14.12.2012

Europas Preis und Ehre

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Europas Preis und Ehre

von Perry Anderson

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Gabriel García Márquez pflegte im Hinblick auf Friedensnobelpreisträger vom Schlage eines Henry Kissinger, Menachem Begin oder Barack Obama anzumerken, dass man besser vom Kriegsnobelpreis sprechen sollte. Die Verleihung des Preises für 2012 ist zwar weniger bellizistisch ausgefallen, reizt aber zu ähnlich spöttischen Bemerkungen. Da die Auszeichnung dieses Jahr der Europäischen Union zugefallen ist, könnte man sie ohne Weiteres in Nobelpreis für Narzissmus umbenennen. Und für nächstes Jahr darf man hoffen, dass das Osloer Komitee so redlich ist, den Friedensnobelpreis an sich selbst zu verleihen.

Die ehrenvolle Auszeichnung für Brüssel und Straßburg kommt immerhin zum richtigen Zeitpunkt. In den Jahren nach der Jahrtausendwende erreichte die Selbstgefälligkeit der EU neue Spitzenwerte. Damals hielt sich ganz Europa zugute, dass die Union ein „Vorbild“ für die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Menschheit sei (um eine Formulierung des britischen Historikers Tony Judt zu zitieren, die sich einige Großmeister der europäischen Weisheit zu eigen gemacht haben).

Die tiefen Wunden, die sich die Eurozone in den Krisenjahren seit 2009 zugezogen hat, sind ein grausamer Kommentar zu diesen selbstgefälligen Ergüssen. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass damit jetzt Schluss ist, aber das wäre etwas voreilig, wie sich an einem illustren Beispiel zeigen lässt. Jürgen Habermas hat (drei Jahre nach seinem Buch „Ach, Europa“) eine Sammlung von Texten „Zur Verfassung Europas“ publiziert.1 Der zentrale Essay trägt den Titel „Die Krise der Europäischen Union im Licht einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts“2 und ist ein bemerkenswertes Beispiel intellektueller Selbstbespiegelung. Die rund sechzig Seiten enthalten fast hundert Fußnoten, die zu drei Vierteln auf deutsche Literatur verweisen (davon fast zur Hälfte Texte von drei Mitarbeitern oder Habermas selbst). Darüber hinaus werden nur angloamerikanische Autoren zitiert, vorneweg der britische Habermas-Bewunderer David Held.3 Andere europäische Intellektuelle haben in diesem Dokument provinzieller geistiger Selbstbeschränkung keinen Platz.

Noch fassungsloser macht der Inhalt des Essays. 2008 hatte Habermas den Lissabon-Vertrag noch mit dem Argument attackiert, dieser beseitige weder das Demokratiedefizit der EU noch entwerfe er einen moralisch-politischen Horizont für die Union. Mit dem Vertrag werde daher das bestehende Gefälle zwischen politischen Eliten und Bürgern eher zementiert, während „der Weg zu einer Entscheidung über die künftige Gestalt Europas“ verbaut sei. Deshalb schlug Habermas damals ein gesamteuropäisches Referendum vor, um eine soziale und fiskalische Harmonisierung der Union sowie eine militärische Kapazität und – vor allem – das Amt eines in Direktwahl zu bestimmenden Präsidenten zu beschließen. Nur so könne man den Kontinent vor einer Zukunft „im Sinne der neoliberalen Orthodoxie“ bewahren.

Dass sich Habermas für eine demokratische Bekundung des Volkswillens begeisterte, kam mir schon damals merkwürdig vor. Schließlich hatte er sich in seinem eigenen Land nie für plebiszitäre Verfahren starkgemacht. Deshalb glaubte ich auch, dass er sich mit dem Lissabon-Vertrag nach dessen Verabschiedung bestimmt abfinden würde.4

Aber Habermas hat diese Vorahnung noch übertroffen und den Vertrag lauthals gefeiert. Der war für ihn nun nicht mehr ein Instrument zur Zementierung des Abstands zwischen Eliten und Bürgern, sondern eine Charta für einen historisch einmaligen Aufbruch in Richtung Freiheit des Menschen; ein Dokument, das die europäische Souveränität auf eine doppelte Grundlage, nämlich die der Bürger und die der Völker (aber nicht der Staaten!) stelle; ein leuchtendes Vorbild für ein künftiges Weltparlament.

Der Lissabon-Vertrag sei der Durchbruch zu einem „zivilisierenden Prozess“, der die Beziehungen zwischen den Staaten befrieden und den Einsatz militärischer Mittel auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen beschränken könne. Er sprenge also den Weg frei, auf dem die heutige, unvollkommene „internationale Gemeinschaft“ zur „kosmopolitischen Gemeinschaft“ von morgen voranschreiten könne: zu einer „Weltbürgergemeinschaft“, die die ganze Menschheit in sich vereint.

Mit derart ungebremster Begeisterung hat der europäische Narzissmus der letzten zwanzig Jahre einen neuen Gipfel erreicht. Wobei vor lauter Selbstbegeisterung ein paar Kleinigkeiten übersehen werden. Erstens: Im Lissabon-Vertrag ist nicht von den Völkern, sondern von den Staaten Europas die Rede. Zweitens: Der Vertrag wurde durchgedrückt, um den Willen des Volkes zu umgehen, der sich zuvor in drei Referenden artikuliert hatte. Drittens: Die in dem Vertrag festgelegte Struktur stößt bei den ihr unterworfenen europäischen „Bürgern“ auf breites Misstrauen. Viertens: Die in Lissabon beschlossene Union ist kein Hort der Menschenrechte, sondern sie duldet insgeheim Okkupation und Folter.

Doch steht ein einziger Geist nie für die Zukunft eines ganzen Kontinents. Mittlerweile ist Habermas, mit Europa-Preisen behängt wie die Ordensbrust eines Sowjetgenerals in der Breschnew-Ära, zum Opfer seiner eigenen Berühmtheit geworden: Verkapselt in einer geistigen Welt, die fast nur noch von Jüngern und Bewundern bevölkert ist, scheint er sich immer weniger mit Positionen auseinandersetzen zu können, die mehr als ein paar Millimeter von seiner eigenen entfernt sind.

Habermas wird häufig als der Kant unserer Tage gerühmt. Dabei läuft er Gefahr, ein moderner Leibniz zu werden. Einer, der mit unbeirrbarem Euphemismus eine Theodizee konstruiert, der zufolge selbst noch das Übel der entfesselten Finanzmärkte einen segensreichen Beitrag zur kosmopolitischen Erweckung leistet. Und wonach der Westen den Weg freiräumt, der zu Demokratie und Menschenrechten führt und im Paradies einer universalen Legitimität endet. Habermas mag – aufgrund seiner Prominenz wie deren Missbrauch – ein Sonderfall sein. Doch die Angewohnheit, Europa als Magnetpol für die ganze Welt zu sehen, ohne allzu viel über das tatsächliche kulturelle und politische Leben in Europa zu wissen, ist nach wie vor verbreitet und wird wohl auch die Krise der europäischen Gemeinschaftswährung überleben.

Wie sehr diese Krise die Union ins Chaos gestürzt hat, muss hier nicht eigens betont werden. Europa erlebt derzeit die tiefste und längste Rezession seit 1945. Um deren Triebkräfte zu verstehen, muss man die tiefere Dynamik erfassen, die in der Krise der Eurozone zum Ausdruck kommt. Vereinfacht ausgedrückt geht diese Krise auf zwei sich überschneidende, fatale Entwicklungen zurück.

Die erste ist die Implosion des fiktiven Kapitals, das die Märkte der industrialisierten Welt während des letzten langen Zyklus des Finanzmarktkapitalismus in Gang gehalten hat. Dieser Zyklus begann in den 1980er Jahren, als die Profitraten in der Realwirtschaft unter dem Druck der internationalen Konkurrenz sanken und das Wirtschaftswachstum ständig langsamer wurde.5 Er ging einher mit einer enormen Zunahme der privaten und öffentlichen Schulden, was zum einen die Profitraten wieder in die Höhe getrieben, zum anderen die auf Wählerzustimmung angewiesenen politischen Systeme stabilisiert hat.6 Die wirtschaftliche Entwicklung der USA veranschaulicht diesen Verlauf in exemplarischer Klarheit, aber nach dieser Logik funktioniert das gesamte kapitalistische System.

In Europa kam allerdings noch eine andere Logik ins Spiel – angestoßen durch die deutsche Wiedervereinigung und die Struktur der Europäischen Währungsunion. Letztere wurde durch den Stabilitätspakt (mit den Maastricht-Kriterien) abgerundet, der wie die Europäische Währungsunion auf die Bedürfnisse der Deutschen zugeschnitten war. Die Aufsicht über die gemeinsame Währung wurde einer Zentralbank übertragen, die weder dem Willen der Wähler noch der Regierungen verpflichtet war, sondern ausschließlich dem Ziel der Preisstabilität diente.7 Dominiert wurde die neue Währungszone durch die größte Volkswirtschaft, die dank der Osterweiterung ein großes Reservoir billiger Arbeitskräfte vor der Haustür hatte.

Die Kosten für die Wiedervereinigung waren allerdings so hoch, dass sie das deutsche Wirtschaftswachstum abbremsten. Um wieder aufzuholen, erzwang das deutsche Kapital eine beispiellose Absenkung des Lohnniveaus, die die Gewerkschaften angesichts der drohenden Abwanderung von Arbeitsplätzen nach Osten abnickten.

Für die Südeuropäer hatte diese Entwicklung voraussehbare Folgen. Dank sinkender Arbeitskosten und steigender Produktivität wurde die deutsche Exportindustrie wettbewerbsfähiger als je zuvor und eroberte immer größere Marktanteile der Eurozone. Die logische Folge war, dass die peripheren Euroländer entsprechend an Konkurrenzfähigkeit einbüßten. Doch die wurden betäubt durch den Zufluss von billigem Kapital – dank Kreditzinsen, die im gesamten Euroraum auf etwa demselben Niveau gehalten wurden.

Als dann die von den USA ausgehende internationale Finanzmarktkrise auf Europa übergriff, waren die peripheren Euroländer nicht mehr in der Lage, die Schulden zu tragen – in mehreren Ländern drohte der Staatsbankrott. Dagegen gelang es in den USA, dank massiver staatlicher Bail-out-Programme den Zusammenbruch insolventer Banken, Versicherungskonzerne und Unternehmen zu verhindern. Zudem konnte die US-Notenbank die Geldpresse anwerfen und so den Rückgang der Konsumnachfrage abfangen.

Einer solchen kurzfristigen Krisenstrategie standen in der Eurozone zwei Hindernisse entgegen. Zum einen darf die Europäische Zentralbank laut Satzung keine Schuldtitel der Mitgliedstaaten kaufen. Vor allem aber ist die Eurozone keine „Schicksalsgemeinschaft“, wie sie Max Weber zufolge eine Nation konstituiert. Regierende und Regierte sind also nicht zu einer gemeinsamen politischen Ordnung aneinander gebunden, in der die Regierenden einen hohen Preis bezahlen, wenn sie die grundlegenden Bedürfnisse der Regierten missachten. Das pseudoföderalistische Konstrukt EU kennt nun mal keine „Transferunion“ nach dem Vorbild der USA.

Als die Krise da war, ließ sich der Zusammenhalt in der Eurozone nicht mehr über gemeinsame Sozialausgaben herstellen, sondern nur auf dem Weg des politischen Diktats. Und zwar durch Deutschland, das an der Spitze eines Blocks kleinerer Nordstaaten den peripheren Ländern, die ihre Konkurrenzfähigkeit nicht mehr durch Abwertung verbessern konnten, harte Austeritätsprogramme aufnötigte.

Unter dem Druck dieser Sparprogramme, die für deutsche Bürger völlig unzumutbar wären, fielen die Regierungen in den schwächeren Staaten wie die Kegel, und zwar auf unterschiedliche Weise: In Irland, Portugal und Spanien, wo ohnehin Wahlen anstanden, wurden sie aus dem Amt gefegt – woraufhin die neuen Regierungen noch härtere Varianten derselben Rezeptur beschließen mussten. Dagegen war das Technokratenkabinett Monti in Italien – vom Parlament gewählt, ohne dass das Volk zu den Urnen gerufen wurde – das Resultat inneren Machtzerfalls und äußerer Einmischung. Und Griechenland wurde durch das von Berlin, Paris und Brüssel auferlegte Troika-Regime auf einen Status reduziert, der an das Österreich des Jahres 1922 erinnert: Damals hatte die Entente aus Frankreich, Großbritannien und Italien unter der Flagge des Völkerbunds einen Hochkommissar nach Wien gesandt, der das Land nach dem Willen der Siegermächte dirigierte.8

Die den Schuldenstaaten verordneten Rezepte, die das Vertrauen der Finanzmärkte in die jeweiligen Aufseher-Regierungen wiederherstellen sollten, waren eine Mixtur aus Zusammenstreichen von Sozialausgaben, Deregulierung von Märkten und Privatisierungen – das neoliberale Standardrepertoire, ergänzt durch erhöhten Druck auf Steuerzahler und Steuerhinterzieher. Um diese Programme festzuklopfen, setzten Deutschland und Frankreich durch, dass die Schuldenbremse in die nationalen Verfassungen aller 17 Staaten der Eurozone aufgenommen wird – eine Idee, die in den USA höchstens etwas für rechte Spinner wäre.

Die Patentrezepte von 2011 und 2012 werden die Krankheiten der Eurozone nicht kurieren. Die Zinsen der Staatspapiere werden nicht auf das Vorkrisenniveau zurückgehen. Und die Schulden haben sich keinesfalls nur im öffentlichen Sektor angesammelt. Experten schätzen, dass die ungesicherten Verbindlichkeiten der Banken sich auf 1,3 Billionen Euro summieren. Die Probleme sind gravierender, die Heilmittel schwächer, die Sanktionsmechanismen unzuverlässiger, als man es von offizieller Seite zugeben kann. Während immer deutlicher wird, dass sich das Gespenst des Staatsbankrotts so nicht verscheuchen lässt, sinkt gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die von Merkel und Sarkozy zusammengeschusterten Krücken und Bandagen lange halten werden. Dabei ist klar, dass Deutsche und Franzosen vom ersten Tag der Krise an keine gleichberechtigten Partner waren.9

Deutsche Hegemonie und französische Konformität

Deutschland ist nicht nur der Staat, der mehr als die anderen Euroländer für die Eurokrise verantwortlich ist, indem es ein System durchgesetzt hat, das Lohnsenkungen im eigenen Lande mit erleichterter Kapitalaufnahme für das Ausland verbindet. Deutschland ist auch die Hauptkraft bei den Bemühungen, die Kosten der Krise den Schwächsten aufzubürden. In diesem Sinne ist offenbar die Stunde für eine neue europäische Hegemonialmacht gekommen.

Da ist es kein Zufall, dass im Januar 2012 das erste offene Manifest zur Begründung deutscher Vormachtansprüche innerhalb der EU publiziert wurde. „Hegemon wider Willen“ lautet der Titel eines Essays, den Christoph Schönberger für den Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, verfasst hat. Für den Konstanzer Staatsrechtler hat die Art von Hegemonie, zu der Deutschland in Europa bestimmt ist, nichts mit dem „diffusen Schlagwort eines antiimperialistischen Diskurses à la Gramsci“ zu tun. Schönberger operiert vielmehr mit dem „verfassungsrechtlichen Begriff für ein Phänomen, das nicht selten in föderativen, bündischen Systemen auftritt“. Zur Hegemonialmacht in diesem Sinne werden bestimmte Staaten, die „durch Größe, Macht und Einfluss herausragen und formell wie informell eine besondere Führungsfunktion ausüben können“. Als klassisches Beispiel nennt er die Hegemonie Preußens im Deutschen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts.10

Die EU ist ein „bündisches System“ im Sinne Schönbergers: Eine im Kern intergouvernementale Vereinigung, deren Willensbildung sich über das „unanschauliche Verhandlungssystem der Brüsseler Räte“ vollzieht. Dieses System „bedarf für sein geräuschloses Funktionieren im Alltag geradezu einer gewissen Öffentlichkeitsferne“, und man muss schon Utopist sein, um ausgerechnet in diesem Europa „die blaue Blume der Demokratie … jenseits aller institutionellen Erdenreste“ finden zu wollen.

Da die im Europäischen Rat vertretenen Staaten nach „Größe, Macht und Einfluss“ sehr verschieden sind, wäre es eine völlig unrealistische Annahme, dass sie an der Koordinierung ihrer Interessen gleichberechtigt mitwirken. Wenn die Union funktionieren soll, muss Deutschland – laut Schönberger heute „unübersehbar der stärkste Mitgliedstaat“ – für deren Zusammenhalt und Orientierung sorgen. Europa brauche die deutsche Hegemonie, und die Deutschen müssten ihre Scheu überwinden, sie auch auszuüben.

Frankreichs Machtinsignien, der ständige Sitz im Weltsicherheitsrat und seine Atomwaffen, seien „nicht länger von prägender Bedeutung“. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich erinnert den Autor an das Verhältnis, das Bismarck nach 1871 zu Bayern gepflegt hat: „Bismarck achtete sorgfältig darauf, Bayern durch symbolische Auszeichnung und bürokratische Abstimmung an der Seite Preußens zu halten.“ Entsprechend ließen sich heute durch Absprachen mit Paris deutsche Vorstellungen „leichter durchsetzen“.

Ob Frankreich sich ohne Weiteres auf den Status von Bayern im Zweiten Reich degradieren lässt, bleibt abzuwarten. Auch in Paris ist der Spruch von Bismarck bekannt, dass die Bayern „der Übergang vom Österreicher zum Menschen“ seien. Der Vergleich mit den Bayern war unter Sarkozy, der sich meist auf die Linie Berlins festnageln ließ, vielleicht nicht völlig abwegig. Vermutlich wäre jedoch eine aktuellere Parallele angemessener: Die Ängstlichkeit, mit der die politische Klasse Frankreichs heute darauf bedacht ist, sich innerhalb der Union nie allzu sehr von den deutschen Positionen zu entfernen, erinnert zunehmend an die special relationship zwischen London und Washington, in der sich Großbritannien verzweifelt an die Rolle des Flügeladjutanten der USA im westlichen Bündnis geklammert hat.

Man mag sich fragen, wie lange die freiwillige Unterordnung Frankreichs wohl andauern wird. Auftrumpfende Sprüche wie die von CDU-Generalsekretär Kauder („Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“) produzieren jedenfalls mehr Ressentiment als Zustimmung. Allerdings ist die politische Klasse nirgendwo in der EU so einhellig konformistisch in ihren Ansichten wie in Frankreich, was zu einem Gutteil von der massiven Verzerrung des Wählerwillens durch das französische Wahlsystem herrührt). Wer also erwartet, dass Präsident Hollande nach Sarkozy eine neue ökonomische und strategische Unabhängigkeit anstreben wird, der setzt auf den Sieg der Hoffnung über die Erfahrung. Hinzu kommt, dass in Frankreich (wiederum wegen des Wahlsystems) die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und offiziellen Bekundungen regelmäßig weit tiefer ist als in anderen EU-Ländern.

François Hollande ist auf ganz ähnliche Weise an die Macht gekommen wie Mariano Rajoy in Spanien: ohne große Erwartungen der Wähler, als die einzig mögliche Alternative. Deshalb könnte er, sobald er auf einen Sparkurs einschwenkt, schnell genauso geschwächt dastehen wie sein spanischer Kollege. Im neoliberalen System der EU, in dem Hollande als lokaler Statthalter fungiert, ist es zu größeren Massenunruhen bislang nur in Griechenland gekommen (während wir in Spanien erst ein Vorbeben erlebt haben). In den anderen Ländern hat das Volk noch nicht gegen die Eliten aufgemuckt. Nacktes Elend führt freilich nicht automatisch zu einer sozialen Explosion. Es kann die Massen auch abstumpfen, wie wir es in Russland während der Jelzin-Ära erlebt haben.

Doch die Menschen in der EU sind nicht so geduckt. Sollte sich ihre Lage dramatisch verschlechtern, könnte die Explosion schneller kommen, als wir denken. Denn hinter allen Szenarien lauert eine düstere Tatsache: Das Wirtschaftswachstum wird sich abschwächen, selbst wenn die Eurokrise – was sehr unwahrscheinlich ist – ohne gepfefferte Einschnitte bei den Sozialausgaben überwunden werden kann.

Fußnoten: 1 Jürgen Habermas, „Zur Verfassung Europas. Ein Essay“, Berlin (Suhrkamp) 2011. 2 Der Text basiert auf einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität vom 16. Juni 2011 und erschien zuerst in: Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2011. 3 Held war Kodirektor des Center for the Study of Global Governance an der London School of Economics (LSE), musste diesen Posten aber im Oktober 2011 aufgeben, weil er die Finanzierung des Zentrums durch die Gaddafi-Stiftung organisiert hatte. Zuvor hatte der Gaddafi-Sohn Saif al-Islam an der LSE den Ph.D.-Titel mit einer Arbeit erworben, die er nicht selbst verfasst hatte. 4 Perry Anderson, „Depicting Europe“, London Review of Books, 20. September 2007. 5 Zu den Mechanismen der Wachstumsverlangsamung siehe: Robert P. Brenner, „The Economics of Global Turbulence: The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945–2005“, New York (Verso) 2006 (Erstausgabe 1998). 6 Siehe Wolfgang Streeck, „The Crises of Democratic Capitalism“. In: New Left Review, Nr. 71, 2011; ein Auszug auf Deutsch in: Lettre International 95 (Winter 2011). 7 Damit orientierte sich das EZB-Modell an der Theorie des liberalen Vordenkers Friedrich Hayek. 8 Siehe Peter Huber, „Kredit oder Untergang: Als Österreich vor der Pleite stand“, in: Die Presse, Wien, 14. November 2011. Der Titel spielt auf ein Zitat aus der Neuen Freien Presse vom 6. Oktober 1922 an: „Kredit oder Untergang, das ist leider die einzige Alternative.“ 9 Schon vor der Krise habe ich geschrieben, dass die Deutschen ein „neues und berechtigtes Selbstbewusstsein“ entwickeln und der Rolle einer regionalen Großmacht auf Dauer nicht abgeneigt sind. Siehe dazu: „Ein neues Deutschland? Die Bundesrepublik 20 Jahre nach dem Mauerfall“, in: Mittelweg 36, August/September 2009, S. 3–40. 10 Schönberger beruft sich dabei auf den deutschen Staatsrechtler Heinrich Triepel und dessen Buch: „Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten“, Stuttgart (Kohlhammer) 1938. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Perry Anderson ist Historiker und war lange Jahre Herausgeber der New Left Review. Zuletzt erschien von ihm ins Deutsche übersetzt: „Eine verspätete Begegnung. Geschichte meines Vaters in China 1914–1941“, Berlin (Berenberg) 2010.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2012, von Perry Anderson