Versöhnung vor Recht in Sierra Leone
von Michel Arseneault
Freetown, Sierra Leone. Um sieben Uhr morgens sticht die Sonne noch nicht. Am Strand von Lumley nutzen junge Leute, wie viele überall im Land, die kühle Stunde am Samstag zum Fußballspielen – mit dem Unterschied, dass diese hier dem Ball auf nur einem Bein und mit Krücken nachjagen. Für die Dauer eines Spiels vergessen sie, wie die Rebellen sie mit Machetenhieben amputiert haben – sie und ihr „Maskottchen“, einen vierjährigen Jungen, der verstümmelt wurde, als er noch ein Baby war. Diese Opfer haben viel nachgedacht: „Man kann verzeihen“, sagen sie immer wieder, „aber nicht vergessen.“ Doch was tun, wenn man seinem Peiniger plötzlich gegenübersteht? Einer der jungen Männer erzählt, genau das sei ihm passiert. Verlegen und erschrocken habe der andere zunächst versucht, ihm auszuweichen. Dann habe der junge Mann ihn angesprochen: „Komm her! Keine Angst. Wir sollten uns die Hand geben.“
Seit 2002 hat das Land einen Weg der nationalen Versöhnung eingeschlagen. Ein Vertrag zwischen der UNO und der Regierung von Sierra Leone begründete im Januar 2002 das „Sondertribunal für Sierra Leone“ (SCSL). Und die nach dem südafrikanischen Vorbild ausgerichtete Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) hat im August 2005 ihren Bericht vorgelegt. Nach zehn Jahren Krieg und Gewalt waren solche Maßnahmen notwendig.
Im März 1991 hatte aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Liberia eine Rebellion auf Sierra Leone übergegriffen, die im April 1992 zum Militärputsch und zum Ende der Präsidentschaft von Joseph Momoh führte. Die wichtigste Rebellenorganisation, die Revolutionary United Front (RUF) unter Führung von Foday Sankoh, wurde von Charles Taylor unterstützt, der damals an der Spitze der liberianischen Rebellen stand und 1997 Präsident seines Landes werden sollte. Bei den Kämpfen ging es in erster Linie um die Kontrolle über die Diamantenminen.1 Trotz des Friedensschlusses am 7. Juli 1999 in Lomé (Togo) unter der Ägide der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und der UNO2 ging der Krieg weiter. 50 000 Menschen kamen ums Leben; Tausende wurden vergewaltigt und verstümmelt. Zum Symbol dieser entfesselten Gewalt wurden die abgehackten Hände, ein Markenzeichen der RUF. Zwei der fünf Millionen Einwohner des Landes wurden zu Flüchtlingen.
Kriegsverbrechertribunal mit internationaler Besetzung
Der Sitz des „Sondertribunals für Sierra Leone“, ein neu errichtetes Gebäude, befindet sich in der Jomo Kenyatta Road auf den Hügeln der Hauptstadt. Es soll für die „Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit nach dem 30. November 1996“ zuständig sein. Am 30. November 1996 waren zwar die Friedensvereinbarungen von Abidjan (Elfenbeinküste) geschlossen worden – diese blieben aber ein erfolgloser Versuch, den Konflikt zu begrenzen. Im Gegensatz zu den in Den Haag (Niederlande) und Arusha (Tansania) angesiedelten Internationalen Strafgerichtshöfen, die der Sicherheitsrat für Exjugoslawien und Ruanda initiiert hat, tagt der für Sierra Leone am Tatort der Verbrechen.3
Seine Rechtsprechung ist, auch das unterscheidet ihn von den beiden anderen Tribunalen, eine Mischung aus nationalem und internationalem Recht. Einheimische Juristen arbeiten Seite an Seite mit ausländischen Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern. Diese Zusammenarbeit sollte dazu beitragen, das durch den Krieg zerschlagene Justizsystem wieder auf die Beine zu stellen: 2001 gab es im ganzen Land nur noch fünfzehn Staatsanwälte und achtzehn Richter.4 Sie soll außerdem das Gericht effizienter machen als das in Arusha, wo der 1994 geschaffene Internationale Gerichtshof für Ruanda die Prozesse gegen die mutmaßlich für den Völkermord von 1994 Verantwortlichen immer noch nicht abgeschlossen hat.5 Unter dem Vorsitz des Briten Desmond de Silva hat der Sondergerichtshof für Sierra Leone dreizehn Personen wegen Verletzung der Genfer Konventionen (Mord, Vergewaltigung, Terror, Plünderung, sexuelle Sklaverei etc.) angeklagt.
Das Gefängnis, gleich neben dem Gerichtshof, gilt in der Region als beispielhafte Strafanstalt. Hinter seinen Mauern werden neun Beschuldigte in Gewahrsam gehalten: drei Rebellen von der RUF, drei Vertreter des Armed Forces Revolutionary Council (AFRC) und drei Anführer der Civil Defence Force (CDF), einer halboffiziellen Regierungsmiliz, unter ihnen der ehemalige Innenminister Sam Hinga Norman. Vier Angeklagte fehlen: Foday Sankoh, der 2003 während seiner Haft eines natürlichen Todes starb; Sam Bockarie, Sankohs rechte Hand, der im Mai 2004 bei Kämpfen in Liberia getötet wurde; Jean-Paul Koroma, der flüchtige Anführer des AFRC; und der vermutliche Drahtzieher des Ganzen, Charles Taylor, der in siebzehn Punkten angeklagte Expräsident von Liberia, gegen den ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Taylor wird vorgeworfen, er habe Sierra Leone destabilisiert, um die Diamantenminen an sich zu reißen. Im August 2003 hat er sich nach Nigeria abgesetzt.
Der Kanadier Luc Côté, Strafverfolger im Büro des Chefanklägers, ist der Ansicht, Taylor habe den Beweis für seine Kontrolle über die RUF geliefert, als er die prompte Freilassung der im Mai 2000 als Geiseln genommenen 700 Blauhelmsoldaten der Unamsil (United Nations Assistance Mission to Sierra Leone) erwirkte. „Es ist eine Schande, dass er der Justiz entkommen ist“, empört sich Côté. Da das Sondertribunal Taylor trotz seiner Stellung als Staatsoberhaupt keine Immunität zuerkennt, besteht noch Hoffnung, ihn eines Tages in Freetown auf der Anklagebank zu sehen – auch wenn die nigerianische Regierung keine Auslieferung beabsichtigt.
Nigeria kann sich diese herausfordernde Haltung leisten, weil das Sondertribunal für Sierra Leone nur auf einem bilateralen Abkommen zwischen der UNO und Freetown beruht. Wenn ein Tribunal (wie das für Exjugoslawien, Ruanda oder Timor-Leste) auf Beschluss des Sicherheitsrats oder (wie die UN-Übergangsverwaltung Untaet in Osttimor) durch ein UN-Reglement zustande gekommen ist, können die Mitgliedsstaaten der UNO „gezwungen“ werden, Angeklagte auszuliefern. Sierra Leone hat einen solchen Rechtsanspruch nicht. Angst vor „Siegerjustiz“ jedenfalls muss man derzeit nicht haben: schließlich wird der ehemalige Innenminister Sam Hinga Norman ebenso wie die Anführer der RUF zur Rechenschaft gezogen.
Keine Angst vor Siegerjustiz
Nach dem Vorbild anderer internationaler Gerichtshöfe wird in Sierra Leone internationales Recht angewandt. Beispielsweise wurde die Rekrutierung von Kindersoldaten als Kriegsverbrechen anerkannt. Gegebenenfalls werden traditionelle lokale Rechtsnormen herangezogen, um Lücken zu schließen. So waren es einheimische Gesetze aus den Jahren 1926 und 1861, die den sexuellen Missbrauch kleiner Mädchen und die „mutwillige Zerstörung von Eigentum“ unter Strafe stellten.6
Der nigerianische Vertreter der Verteidigung7 , Vincent Nmehielle, kritisierte, dass nur Belastungszeugen eine finanzielle Entschädigung erhalten. Seine weiter gehenden Vorwürfe, Zahlungen von manchmal mehreren tausend Dollar minderten die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen, wurden zurückgewiesen. Anders verhält es sich mit den unter Schutz gestellten Zeugen: Die sind im Ausland untergebracht, und das Büro des Chefanklägers trägt die Kosten für ihre Wohnungen und Flugtickets. Die Bezahlung von Zeugen ist aber auch beim Tribunal in Arusha ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.
Der Auftrag des Sondergerichtshofs von Sierra Leone beschränkt sich auf Verbrechen, die nach dem 30. November 1996 begangen wurden. Wie es heißt, wurde diese Grenze aus praktischen Gründen gezogen, weil es zu schwierig – und zu kostspielig – würde, die Dinge bis an die Ursprünge des Konflikts zurückzuverfolgen. Die Bevölkerung kann diese Entscheidung nicht verstehen, und die Juristen bedauern sie. Es ist zu befürchten, dass die vorher begangenen Grausamkeiten für immer ungestraft bleiben werden, zumal im Friedensvertrag von Lomé vom 7. Juli 1999 eine Generalamnestie vereinbart wurde.8 Allerdings hat die UNO schon damals klargestellt, die Amnestie gelte nicht für Urheber von Kriegsverbrechen. Es wäre also denkbar, dass die Verstöße gegen das internationale Menschenrecht aus der Zeit vor 1996 eines Tages doch noch vor einem einheimischen Gericht verhandelt werden.
Aber das größte Problem für das SCSL ist finanzieller Art. Als erstes Sondertribunal wird es aus freiwilligen Beiträgen der UN-Mitgliedsstaaten finanziert – für andere kommt das allgemeine Budget der UNO auf. Bis zum Ende seines Mandats im Dezember 2005 stehen 57 Millionen Dollar zur Verfügung. Der bereits sehr niedrig angesetzte Etat des Internationalen Gerichtshofs in Arusha für den Zeitraum 2002–2005 ist sechsmal so hoch. Werden die Geldgeber, insbesondere London (als ehemalige Kolonialmacht), Den Haag und Washington, neue Kredite gewähren, wenn die Prozesse in Sierra Leone, wie es wahrscheinlich der Fall sein wird, nicht zum vorgesehenen Termin abgeschlossen sind? Im Juli 2005 hat das Strafverfolgungsbüro die Anhörung von 170 Personen im Prozess gegen die Verantwortlichen der RUF angekündigt, eine Zahl, die von der Verteidigung als „absurd und ungewöhnlich“ bezeichnet wird.
Wer den Konflikt genauer verstehen will, sollte neben den Gerichtsprotokollen auch den Abschlussbericht der 2002 vom sierra-leonischen Parlament eingesetzten Wahrheits- und Versöhnungskommission lesen. Ihr Ziel war es, die Kriegsursachen aufzuklären, Licht in die Gewalttaten zu bringen und das soziale Netz durch den Dialog zwischen Opfern und Tätern wiederherzustellen. Der Präsident von Sierra Leone, Tejan Kabbah, spricht von einem „therapeutischen Prozess“. Dabei waren nur wenige Täter bereit auszusagen. Denn in diesem kleinen Land gehen Wahrheit und Denunziation Hand in Hand. „Wie soll man die Wahrheit sagen, wenn man weiß, dass einem im nächsten Moment ein Strick daraus gedreht wird? Wenn das Leben nur ein Kampf ums Überleben ist? Das ist schlichtweg unmöglich!“, meint Shellac Sonny Davis, die Tochter eines Opfers und Koordinatorin ökumenischer Projekte. Ihrer Ansicht nach ist die Kommission dem Land aufgezwungen worden, ohne dass man erkannt hat, dass die Zeit noch nicht reif dafür war.
„Wenn die Waffen schweigen, ist der Krieg noch lange nicht zu Ende“, betont der Baptistenpfarrer Henry Samuels, „der ökonomische und soziale Krieg geht weiter.“ Sierra Leone steht seit Jahren auf dem letzten Platz des Index für menschliche Entwicklung des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP). Für Samuels war diese Situation der Nährboden für die Barbarei. Dennoch ist er der Meinung, die Kommission habe gute Arbeit geleistet. Zu einer anderen Einschätzung kommt der britische Politologe Tim Kelsall. Bei seiner Teilnahme an öffentlichen Anhörungen stellte er fest, dass die meisten Zeugenaussagen erstaunlich vage blieben, dass Opfer wie Täter wenig geneigt schienen, Einzelheiten zu berichten. Und selbst die Kommissare machten nicht den Eindruck, als wollten sie mehr darüber erfahren.
Trotzdem bescheinigt auch Kelsall der Kommission eine nützliche Wirkung. Vor allem habe sie im Anschluss an die Sitzungen oft Zeremonien organisiert, bei denen geistliche und traditionelle Oberhäupter in feierlicher Aufmachung den Tätern begreiflich zu machen versuchten, sie hätten hier eine letzte Gelegenheit zur Reue. Die Chance wurde von den Anwesenden aus Furcht vor irdischen oder jenseitigen Strafen ergriffen. „Es war nicht nötig, dem Publikum die Grausamkeiten in Erinnerung zu rufen“, meint der Politologe. „Jeder weiß, was geschehen ist. Die Leute wollten nur sehen, dass die Schuldigen ihr Verhalten bedauern.“