar–August 1905 Erster armenisch-aserbaidschanischer Krieg.

April 1915 Beginn des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich.

24. Februar 1918 Ausrufung der Transkaukasischen Demokratisch-Föderativen Republik.

26.–28. Mai 1918 Austritt Georgiens, dann Aserbaidschans und Armeniens aus der Föderation; Kämpfe in Karabach.

April–November 1920 Antiarme-nischer Pogrom in Schuscha. Sowjetisierung von Aserbaidschan, Karabach und Armenien.

5. Juli 1921 Das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei im Kaukasus schlägt Karabach provisorisch der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu.

7. Juli 1923 Gründung der Autonomen Region Berg-Karabach, deren Hauptstadt von Schuscha nach Chankendi verlegt wird, das fortan Stepanakert heißt.

20. Februar 1988 Der Sowjet von Berg-Karabach beschließt den Anschluss an Armenien. Zusammenstöße in Askeran, gefolgt von antiarmenischen Pogromen in Sumgait und großen Demonstrationen in Eriwan.

August–September 1991 Nach dem Scheitern des Staatsstreichs in Moskau werden Aserbaidschan und Armenien unabhängig.

10. Dezember 1991 82 Prozent der Wahlberechtigten stimmen für die Unabhängigkeit von Berg-Karabach. Ausweitung der Kämpfe.

24. März 1992 Gründung der Minsker Gruppe unter der Schirmherrschaft der OSZE.

30. April 1993 Der UN-Sicherheitsrat fordert den Rückzug der armenischen Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Territorien.

16. Mai 1994 Unterzeichnung des Waffenstillstands in Moskau.

Zwischen Aras und Kura

Unter der Herrschaft der Osmanen, Perser und Russen waren die Völker Transkaukasiens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eng miteinander verflochten. Doch um den Anspruch auf Berg-Karabach zu rechtfertigen, interpretieren Armenier und Aserbaidschaner die gemeinsame Geschichte auf sehr unterschiedliche Weise.

Armenien legt viel Wert auf seine lange kulturelle und religiöse Tradition. Schon in der Antike, heißt es hier, hätten die östlichen Randgebiete des Kleinen Kaukasus zwischen den Flüssen Aras und Kura zu Armenien gehört, das bereits im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion erhob. Trotz vieler Fremdherrschaften bewahrte sich das Land eine relative Autonomie. Symbol dieser Selbstbehauptung ist das Gebirge Arzach. Der Anteil der Armenier in Berg-Karabach ist erst unter der aserbaidschanischen Administration zurückgegangen – bei der Volkszählung von 1923 lag er noch bei 94 Prozent, 1989 waren es 76 Prozent, so der armenische Botschafter vor der Generalversammlung der UN 2009.

Aus aserbaidschanischer Sicht ist die Trennung zwischen Berg-Karabach und dem übrigen Karabach künstlich. Berg-Karabach sei lange Teil des Persischen Reichs gewesen und habe oft einen anderen Status gehabt als die Region um Eriwan, heißt es in Baku. Und die ersten Christen seien sowieso „armenisierte“ Albaner gewesen – aus einer Region, die historisch die Wiege Aserbaidschans sei. Seit dem 15. Jahrhundert bis zu seiner Besetzung durch die Russen im Jahr 1815 war das Kloster Gandsassar außerdem Sitz des Katholikos von Albania. Später hätten die neuen slawischen Herren, so die aserbaidschanische Darstellung, die Zuwanderung von Armeniern aus dem Persischen und Osmanischen Reich gefördert, um die christliche Bevölkerung an den südlichen Grenzen ihres Reichs zu stärken.

Als sich die Osmanen im Oktober 1918 aus Baku und Aserbaidschan zurückzogen, überließ die britische Verwaltung unter General William M. Thomson das Berg-Karabach-Gebiet den Aserbaidschanern und Nachitschewan den Armeniern. Das letzte Wort war aber noch nicht gesprochen, und so standen auch diese strittigen Territorialfragen auf der Tagesordnung der Pariser Friedenskonferenz vom 18. bis 21. Januar 1919. Doch die Rote Armee kam den Diplomaten zuvor. Aus Rücksicht auf die Türken und Aserbaidschaner, vor allem aber, um sich die Kontrolle über das Erdöl zu sichern, schlugen sie Nachitschewan wieder Aserbaidschan zu. Die Frage, zu wem Berg-Karabach gehören sollte, war indes noch offen geblieben.

Ende 1920 gehörte der gesamte Kaukasus – mit Ausnahme Georgiens – zum Territorium der Sowjetunion. Am 4. Juli 1921 erschien Josef Stalin, damals Kommandeur der Südfront und Kommissar für Nationalitätenfragen, im Parteibüro der kaukasischen Bolschewisten, die damals dazu tendierten, Berg-Karabach Armenien anzugliedern. Nach Stalins Besuch änderten sie jedoch ihre Meinung und beschlossen, gegen den Protest Armeniens, Berg-Karabach als Autonomiegebiet Aserbaidschan zuzuschlagen.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2012, von Philippe Descamps