Wiedersehen in Fukushima
von Agnès Sinai
Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO, englisch IAEA) hat ihren Sitz in Österreich. Das Internationale Zentrum Wien ist ein gigantischer, mit Stacheldraht umzäunter UN-Komplex, der in den 1970er Jahren zwischen Donau, Hochbahn und einem Autobahnkreuz errichtet wurde. In einem flachen, teilweise fensterlosen Konferenzbau berieten sich vor drei Monaten Politiker und Experten über das Thema „Schutz vor extremen Erdbeben und Tsunamis nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi“.
Vor dem diplomatischen Corps und einem kleinen Heer angereister Experten begrüßte der Japaner Yukiya Amano, seit 2009 Generaldirektor der IAEO, die Delegierten aus den 153 Mitgliedstaaten. Im Vorfeld hatten viele Minister, Beamte der nationalen Atombehörden, Vertreter der Atomindustrie und Strahlenschutzexperten ihre Sorge geäußert, dass der Unfall in Japan den neuen Aufstieg bremsen könnte, den die Atomenergie seit der Jahrtausendwende genommen hat. Jetzt erklärte Amano ganz unbeirrt, man stehe am Beginn „einer neuen Ära“, in der die IAEO die Sicherheitskriterien für Atomkraftwerke verschärfen und international durchsetzen werde.
Die Organisation hatte seit der Katastrophe vom Juni 2011 eine Reihe von beschwichtigenden Pressemitteilungen zur Lage in den sechs Reaktoren des AKWs Fukushima veröffentlicht, die sämtlich auf Informationen des Kraftwerkbetreibers Tepco (Tokyo Electric Power Company) und der japanischen Atomaufsichtsbehörde Nisa (Nuclear and Industrial Safety Agency) beruhten.
Einerseits Überwachung, andererseits Förderung der Atomenergie – diese paradoxe Mixtur ist die politische Essenz der Internationalen Atomenergiebehörde.
Ziel der Organisation ist es nach Artikel 2 ihres Statuts, „in der ganzen Welt den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum Wohlstand zu beschleunigen und zu steigern. Die Organisation sorgt im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür, dass die von ihr oder auf ihr Ersuchen oder unter ihrer Überwachung oder Kontrolle geleistete Hilfe nicht zur Förderung militärischer Zwecke benutzt wird.“1
Der atomare Frieden
Die Besetzung der leitenden IAEO-Positionen orientiert sich an der Bedeutung der Atomwirtschaft der einzelnen Mitgliedsländer, wobei ein gewisses Rotationsprinzip eingehalten wird. Anstoß zur Gründung der Organisation gab die Rede „Atoms for Peace“, die US-Präsident Dwight Eisenhower vor der UN-Generalversammlung 1953 gehalten hat. Sein Schlüsselsatz lautete: „Die stärksten Zerstörungskräfte können in einen Segen für die Menschheit umgewandelt werden.“
„Atoms for Peace“, die friedliche Nutzung der Atomenergie, wurde zum Slogan der IAEO, mit dem man die Schrecken der Bomben von Hiroshima und Nagasaki vergessen machen wollte. Das setzte freilich voraus, dass sich militärische und zivile Nutzung der Atomenergie voneinander trennen lassen. Joseph Rotblat, der einzige Physiker, der sich bereits vor der Zerstörung Hiroshimas im August 1945 aus dem Manhattan-Projekt, dem Forschungsprogramm zur Entwicklung der ersten Atombombe, zurückgezogen hatte, warnte jedoch: „Die inhärente Verbindung der friedlichen und militärischen Aspekte der Kernenergie und die Tatsache, dass es unmöglich ist, aus einem mit Uran arbeitenden Reaktor Strom zu gewinnen, ohne zugleich Plutonium und damit Material für Atomwaffen zu erzeugen, bedeutet letzten Endes, dass entweder die Zivilisation zerstört wird oder man die auf Kernspaltung beruhende Atomenergie aufgeben muss.“2
Die IAEO wurde 1957 gegründet. Damals träumten die Ingenieure von einer Energiequelle, die so reichlich sprudelt, dass sie „too cheap to meter“ sei: zu billig, als dass sich Stromzähler noch lohnen würden. Die Utopie des Atomzeitalters schien zum Greifen nahe. Der IAEO wurde die Aufgabe übertragen, alle Nationen an der segensreichen neuen Energie teilhaben zu lassen, zugleich aber die globale Abrüstung zu überwachen.
Der Gesamtetat der Organisation belief sich 2012 auf 333 Millionen Euro, das entspricht den Ausgaben der Stadt Wien für ihre Polizei. Da bleibt natürlich zu wenig Geld für die Aufgabe, über die Weitergabe spaltbaren Materials zu wachen. Für die gibt es auch nur 250 Inspektoren – bei einem Gesamtpersonal von 2 200 Leuten –, die zudem nicht nur für die Nuklearkontrolle zuständig sind. Diese finanziellen und personellen Mittel stehen in keinem Verhältnis zu den Aufgaben: Die IAEO muss sich über den Zustand von 429 aktiven und 145 stillgelegten Reaktoren in 31 Ländern informieren3 und etwa 42,2 Millionen Kubikmeter radioaktive Abfälle (davon 338 000 Kubikmeter hochradioaktiv4 ) in den Kraftwerks- und Zwischenlagern aller Atomstaaten5 überwachen.
Theoretisch legt die IAEO die internationalen Normen für die Strahlensicherheit fest, soll also Menschen vor Radioaktivität schützen, Unfälle verhüten und Notfallpläne aufstellen. Aber da sie laut Satzung von ihren Mitgliedstaaten abhängig ist, muss sie in der Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen. Zudem ist kaum zu erwarten, dass sich ausgerechnet Atombefürworter für Transparenz und eine angemessene Information der Öffentlichkeit einsetzen.
Von der Organisation wird zwar stets betont, dass die für die Sicherheit der Atomanlagen zuständigen Inspektoren unabhängig seien, aber es liegt auf der Hand, dass Kontrolleure und Kontrollierte innerhalb des IAEO-Sicherheitskonzepts eng zusammenarbeiten. So sieht es offenbar auch der stellvertretende US-Energieminister Daniel Poneman: „Die Atomkraftwerksbetreiber und die internationale Atomindustrie werden bei der Vorbeugung und Behandlung von Unfällen weiterhin eine zentrale Rolle spielen.“6
Im Gefüge der Vereinten Nationen stellt die IAEO eine Ausnahme dar. Keine andere UN-Organisation unterstützt eine Industrie, von der sie zugleich so stark abhängig ist. Deshalb dominieren bei der Entwicklung der Vorschriften zur Überwachung der Atomenergie häufig wirtschaftliche Aspekte, damit die Regeln nicht die Absatzchancen der Reaktorindustrie beeinträchtigen. Entscheidend ist dabei auch, dass nur Staaten mit „fortschrittlichster Atomtechnologie“ Mitglied im Gouverneursrat werden.
Das begünstigt insbesondere den Atomstaat Frankreich. So ist der französische Atomexperte Denis Flory für die Abteilung für Reaktorsicherheit verantwortlich. Seine Partner aufseiten der Industrie sind ebenfalls Landsleute: An der Spitze des Weltverbands der Atomkraftwerksbetreiber (WANO) steht Laurent Stricker, der beim französischen Stromkonzern EDF Karriere gemacht hat. Und André-Claude Lacoste, bis vor Kurzem Präsident der ASN in Paris, hat den Vorsitz bei der Western European Nuclear Regulator’s Association (Wenra), dem Beratungsgremium der westeuropäischen Aufsichts- und Genehmigungsbehörden.
Eisaku Sato, der ehemalige Präfekt der Region Fukushima, hat über eine solche Organisationsform seine eigene Meinung: „Die Förderer der Atomenergie und ihre Kontrolleure sitzen im derselben Behörde. Für mich ist das eine Organisation, bei der Diebe und Polizisten zusammenarbeiten.“ Vermutlich ist das der Grund, weshalb im Juni 2012 Gregory Jaczko, damals Leiter der US-Reaktorsicherheitsbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC), auf der Ministerkonferenz der IAEO verkünden konnte, dass kein einziges der 104 US-amerikanischen Atomkraftwerke bei der jüngsten Sicherheitsprüfung durchgefallen sei. Der kalifornische Reaktor Diablo Canyon, der immerhin auf einer riesigen geologischen Verwerfungszone steht, sei laut Jaczko sogar besonders lobend erwähnt worden.
Anders lässt sich auch nicht verstehen, warum die Stresstests der europäischen Atomkraftwerke von den nationalen Aufsichtsbehörden durchgeführt wurden, die sich in der atomindustrienahen Wenra organisiert haben, und nicht etwa von einem Gremium unabhängiger europäischer Experten. In der Praxis werden die Sicherheitsregeln also nach Bedarf gestrickt, in einem Zirkel der Selbstbestätigung, um dann von der IAEO abgesegnet zu werden.
Die allgemeine Devise, durchgehalten von Tschernobyl bis Fukushima, lautet schlicht: Die Katastrophen werden auf die besondere Situation im jeweiligen Land zurückgeführt und die strukturellen Probleme, die darin sichtbar werden, unter den Teppich gekehrt. Tschernobyl 1986 konnte sich demnach nur im Ostblock ereignen, und Fukushima hatte einfach das Pech, 2012 einem Tsunami im Weg zu stehen.
Die IAEO arbeitet auch eng mit der Gruppe der nuklearen Lieferländer (Nuclear Suppliers Group, NSG) zusammen, einem exklusivem Klub der Freunde der Atomenergie, dem die 46 wichtigsten Länder angehören, die spaltbares Material exportieren. Diese 1974 ins Leben gerufene informelle Gruppierung setzt selbst die Kriterien fest, nach denen Staaten Ausrüstung und Material für Atomanlagen exportieren dürfen. Damit soll die Verbreitung von Atomwaffen eingeschränkt werden. 2008 stimmte die Gruppe jedoch einer Ausnahme von ihren eigenen Regeln zu: Sie gestattete Indien den Import von Nukleartechnologie aufgrund eines Abkommens mit den USA, obgleich das Land den Atomwaffensperrvertrag (siehe Kasten) nicht unterzeichnet hat und damit die Sicherheitsmaßnahmen der IAEO nicht vollständig akzeptiert.
Mohamed ElBaradei, der damalige IAEO-Generaldirektor (und Friedensnobelpreisträger von 2005), war dennoch des Lobes voll: „Ich betrachte das Abkommen als Gewinn für beide Seiten: für die Entwicklung des Landes und für die Kernwaffenkontrolle. Es wird Indien den Zugang zur westlichen Nukleartechnologie und damit auch zu den neuesten Sicherheitstechniken eröffnen, und das ist ein wichtiger Aspekt, wenn man den großen Umfang des indischen Atomprogramms betrachtet. Obgleich dieses Abkommen nicht zwischen Mitgliedstaaten des Atomwaffensperrvertrags geschlossen wurde, wird es Indien an die Regeln zur Nichtverbreitung heranführen, da das Land Kontrollen der IAEO in seinen zivilen Atomanlagen zulässt und der Gruppe der nuklearen Lieferländer beitreten wird.“7 Das Abkommen erwies sich als höchst lukrativ für die Atomindustrie, besonders für Areva mit seinem Europäischen Druckwasserreaktor (EPR), für Toshiba und für General Electric.
Artikel IV des Atomwaffensperrvertrags garantiert das „unveräußerliche Recht“ der Mitgliedstaaten, die zivile Nutzung der Atomenergie weiterzuentwickeln: „Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.“ Als Garantin der friedlichen Nutzung der Kernenergie gerät die IAEO allerdings in eine zwiespältige Situation, denn sie ist zugleich Überwacherin – und unfreiwillige Komplizin – der weltweiten Verbreitung von Atomwaffen. Das Oak Ridge National Laboratory, das dem US-amerikanischen Energieministerium untersteht, hat aufgrund von eigenen Anreicherungssimulationen herausgefunden, dass jedes Land mit Atomkraftwerken heimlich ausreichend Plutonium abzweigen kann, um jenseits aller IAEO-Kontrollen eine Atombombe zu bauen.
Der Iran hat am 18. November 2011 sein erstes ziviles Atomkraftwerk eingeweiht, nachdem der 1975 begonnene Bau eines Reaktors in Buschehr durch den Krieg mit dem Irak (1980–1988) unterbrochen worden war. 1995 nahm die russische Atomindustriebehörde Rosatom die Zusammenarbeit mit dem Iran wieder auf: Zwischen beiden Staaten wurde unter Aufsicht der IAEO ein bilaterales Abkommen ausgehandelt.
Nach einer von WikiLeaks veröffentlichten Depesche der Wiener US-Botschaft vom 9. Juli 2011, unterzeichnet vom damaligen US-amerikanischen IAEO-Delegierten Geoffrey Pyatt, bezeichnete der heutige japanische Generaldirektor Yukiya Amano seinen Vorgänger, den Ägypter ElBaradei, als einen „Vermittler“ zwischen dem Iran und der IAEO, während er sich selbst als „unparteiisch“ einstufte und damit näher an die USA und Israel heranrückte. Im Gegenzug erwartete Amano von den USA eine stärkere finanzielle Unterstützung seiner Organisation.
In den letzten Monaten hat die IAEO ihre Pressearbeit zu den Verdachtsmomenten gegen den Iran verstärkt. In einer Pressemitteilung vom 22. Februar 2012 äußerte sich Amano „enttäuscht“ darüber, dass der Iran den IAEO-Kontrolleuren den Zugang zur Militäranlage Parchin verwehrt hatte. Diese neue Linie liefert der Medienoffensive gegen das iranische Regime und sein Atomprogramm frische Nahrung. Begleitet von der Leiterin der Presseabteilung, die unser Gespräch Wort für Wort abschreiben lässt, treffen wir einen Experten aus der Abteilung für Sicherheitsmaßnahmen, der anonym bleiben soll.
Die Organisation, erklärt der Experte, arbeite „in einem Graubereich, wo es sehr schwer ist, aus den immer größeren Datenmengen verlässliche Informationen herauszufiltern“. Allein im Jahre 2010 hat die IAEO-Abteilung für Nukleare Sicherheit 17 000 Berichte und Erklärungen verfasst, etwa 440 000 Geschäfte mit spaltbarem Material dokumentiert, hunderte Stichproben und 377 Satellitenbilder analysiert sowie 3 000 frei zugängliche Artikel veröffentlicht.8
Der Physiker Abdul Q. Khan war 1974 in sein Heimatland Pakistan zurückgekehrt. Dort hatte er der Regierung seine in den Niederlanden erworbenen Kenntnisse über das Gaszentrifugenverfahren zur Urananreicherung für den Bombenbau zur Verfügung gestellt. In der Folge baute er ein weltweites Schmuggelnetzwerk (ElBaradei nannte es „atomarer Supermarkt“) auf, über das sich Länder wie Libyen, der Iran und Nordkorea heimlich Zentrifugen beschaffen konnten. In der IAEO-Datenbank zu illegalen Nuklearexporten sind für den Zeitraum 1993 bis 2004 mehr als 650 Fälle des Schmuggels von Atomtechnik verzeichnet.
Trotz der wachsenden Bedrohung durch die unkontrollierte Verbreitung spaltbaren Materials konnte die IAEO keine Erweiterung ihres Mandats erreichen; ihr wurden lediglich neue Kompetenzen und Mittel wie etwa Zollkontrolleure zugestanden. Die Organisation fordert jetzt neue Finanzmittel, um in der Lage zu sein, Informationen zur Verfolgung der internationalen Nuklearmaterialhändler zu erwerben. Allerdings wird die Arbeit der Inspektoren vor Ort von den jeweiligen Staaten unter Verweis auf ihre Souveränität eingeschränkt. Nur der UN-Sicherheitsrat kann das Mandat der IAEO erweitern – was zwischenzeitlich für die Inspektionen im Iran auch geschehen ist.
In einem der y-förmigen Türme des Wiener Internationalen Zentrums sitzt der 1955 gegründete Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen über die Auswirkungen atomarer Strahlung (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR). Sein Vorsitzender Wolfgang Weiss vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz erklärt uns die Methode zur Risikobewertung radioaktiver Strahlung für die Gesundheit des Menschen. Die Strahlenbelastung biologischer Organismen wird in Sievert (Sv), benannt nach dem schwedischen Physiker Rolf Sievert, gemessen.
In Frankreich und Deutschland liegt die maximale Belastung für strahlenexponiertes Personal, etwa in der Atomindustrie oder der medizinischen Radiologie, bei 20 Millisievert (mSv) pro Jahr. In Deutschland darf man jedoch nicht mehr als 400 mSv über das gesamte Berufsleben hinweg abbekommen. In Notfällen kann die zulässige Belastung auf 100 mSv pro Jahr angehoben werden (in Fukushima wurde dieser Wert sogar auf 250 mSv hochgesetzt).
Für die übrige Bevölkerung liegt die Obergrenze bei einem mSv pro Jahr. Wolfgang Weiss meint jedoch, auch bei einer Jahresdosis bis 200 mSv bestehe kein ernsthaftes Risiko: „Wir glauben an eine lineare Korrelation zwischen Risiko und Strahlendosis, ohne Schwellenwert. 1 000 mSv pro Jahr bedeuten ein Krebsrisiko von 10 Prozent, 100 mSv demnach nur 1 Prozent Risiko. Das heißt, von 100 Arbeitern im Atomkraftwerk Fukushima, die einer Belastung von 100 mSv pro Jahr ausgesetzt waren, wird einer an Krebs erkranken.“ Wahrlich eine Rechnung von frappierender Schlichtheit.
UNSCEAR arbeitet daran, das Langzeitrisiko solcher „schwachen“ Dosen zu verringern. In seinem Bericht für 2008 über die Auswirkungen von Tschernobyl rechnete der Ausschuss vor, die Atomkatastrophe habe 6 000 Fälle von Schilddrüsenkrebs verursacht, von denen aber nur 15 tödlich verlaufen seien. Wolfgang Weiss erklärt, die Sterblichkeitsrate durch Krebs sei in der Gegend rund um Tschernobyl nicht höher als ohne den GAU. Von den 530 000 Liquidatoren9 , die an der Kraftwerksruine gearbeitet haben, sind laut UNSCEAR lediglich 28 durch überhöhte Strahlung gestorben.
Wissenschaftliche Resultate politisch angepasst
Im UNSCEAR sind insgesamt nur vier Angestellte mit Unterstützung auswärtiger Experten damit befasst, die Auswirkungen radioaktiver Strahlung zu verfolgen und epidemiologische Studien anzufertigen. Der vertraulich arbeitende Ausschuss wurde ursprünglich gegründet, um die Entwicklung des Gesundheitszustands der Bombenopfer von Hiroshima und Nagasaki statistisch zu erfassen. „Anhand dieser extrem starken Verstrahlung hat man die schädigende Wirkung in Millisievert errechnet, diese Werte sollen für eine dauerhafte Strahlenbelastung gelten. Für Atomkraftwerksunfälle sind solche Strahlenschutzwerte jedoch nicht angemessen, denn deren Auswirkungen halten länger an“, sagt Yves Marignac, der Leiter des unabhängigen Energie-Informationsdienstes WISE-Paris.
Für Marignacs folgt daraus, dass die Strahlenschutzexperten seit 50 Jahren die Langzeitfolgen dauerhafter Belastung unterschätzen: „Die internationale Gemeinschaft hätte sich mit dieser Frage befassen müssen, aber sie hat sich geweigert, weil ihr politischer Kurs mehrheitlich bereits feststand. Sie will um jeden Preis einen Paradigmenwechsel in der Bewertung des Dauerbelastungsrisikos vermeiden. Aber die Gesundheit der Menschen in den kontaminierten Gebieten verschlechtert sich. Welche Rolle spielt dabei die radioaktive Strahlung? Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat sich selbst um die Mittel gebracht, das herauszufinden.“
So fiel UNSCEAR die Aufgabe zu, die Studie über Strahlenschäden und künftige Auswirkungen radioaktiver Strahlung in Fukushima zu erarbeiten. Doch die Betroffenen müssen bis zur Publikation des Berichts im Mai 2013 warten, um ein Gesamtbild der Strahlenbelastung von Lebensmitteln zu gewinnen.
Der für Opfer von Atomkraftwerksunfällen und Atombomben lebenswichtige Strahlenschutz hängt also stark von der Forschung ab. Deren Anspruch auf Objektivität wird jedoch in Ausschüssen und Kommissionen aufgeweicht, die eine erkennbare Nähe zu Industrie und Atombehörden aufweisen.
Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) wurde 1928 gegründet, um Bestimmungen für die Radiologie zu treffen, und legt heute die Grenzwerte für die Bevölkerung und strahlenbelastetes Personal fest. Zu den Mitgliedern zählen wissenschaftliche Institutionen und Repräsentanten der Industrie wie etwa der russischen Atomindustriebehörde Rosatom, des französischen Atomenergiezentrums CEA oder der Energieversorger. Auch die japanischen Behörden ließen die Strahlenschutzwerte nach Fukushima durch die ICRP festsetzen. Das Ergebnis waren noch weit tolerantere Werte, als sie im Frühjahr 1986 in der UdSSR gegolten hatten.
Das in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ansässige Belrad-Institut für Strahlensicherheit kritisiert diese Unzulänglichkeiten. Nach seinen Beobachtungen leiden weißrussische Kinder an Herz-Kreislauf-Krankheiten, nachdem sie verseuchte Lebensmittel gegessen hatten, die mit 20 Becquerel pro Kilogramm belastet waren. Die nach dem französischen Physiker Henri Becquerel benannte Maßeinheit gibt an, wie viele Atomkerne in einem radioaktiven Stoff durchschnittlich pro Sekunde zerfallen und Strahlung erzeugen.
In Japan lag der Grenzwert ursprünglich bei etwa einem Becquerel pro Kilogramm, wurde aber nach der Fukushima-Katastrophe auf 500 Becquerel angehoben, und am 1. April 2012 wieder auf 100 Becquerel gesenkt. Demnach galten Reis und Gemüse zunächst als nicht kontaminiert, das heißt: Sie konnten dank des stark erhöhten Grenzwerts weiterhin verkauft werden.
All das geschah mit Billigung internationaler Behörden wie der IAEO und der Weltgesundheitsorganisation WHO, die durch ein Sonderabkommen von 1959 miteinander verkoppelt sind. Die Website independentwho.org macht dieses Abkommen dafür verantwortlich, dass die WHO die Folgen der Reaktorunfälle von Tschernobyl und auch von Fukushima verharmlost und nichts zur Abwehr der massiven gesundheitlichen Bedrohung für der Bevölkerung beigetragen hat. So wurden in den letzten 25 Jahren „in der kontaminierten Zone rund um Tschernobyl keine ernsthaften Maßnahmen zur sozialen und medizinischen Versorgung durchgeführt“. Und in den Atomstaaten insgesamt sind „nur wenige oder gar keine epidemiologischen Studien“ entstanden.10 Die offizielle Doktrin sorgt dafür, dass Informationen über Strahlungsrisiken systematisch verschleiert oder heruntergespielt werden. Und dass die Verantwortlichen für die Atomkatastrophen ungestraft davonkommen.
Atommüll
Die IAEO steht vor dem unlösbaren Problem der Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle: Die noch vorhandenen 435 aktiven Reaktoren in mehr als 200 Kraftwerken produzieren weiterhin abgebrannte Brennstäbe. Nach Angaben der IAEO bleibt der jährliche Ausstoß „ungefähr gleich“.1
Sämtliche weltweit in Abklingbecken gelagerten Brennelemente enthalten schätzungsweise 250 Tonnen Plutonium – das ist ebenso viel wie die militärischen Plutoniumvorräte auf dem ganzen Planeten, die ausreichen, um 50 000 Atomsprengköpfe zu bestücken.2
Ein Atomreaktor mit einer Leistung von 1 000 Megawatt produziert zwischen 230 und 260 Kilogramm Plutonium pro Jahr; für eine Waffe reichen bereits 5 Kilo. Ein Teil des abfallenden Plutoniums, das Isotop 239Pu mit einer Halbwertszeit (die Zeit, in der sich die Radioaktivität einer Substanz durch Zerfall halbiert) von 24 000 Jahren, wird in Mischoxid-Brennelementen (MOX) aus Uran- und Plutoniumdioxid wiederverwendet und in Leichtwasserreaktoren eingesetzt, wie etwa im Reaktorblock 3 von Fukushima oder im künftigen Europäischen Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville. In Deutschland kommen MOX-Brennelemente unter anderem in den AKWs Brokdorf und Gundremmingen zum Einsatz. Die hochgiftigen Brennstäbe werden unter anderem vom französischen Konzern Areva vertrieben. Bereits das Einatmen von 10 Milligramm MOX führt zum Tod.3
Offiziell dient die Fabrikation von MOX-Brennstäben dazu, die wachsenden Plutoniumbestände abzubauen. Vor allem handelt es sich aber um ein lukratives Geschäft für die Atomindustrie – unter Missachtung der Strahlenrisiken, denen das Personal bei der Herstellung und die Bevölkerung beim Transport ausgesetzt sind, denn der Brennstoff wird mit dem Zug quer durch Europa und per Schiff in Containern bis nach Japan gebracht. Zudem wächst durch diese Exportstrategie das Risiko, dass Plutonium abgezweigt und unterschlagen wird. 1994 hatten sich in Fernsteuerungskästen der japanischen MOX-Produktionsanlage Tokai jenseits aller Kontrollen 70 Kilogramm Plutonium angesammelt. Dasselbe Problem tauchte 2009 in der Anlage von Cadarache, Südfrankreich, auf, wo ebenfalls mehrere Dutzend Kilogramm Plutonium in den Kästen verblieben waren.
Atomwaffen
Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, bekannter unter dem Namen Atomwaffensperrvertrag (englisch Nuclear Non-Proliferation Treaty, NPT), wurde am 1. April 1968 unterzeichnet, mitten im Kalten Krieg. Er sollte die Verbreitung von Atomwaffen und Nukleartechnologie verhindern und die Mitglieder zur Abrüstung verpflichten, gestand aber zugleich allen Unterzeichnerstaaten das Recht zur friedlichen Nutzung der Atomenergie zu.
Der Vertrag unterscheidet zwischen Staaten, die Kernwaffen besitzen und weiterhin darüber verfügen dürfen (USA, Russland, Großbritannien, China und Frankreich), und Staaten, die keine Kernwaffen besitzen. In Artikel III des Vertrags wird festgehalten, dass Staaten, die nicht offiziell im Besitz von Atomwaffen sind, nur dann Nukleartechnik und -material erwerben dürfen, wenn die IAEO vor Ort prüfen darf, dass das jeweilige Atomprogramm ausschließlich friedlichen Zwecken dient.
Eine solche Unterscheidung ist völkerrechtlich einzigartig, da im Prinzip alle souveränen Staaten gleich behandelt werden müssen; sie ist jedoch laut Vertrag nicht endgültig. Viele Nuklearstaaten akzeptieren die strengen Weiterverbreitungsverbote nur unter der Bedingung, dass die Atomwaffenbesitzer ihre eigenen Abrüstungszusagen einhalten. Doch hier gibt es keine Fortschritte. Hans Blix, von 1981 bis 1997 Generaldirektor der IAEO, plädierte daher für einen neuen Vertrag, der die Produktion waffenfähigen Nuklearmaterials untersagt, und für eine allgemeine Anwendung des Atomwaffensperrvertrags unter der Bedingung, dass die Kernwaffenstaaten mit gutem Beispiel vorangehen.1
Israel, Indien und Pakistan haben den Vertrag nicht unterzeichnet. Sie haben Atomwaffen hergestellt und werden weiterhin als Handelspartner für zivile Atomprojekte anerkannt.