14.12.2012

Der neue polnische Realismus

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Der neue polnische Realismus

von Dominique Vidal

Der neue polnische Realismus
Infokasten Polen

Ganz Warschau amüsiert sich über einen Witz auf Kosten des polnischen Außenministers: „Was ist der Unterschied zwischen Gott und Radek Sikorski?“ – „Gott hält sich nicht für Radek Sikorski.“

In der Tat fällt der Chef der polnischen Diplomatie nicht gerade durch Bescheidenheit auf. Bei der außenpolitischen Generaldebatte vor dem Sejm, dem polnischen Parlament, am 29. März 2012 behauptete er schlankweg: „Das heutige Polen ist das beste Polen, das wir jemals gekannt haben.“ Und seine Bilanz der EU-Präsidentschaft endete mit dem Satz: „Ich darf mit Stolz behaupten, dass die Führungsrolle Polens trotz aller widrigen Umstände weithin als die beste seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angesehen wird.“1

Sikorski macht aus seinem Ehrgeiz keinen Hehl. Aus seiner Umgebung hört man, der Außenminister sehe sich künftig „als Präsident der Republik oder zumindest der Europäischen Kommission, im ungünstigsten Fall als Generalsekretär der Nato“. Mit atemberaubendem Tempo hat der 49-Jährige die Karriereleiter erklommen. Mit 19 Jahren kam er als Flüchtling nach Großbritannien, später studierte er in Oxford. Seine journalistische Feuertaufe erlebte er 1986 bei den Mudschaheddin in Afghanistan. 1988 wurde er zum Polenberater des Medienmoguls Rupert Murdoch, seit 2002 arbeitete er für das konservative American Enterprise Institute in Washington. 2005 kehrte er nach Polen zurück und wurde Verteidigungsminister in einer rechten Regierung, ab Juli 2006 unter Jaroslaw Kaczynski. Nach dem Wahlsieg der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO) von 2007 berief ihn der neue Ministerpräsident Donald Tusk zum Außenminister. Sikorskis Lieblingsvokabel: success story. Die führt er auch unentwegt im Munde, wenn er den Aufstieg seines Landes auf der europäischen und globalen Bühne würdigt, auch wenn das Wort nicht unbedingt die Realität beschreibt.

Im Außenministerium erleben wir eine Überraschung: Der Chef des Planungsstabs ist noch keine 40 Jahre alt. Jakub Wisniewski ist ein brillanter Kopf. In dem auf Englisch geführten Gespräch fasst er die polnische Außenpolitik, die er mitgestaltet, in zwei Schlüsselbegriffen zusammen: „Kontinuität und Realismus.“ Kontinuität und Realismus beim Vorantreiben der europäischen Integration, beim Willen, die östlichen Nachbarn stärker einzubinden, und im Bestreben, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren.

Und wie steht es um die „besondere Beziehung“ zu den Vereinigten Staaten? „Unser Ruf als ‚Trojanisches Pferd Amerikas in Europa‘ ist nichts als ein Mythos“, lautet seine Antwort. „Unsere Sicherheit beruht auf der Qualität der transatlantischen Beziehungen, unsere wirtschaftliche, kulturelle und sogar zivilisatorische Zukunft aber hängt von unserem Platz im Herzen Europas ab – und nicht etwa im Vorzimmer Europas.“ Polen will also in die Eurozone? „Ja, sobald unsere Wirtschaft so weit ist.“

Das alles klingt nicht besonders revolutionär – allerdings nur für den, der die bewegte Geschichte Polens vergisst. Die erläutert mir knapp, aber mit bewegten Worten, Philippe Rusin, der polnischstämmige Leiter des französischen Kulturinstituts in Warschau: „Vergessen Sie nicht, dass dieser Staat, dereinst der mächtigste in Mitteleuropa, 123 Jahre lang von der Landkarte verschwunden war.“

Angst vor einer Achse Berlin–Moskau

Rusin meint damit die Zeit von 1795 bis 1918, in der Polen zwischen Russland, Österreich und Deutschland aufgeteilt war. Am 11. November 1918 entstand die zweite polnische Republik, aber die wurde 1939 „von Frankreich und Großbritannien verraten, die es zuließen, dass Hitler über ihren Verbündeten Polen herfiel. Die Bilanz waren 6 Millionen Tote.“

Und dann erzählt Rusin vom Warschauer Aufstand im Sommer 1944, den die Wehrmacht unter den Augen der am andern Weichselufer stehenden Roten Armee niederschlug.2 Im Museum des Warschauer Aufstands sind Luftaufnahmen vom April 1945 zu sehen. Sie zeigen die Hauptstadt in Trümmern. Der Anblick erinnert an Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe.

Gibt es in Polen eine „nationale Paranoia“? Adam Chmielewski, Philosophieprofessor an der Universität Warschau, findet den Ausdruck nicht schockierend: „Das über mehrere Generationen verinnerlichte Gefühl, einer jahrhundertlang von ihren Nachbarn verfolgten Gemeinschaft anzugehören, ist wesentlicher Teil unserer Mentalität. Es erklärt unseren Hang zu einem messianischen, romantischen Nationalismus, der sich schlecht mit einer anderen Tendenz verträgt: mit unserem Streben nach einer im Innern wie nach außen offenen und friedlichen Gesellschaft.“

Fühlt man sich da nicht an die psychische Verfassung der Israelis erinnert? „Ja, die Polen sind da ganz ähnlich“, meint Georges Mink, Forschungsleiter am Centre national der recherche scientifique (CNRS). „Der gleiche Habitus des heroischen Opfers. Jede Familie hat Tote in den nationalsozialistischen oder sowjetischen Lagern zu beklagen, oder in Katyn.3 Und dieses Trauma wird im öffentlichen Bewusstsein wachgehalten.“ Der Präsident habe auf diese Dramatisierung der Geschichte gesetzt, die sein Vorgänger Kwasniewski noch überwinden wollte.

Lech Kaczynskis Bruder Jaroslaw hatte als polnischer Ministerpräsident am 21. Juni 2007 – auf einem Vorbereitungsgipfel für den Lissaboner Vertrag – die Stimmengewichtung im Ministerrat der Union mit dem Hinweis abgelehnt: „Ohne die Ereignisse von 1939 bis 1945 wäre Polen heute ein Land von 66 Millionen Einwohnern.“4 Im Klartext: Warschau kann nicht hinnehmen, dass Deutschland innerhalb der EU doppelt so viel Gewicht hat wie Polen, das durch die Deutschen auf ein Volk von 38 Millionen dezimiert wurde.

Der Auftritt von 2007 sagt viel über die Germanophobie der Kaczynski-Zwillinge, deren Russophobie allerdings nicht geringer ist. Beide Ängste verschmelzen zu der fixen Idee, das Land könnte wieder zum Kondominium der beiden alten Feindmächte werden. In seinem Buch „Das Polen unserer Träume“ schreibt Jaroslaw Kaczynski: „Merkel gehört dieser Generation deutscher Politiker an, die die imperiale Macht Deutschlands wiederherstellen wollen. Eine strategische Achse mit Moskau ist ein Teil davon, und Polen kann dabei nur ein Hindernis sein. Unser Land muss daher unterworfen werden, auf die eine oder andere Weise.“5 Auf solchen Ideen fußt die unkritische transatlantische Orientierung: Europa garantiert zwar den wirtschaftlichen Erfolg, nicht aber die Sicherheit Polens, für die der Schlüssel in Washington liegt.

Im September 2005 gewann die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Parlamentswahlen, und Jaroslaw Kaczynski wurde Ministerpräsident einer Koalitionsregierung. Kurz darauf wurde Parteichef Lech Kaczynski zum Präsidenten der Republik gewählt. Doch der „alle Rechten vereinende national-katholische Bunker“ (so Jean-Yves Potel, langjähriger Kulturberater der französischen Botschaft in Warschau) hielt nicht lange. Im Oktober 2007 gewann die Partei Bürgerplattform (PO) die Parlamentswahlen. Jetzt musste der PiS-Präsident mit dem PO-Ministerpräsidenten Tusk zusammenarbeiten.

Am 10. April 2010 starb Lech Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz bei Smolensk, das den Präsidenten und eine große polnische Delegation zu einer Gedenkfeier am 60. Jahrestag des Massakers von Katyn bringen sollte. Bei der Wahl des neuen Präsidenten unterlag Jaroslaw Kaczynski dem Kandidaten der PO.6 Der hieß Bronislaw Komorowski und hatte die innerparteiliche Kandidatenkür klar gegen Außenminister Sikorski gewonnen.

Verfolgte Sikorski nach dem Ende der Ära eine realistischere politische Linie? Nach Ansicht von Roman Imielski, Auslandschef der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, hat die Wahl Obamas „die polnischen Bush-Anhänger auf dem falschen Fuß erwischt“. Denn der neue US-Präsident habe den Raketenabwehrschirm aufgegeben, auf den sie gesetzt hatten, „um die Russen zu ärgern“. Jetzt sehen sie sich aller Illusionen beraubt: „Die Geografie fordert ihr Recht: Washington ist fern und Berlin sehr nah.“

Aleksander Smolar vom Vorstand des wichtigsten polnischen Thinktanks, der Stefan-Batory-Stiftung, nennt „die Missachtung durch die Amerikaner“ als Ursache dafür, dass Warschau die „Flucht nach vorn, nach Europa“ angetreten hat. Am 28. November 2011 erklärte Sikorski, fünf Jahre zuvor noch Mitglied einer Regierung, deren Chef die Gefahr eines „Vierten Reich“ beschworen hatte, vor dem deutschen Bundestag: „Ich bin wahrscheinlich der erste polnische Außenminister in der Geschichte, der das sagt, aber hier ist es: Ich habe weniger Angst vor deutscher Macht, als ich anfange, mich vor deutscher Inaktivität zu fürchten. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern führen bei den Reformen. Vorausgesetzt, Sie binden uns bei Entscheidungen ein, wird Polen Sie unterstützen.“7

Solche föderalistischen Töne des Außenministers bedeuten aber keineswegs, dass er eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten akzeptieren würde. „Er empfiehlt nur eine stärkere Integration“, meint Pawel Swieboda, Leiter des Instituts Demos Europa. Tatsächlich hat Sikorski vor dem Sejm beteuert: „Wir sind weder Utopisten noch naive Euro-Enthusiasten. Im heutigen Europa muss man für seine eigenen Interessen kämpfen.“ Und das umso mehr, wenn man nach der Einwohnerzahl an 6. und nach dem Bruttoinlandsprodukt an 7. Stelle in Europa steht.

Daraus erklärt sich Swieboda zufolge auch der lediglich „deklamatorische Charakter“ des „Weimarer Dreiecks“, einer diplomatischen Schöpfung mit dem Ziel, die deutschen und französischen Aktionen mit den polnischen zu koordinieren. In Wahrheit hat das Duo Berlin/Warschau inzwischen Paris an den Rand gedrängt. Selbst das höchst offizielle Dokument mit dem Titel „Prioritäten der Außenpolitik 2012–2016“ erhebt Deutschland in den Rang „des wichtigsten Partners Polens“. Frankreich wird erst danach erwähnt. Im Pariser Außenministerium wie in der Botschaft in Warschau räumen die Diplomaten off records ein, dass die bilateralen Beziehungen nicht mehr so eng sind. Ihre polnischen Kollegen sehen das ähnlich: „Wir sind wie ein altes Paar, bei dem die Vernunft die Leidenschaft ersetzt hat“, meint einer von ihnen, „dennoch hat unsere ‚Liaison‘ mit Deutschland bei den Franzosen die Eifersucht geweckt.“

An einen Grund für die Ernüchterung erinnert Konstantin Gebert, eine wichtige Figur der aus der Solidarnosc hervorgegangenen neuen Intelligenzija: „Niemand hier hat vergessen, wie uns Präsident Chirac 2003 angeherrscht hat, wir hätten ‚eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten‘, als wir den Krieg im Irak unterstützt haben. Chiracs Nachfolger hat das Sympathiekapital, das ihm seine transatlantische Ausrichtung eingebracht hatte, durch autoritäres Handeln in der Eurokrise verspielt. Die deutsche Kanzlerin hat ihren polnischen Kollegen zumindest informiert.“

Verletztes Selbstwertgefühl spielt also eine Rolle, aber auch das Geld. Deutschland ist mit 27 Prozent der wichtigste Abnehmer polnischer Exporte, weit vor Frankreich, das mit 6,3 Prozent an vierter Stelle liegt; bei den Importen steht die Bundesrepublik mit 28,7 Prozent an der Spitze der Lieferanten, Frankreich folgt mit 4,4 Prozent abgeschlagen an sechster Stelle.

Die Ära Kaczinsky hat Polens Ansehen geschadet

Enttäuschung über die USA, starke Abhängigkeit von Deutschland und ein abgekühltes Verhältnis zu Frankreich: Das ist der Stand, was das Verhältnis zum Westen betrifft. Und Polens „Partnerschaft“ mit dem Osten? Mit der Führungsrolle, die man in dieser Hinsicht für sich reklamierte, wollte Warschau sein Gewicht in der Europäischen Union verstärken, aber sich auch bei Russland Respekt verschaffen. Olaf Osica, Leiter des Zentrums für Oststudien, räumt ganz nüchtern ein: „Wir sind mit unserem Anliegen gescheitert, ‚die Demokratie nach Osten auszudehnen‘. Weder die Ukraine noch Weißrussland noch Moldawien sind da wirklich weitergekommen. Unser Verhältnis zu Litauen ist durch das Problem der polnischen Minderheit getrübt.8 Und Moskau hat unsere diesbezüglichen Anstrengungen als Gefährdung seiner Sicherheit wahrgenommen.“

Auch hier musste Warschau also zurückstecken. „Wir müssen mit Russland leben, so wie es ist, das haben wir akzeptiert. Und wir bemühen uns um eine möglichst stabile und gedeihliche Nachbarschaft.“ Und Osica fügt fast bedauernd hinzu: „Der Osten stellt für uns kein zentrales Problem mehr dar.“

Roman Kuzniar, diplomatischer Berater von Präsident Komorowski, schlägt ein Treffen im Café Gessler vor, gegenüber dem majestätischen Hotel Bristol. Kuzniar hatte in den Jahren des Umbruchs 1989 und 1990 entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik der damaligen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki; später kritisierte er allerdings dessen Hinwendung zu den USA und das „Hegemoniestreben der Vereinigten Staaten“. Über den neuen außenpolitischen Kurs zeigt sich der alte Stratege natürlich erfreut, ja, sogar amüsiert: „Sikorski ist zu meiner Politik konvertiert. Er, der so viel von Washington erwartet hatte, erklärt sich jetzt zum ‚europäischen Patrioten‘.“

Nachdem sich Kuzniar ausgiebig über die „klaren Ansagen“ des Außenministers begeistert hat, betont er die Lehren der Vergangenheit: „Wir haben uns für viel wichtiger gehalten, als wir tatsächlich waren. Je näher wir am Weißen Haus sind, desto besser unser Standing auf der europäischen und globalen Bühne – dachten führende Politiker.“ Nicht so Kuzniar: „Mir war klar, dass das für uns bedeuten würde, Washington beim Angriff auf den Irak zu folgen, obwohl die öffentliche Meinung mehrheitlich dagegen war. Daraufhin haben wir das Projekt des Raketenabwehrschirms unterstützt, das die absolute militärische Überlegenheit der USA sichern sollte. Aber das hätte uns nicht geschützt, sondern nur ein neues Wettrüsten provoziert. Ebenso blind stiegen wir dann auf die antieuropäische Rhetorik ein, die uns in die Isolation geführt hat.“

„Zur Vernunft“ kam Warschau nach Kuzniar erst wieder im Herbst 2009, als Präsident Kaczynski seine Weigerung aufgab, den vom Sejm verabschiedeten Lissabon-Vertrag zu unterschreiben. Jetzt sei es „allerhöchste Zeit, diese Epoche zu beenden, die dem Ansehen Polens sehr geschadet hat“.

Unwiderruflich zu beenden? Die Frage erscheint fast abwegig: Die aktuelle Außenpolitik Sikorskis ist völlig unumstritten. Die Bürgerplattform unterstützt sie sowieso. Der Bund der demokratischen Linken (SLD) nimmt sogar die Urheberschaft dafür in Anspruch. Dabei war es ihr heutiger Vorsitzender Leszek Miller, der früher als Regierungschef so willfährig mit Washington kooperiert hatte, dass er sogar ein geheimes CIA-Gefängnis auf dem Gelände der polnischen Geheimdienstes genehmigte.

Darauf angesprochen, meint der SLD-Abgeordnete Tadeusz Iwinski nur: „Uns war nicht bekannt, dass dort gefoltert wurde.“ Ausführlicher wird er, wenn er Sikorski kritisiert, dem er abwechselnd seine „Vorliebe für die Republikaner“ in den USA, „föderalistische Anwandlungen“ in Europa, „Arroganz“ gegenüber den östlichen Nachbarn und einen „kurzsichtigen Eurozentrismus“ in globalen Fragen vorwirft.

Den letzten Punkt betont auch Marcin Zaborowski, Leiter des Polnischen Instituts für internationale Angelegenheiten: „Wir sollten nicht alle Eier in denselben Korb legen, sondern auch auf die Schwellenländer setzen, einschließlich der arabischen Welt.“ Dafür bringe Polen gute Voraussetzungen mit: „Wir haben keine koloniale Vergangenheit und keine neokolonialen Interessen, dafür haben wir unsere Erfahrung eines demokratischen Wandels und unser Verhältnis zum Katholizismus, das uns hilft, die Rolle des Islam besser zu verstehen.“

Und was sagt er zur „proisraelischen“ Haltung Warschaus? „Sie erklärt sich aus unserem Willen, die dunklen Kapitel unserer Geschichte abzuschließen, die Politik des kommunistischen Regimes zu korrigieren und Washington zufriedenzustellen. Doch wir sind nicht starr festgelegt, das zeigt etwa unsere strikte Ablehnung einer israelischen Militäroperation gegen den Iran.“

Das Bündnis mit den USA ist nicht mehr Staatsräson

Die radikale Feministin Wanda Nowicka, Abgeordnete der Palikot-Bewegung und Vizepräsidentin des Sejm, fordert dagegen eine grundlegende Selbstkritik Warschaus: „Politiker wie Sikorski haben das schändliche Geheimgefängnis mit der Staatsräson gerechtfertigt, zu der angeblich auch unser Bündnis mit den USA gehört. Mit dieser Logik müssen wir brechen. Amerikanische Kriege zu unterstützen, kommt nicht mehr infrage.“

Völlig anders sieht das Witold Waszczykowski, bis 2007 stellvertretender Außenminister in der Regierung. Für ihn gibt es kein Heil jenseits von Washington. Angesichts der Selbstgefälligkeit Sikorskis verweist er auf die vielen „aufkommenden Bedrohungen“: ein „ohnmächtiges Europa“ in der Krise, ein „hegemoniales“ Deutschland, ein „aggressives“ Russland, „instabile und unberechenbare“ Verhältnisse bei den östlichen Nachbarn. Waszczykowski scheint die „Vision“ der Kaczynski-Zwillinge reanimieren zu wollen: Polen als „vollwertiges Mitglied der Nato, regionale Führungsmacht im Osten, vom Westen als wichtiger Staat anerkannt, von Russland respektiert und ein attraktiver Partner weltweit“.

Die Parlamentswahlen vom Oktober 2011 haben der Bürgerplattform und ihrem Koalitionspartner, der Polnischen Bauernpartei (PSL), eine knappe Mehrheit gebracht. Zwar sind die aktuellen Umfragewerte für die Regierungskoalition nicht günstig, vor allem wegen der unpopulären Rentenreform,9 doch die meisten Beobachter glauben nicht, dass die PiS wieder an die Macht kommt, jedenfalls nicht solange der überlebende Kaczynski-Bruder Parteiführer bleibt.

Marek Ziólkowski hat da seine Zweifel. Der Soziologe und ehemalige Senator spürt „ein Gefühl von Ungerechtigkeit“ auf individueller wie kollektiver Ebene: „Die Revolution hat ihre Kinder gefressen, auch bei uns. Diejenigen, die mit der Solidarnosc das alte Regime gestürzt haben, konnten von dem neuen nicht profitieren: Arbeiter und Intellektuelle gehören zu den Verlierern der Wende. Dagegen ist die alte Nomenklatura an der Macht geblieben, die sie mit den neuen Kapitalisten teilt.“

Falls sich bei der Linken kein Wandel vollzieht – und der zeichnet sich weder bei der dahinsiechenden SLD noch bei der unsteten Palikot-Bewegung ab –, könnte das Lager der „Benachteiligten“ dem nationalistischen, klerikal und reaktionär gesinnten Drittel der polnischen Wähler, das die Kaczynskis unterstützt, erneut zur Regierungsmehrheit verhelfen. Dieses Drittel nennt man hierzulande „das Volk von Smolensk“, weil es unbeirrbar glaubt, dass „ihr“ Präsident einem von Wladimir Putin und Donald Tusk eingefädelten Komplott zum Opfer gefallen ist.

Die mythologische Figur des Prometheus als Symbol des Widerstands gegen den Despotismus inspirierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bewegung von Marschall Józef Pilsudski, Staatspräsident von 1918 bis 1922 und Ministerpräsident von 1926 bis 1928. Sein Ziel war es, Warschau zum Brückenkopf einer Koalition nichtrussischer Nationen von der Ostsee bis zum Kaspischen Meer zu machen.

Diese Strategie lebte in den 1990er Jahren wieder auf10 und begründete sowohl die Orientierung der polnischen Außenpolitik auf die USA als auch die Vorstellung einer „Partnerschaft des Ostens“. Die Rückkehr zur Realpolitik zeigt zweifellos, dass der ermattete polnische Prometheus diese geschichtliche Epoche hinter sich gelassen hat. Jedenfalls zunächst.

Fußnoten: 1 Falls nicht anders vermerkt, stammen alle Zitate aus Interviews oder von der Website des polnischen Außenministers. 2 In und nach dem Aufstand starben 200 000 Menschen. Heute argumentieren einige Historiker, der Aufstand habe zu früh begonnen. Nach dieser Darstellung wollte die polnische „Heimatarmee“ dem Vorstoß der Roten Armee zuvorkommen. 3 Erst 1990 gab Moskau zu, dass der NKDW im Frühjahr 1940 mehrere tausend polnische Offiziere im Lager Katyn (bei Smolensk) exekutiert hat 4 faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/eu-gipfeltreffen-verlangen-nur-das-was-man-uns-nahm-1437984.html, 21. Juni 2007. 5 Siehe Süddeutsche Zeitung, 6. Oktober 2011. 6 Siehe Christian Semler, „Danke für die Tränen. Polen erlebt einen emotionalen Wahlkampf“, Le Monde diplomatique, Juni 2010. 7 Zitiert nach: www.welt.de/debatte/kommentare/article13741449/Am-Rande-des-Abgrunds-muss-Deutschland-fuehren.html. 8 In Litauen leben 250 000 Polen, die für die Rückgabe ihrer von der UdSSR konfiszierten Vermögen und den Gebrauch ihrer Muttersprache kämpfen. 9 Diese sieht die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre vor, das heute für Männer bei 65, für Frauen bei 60 Jahren liegt. 10 Konserviert und weiterentwickelt wurde diese Theorie in der Pariser Exilzeitschrift Kultura um Jerzy Giedroyc und Juliusz Mieroszewski. Aus dem Französischen von Konrad Petrovszky Dominique Vidal ist Historiker und Journalist und Herausgeber (zusammen mit Bertrand Badie) der fortlaufend erscheinenden „Encyclopédie de L’Etat du monde“ (La Découverte).

Was wann geschah

August 1980 Ein Streik auf der Danziger Leninwerft führt zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc, die sich zu einer nationalen Oppositionsbewegung entwickelt.

Dezember 1981 General Jaruzelski verhängt das Kriegsrecht.

Februar–April 1989 Verhandlungen am „runden Tisch“ zwischen Regierung und Opposition führen zur staatlichen Anerkennung der Solidarnosc.

4. Juni 1989 Die ersten weitgehend freien Wahlen enden mit einem überwältigenden Sieg der Solidarnosc.

November 1990 Im deutsch-polnischen Grenzvertrag wird die Oder-Neiße-Grenze anerkannt.

März 1999 Polen tritt der Nato bei.

Mai 2004 Polen wird in die Europäische Union aufgenommen.

Dezember 2007 Polen tritt dem Schengenraum bei.

Parteien

PO Platforma Obywatelska: Bürgerplattform, Partei der Mitte, die zurzeit in Koalition mit der PSL die Regierung stellt. Die PO mit dem Spitzenkandidaten Donald Tusk gewann am 9. Oktober 2011 bei den Parlamentswahlen 39,2 Prozent der Wählerstimmen.

PSL Polskie Stronnictwo Ludowe: Polnische Bauernpartei (8,4 Prozent).

PiS Prawo i Sprawiedliwosc: Recht und Gerechtigkeit, Partei des rechten Spektrums mit nationalkonservativ-religiöser Ausrichtung (29,9 Prozent).

SLD Sojusz Lewicy Demokratycznej: Bündnis der demokratischen Linken; erst neokommunistische, dann sozialdemokratische Partei (8,2 Prozent).

Palikot-Bewegung Ruch Palikota: Benannt nach ihrem Gründer und Vorsitzenden; neue Partei des linken Spektrums, laizistisch und ökologisch ausgerichtet (10 Prozent).

Le Monde diplomatique vom 14.12.2012, von Dominique Vidal