14.10.2005

Kampf um die Kulturen

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Kampf um die Kulturen

von Armand Mattelart

Auf der 33. Unesco-Generalversammlung, die bis zum 21. Oktober 2005 in Paris abgehalten wird, sollen die Mitgliedstaaten über den Entwurf einer „Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ abstimmen. Damit würde die „Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt“, die von der Unesco kurz nach den Ereignissen vom 11. September 20011 verabschiedet wurde, Rechtskraft erhalten.

Die Erklärung hebt die kulturelle Vielfalt in den Rang eines „gemeinsamen Erbes der Menschheit“ und setzt einer „fundamentalistischen Abgrenzung“ die Perspektive „einer offeneren, kreativeren und demokratischeren Welt“2 entgegen. Das ethische Paradigma der „Vielfalt im Dialog“ steht konträr gegen die These Samuel Huntingtons, wonach ein „Kampf der Kulturen“ unausweichlich sei.

2001 befürworteten alle Staaten die Prinzipien der Vielfalt und Verschiedenheit als ein Mittel zur „Humanisierung der Globalisierung“. Doch als zwei Jahre später über den Beginn der Arbeiten am Konventionsentwurf abgestimmt wurde, lagen die Dinge schon etwas anders. Einige wenige Unesco-Mitglieder enthielten sich der Stimme, darunter vor allem die USA. In Washington hatte man nicht vergessen, dass man zehn Jahre zuvor zweimal vergeblich diplomatischen Widerstand gegen den Grundsatz der „kulturellen Vielfalt“ (damals noch „kulturelle Ausnahme“ genannt) geleistet hatte: zunächst 1993 gegenüber der Europäischen Union in der Endphase der Uruguay-Runde des Gatt, aus der die Welthandelsorganisation (WTO) hervorgegangen ist. Und dann 1994 gegenüber Kanada beim In-Kraft-Treten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta). Beide Abkommen erkannten den Sonderstatus „geistigen Eigentums“ in Handelsfragen an und legitimierten damit staatliche Fördermaßnahmen, vor allem im audiovisuellen Bereich.

Kanada und Frankreich, die maßgeblich an der Formulierung der „Ausnahme“-Doktrin beteiligt waren, trieben auch die Verhandlungen über den Konventionsentwurf voran. Frankreich mobilisierte die frankophonen Länder, während Kanada das Internationale Netzwerk für Kulturpolitik (INCP) gründete. Das bot den Rahmen für die Kulturminister von rund 60 Staaten, die gemeinsam mit Verbänden und anderen gesellschaftlichen Organisationen informelle Gespräche darüber führten, wie man die kulturelle Vielfalt fördern könne. Zudem bemüht sich Ottawa gemeinsam mit der Regionalregierung von Québec um einen internationalen Zusammenschluss von Verbänden, die sich für kulturelle Vielfalt einsetzen.

Der Konventionsentwurf bezieht sich jedoch nicht nur auf audiovisuelle und kulturindustrielle Produkte, sondern auf all die „vielfältigen Formen, in denen die Kulturen sozialer Gruppen und von Gesellschaften ihren Ausdruck finden“. Dabei geht es sowohl um sprachpolitische Belange als auch um die Wissensbestände autochthoner Völker. In der Öffentlichkeit wird jedoch hauptsächlich auf die Lage der Filmbranche verwiesen, um die Gefährdung kultureller Vielfalt durch Freihandel und Globalisierung zu veranschaulichen. So setzten das US-Außenministerium und die 1945 gegründete Motion Picture Export Association of America (MPEA) – seit 1994 Motion Picture Association (MPA) – die Regierungen von Chile, Südkorea, Marokko und der ehemaligen Ostblockländer unter Druck, um sie mittels bilateraler Handelsabkommen zum Verzicht auf nationale Filmfördermaßnahmen zu bewegen. Als Gegenleistung bot die US-Regierung Zugeständnisse in anderen Bereichen.

Die Europäische Union gegen die USA und Australien

Drei Verhandlungsrunden waren nötig, um über den nun vorliegenden Entwurf abzustimmen. Auf der letzten Sitzung vom 25. Mai bis 3. Juni in Paris suchten die Experten zwischen zwei Positionen zu vermitteln. Die Mehrheit, darunter die Vertreter der EU, befürwortet internationale Rechtsregeln, die für kulturelle Güter und Dienstleistungen eine Sonderregelung festschreiben, weil sie Träger von „Identitäten, Wertvorstellungen und Bedeutungen“ seien. Die Minderheit, zu der die USA, Australien und Japan gehören, sieht in dem Konventionsentwurf hingegen einen Sieg des Protektionismus: Wie in allen anderen Bereichen sollen auch für die Kultur die Regeln der freien Marktwirtschaft gelten. Zwischen diesen beiden Polen gibt es noch andere Positionen. Einige Staaten befürchten, das Prinzip der Vielfalt könnte ihren nationalen Zusammenhalt gefährden. Insofern kann man den Entwurf selbst schon als Resultat interkultureller Zusammenarbeit werten.

Nun liegt das Verhandlungsergebnis in Form allgemeiner Regeln über die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten auf dem Tisch. Artikel 5 lautet nunmehr: „Die Vertragsstaaten bekräftigen […] ihr hoheitliches Recht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Vielfalt kulturellen Ausdrucks auf ihrem Staatsgebiet zu schützen und zu fördern, und erkennen ihre Pflicht an, sie auf ihrem Staatsgebiet und auf globaler Ebene zu schützen und zu fördern.“ Dreh- und Angelpunkt des Regelwerks ist also das Souveränitätsprinzip: Jeder Staat darf in der Kulturpolitik eigene Maßnahmen ergreifen, auch wenn er dieses Recht in früheren Vereinbarungen abgetreten hat.

Damit die Konvention im Streitfall normativen Charakter besitzt, musste das Verhältnis der Konvention zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten geklärt werden. Genau darum ging es in der Schlussphase der Verhandlungen über Artikel 20. Er bestimmt, dass sich das Verhältnis zwischen dem vorliegenden Übereinkommen und anderen Verträgen am Prinzip der „gegenseitigen Unterstützung, Ergänzung und Nichtunterordnung“ orientieren muss. Bei der „Auslegung und Anwendung anderer Verträge ebenso wie bei der Unterzeichnung anderweitiger internationaler Verpflichtungen berücksichtigen die Vertragsstaaten die einschlägigen Bestimmungen dieser Konvention“. Artikel 21 präzisiert, dass die Anwendung dieser Konventionen in Abstimmung und Koordination mit anderen „internationalen Foren“ erfolgen soll.

Denn auch in diesen namentlich nicht genannten Institutionen wird über das Schicksal der kulturellen Vielfalt entschieden. So will das Allgemeine Dienstleistungsabkommen der WTO auf der Ministerkonferenz in Hongkong im Dezember dieses Jahres über die Liberalisierung des Handels mit audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen verhandeln. Außerdem befasst sich die Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo) mit der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Güter, was Wissen und Kenntnisse als Quelle von Kreativität einschließt. Die Achillesferse der Konvention bleibt jedoch zum einen die Frage von Sanktionen bei Verstößen und zum anderen das unzureichende Regelwerk für die Beilegung von Streitigkeiten.

Neben dem Souveränitätsprinzip nennt die Konvention in Artikel 2 eine ganze Reihe weiterer Grundsätze: Achtung der Menschenrechte, gleicher Respekt vor allen Kulturen, internationale Solidarität und Zusammenarbeit, Gleichwertigkeit wirtschaftlicher und kultureller Aspekte der Entwicklung, Nachhaltigkeit, freier Zugang und Mitwirkung sowie Ausgewogenheit, Offenheit und Angemessenheit. Mit Blick auf den Grundsatz des freien Zugangs und der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit sehen Artikel 14 bis 19 u. a. eine „Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer“ und die Einrichtung eines internationalen Fonds für kulturelle Vielfalt vor. Er soll durch freiwillige Beiträge aus öffentlicher oder privater Hand finanziert werden.

Den Fonds für digitale Solidarität gibt es bereits

Doch welche Erfahrungen hat man mit ähnlichen Projekten gemacht, etwa mit dem Weltgipfel zur Informationsgesellschaft? Auch er wurde von einer UNO-Sonderorganisation veranstaltet, der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU). Auf dem ersten Treffen im Dezember 2003 in Genf – die nächste Zusammenkunft wird im November 2005 in Tunis stattfinden – wurde ein „Fonds für digitale Solidarität“ ins Leben gerufen mit dem Ziel, den bislang vernachlässigten Ländern den Zugang zum Cyberspace zu eröffnen. Das wäre ein löbliches Unterfangen, wenn die Industrieländer nicht mit ihren Geldern geizen würden. Deshalb müssen die philanthropischen Stiftungen der multinationalen IT-Konzerne in die Bresche springen, die aber ganz offensichtliche Interessen verfolgen.

Kulturpolitik kann man sinnvoll wohl nur betreiben, wenn man medien- und kommunikationspolitische Fragen mit einbezieht. Doch die beiden Sachgebiete werden üblicherweise säuberlich auseinander gehalten. Und innerhalb der Handlungsphilosophie der Unesco in Sachen kultureller Vielfalt spielen die Gefahren für die Medienvielfalt ohnehin kaum eine Rolle. In der Endfassung des Konventionsentwurfs kommt die „Medienvielfalt“ nur an zwei Stellen vor. Zum einen in Punkt 12 der Präambel, wo es heißt, die „Gedanken-, Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die Medienvielfalt erlauben die Entfaltung kultureller Ausdrucksformen in den Gesellschaften“. Zum anderen in Artikel 6, der die „Rechte der Vertragsstaaten auf nationaler Ebene“ aufzählt, darunter Maßnahmen, „die die Förderung von Medienvielfalt, auch mittels öffentlicher Rundfunkanstalten, bezwecken“.

Was dabei unter „Medienvielfalt“ zu verstehen ist, erfährt man allerdings nicht. Das Wort Medienkonzentration zum Beispiel wird man vergebens suchen; es passt nicht ins Konzept. Vielleicht aus Angst, man würde die Vereinigten Staaten verschrecken, die sich 1984 aus der Unesco verabschiedet hatten und erst vor zwei Jahren zurückkehrten?3 Gewiss trifft diese Vermutung zu. Oder wegen der Arbeitsteilung zwischen den Abteilungen einer bürokratischen Megamaschine? Auch das ist sicherlich richtig, aber es steckt mehr dahinter.

Die Unesco sucht sich von ihrer vermeintlich „schwarzen Vergangenheit“ in den 1970er-Jahren zu distanzieren, als kultur- und medienpolitische Fragen noch im Zusammenhang diskutiert wurden. Der durch die Internationalisierung von Wirtschaft und Finanzwelt vorangetriebene Konzentrationsprozess wurde innerhalb der damaligen sozioökonomischen Reflexion über die Kulturindustrien noch als eine grundsätzliche Fragestellung behandelt.4 Prinzipien wie der „Dialog der Kulturen“ und eine „harmonische Entwicklung auf der Grundlage von Vielfalt und gegenseitiger Anerkennung“ inspirierten die Arbeiten der „Internationalen Kommission zur Untersuchung der Kommunikationsprobleme“, die vom damaligen Unesco-Generalsekretär, dem Senegalesen Mohtar M’Bow, eingesetzt wurde und bis 1980 unter Vorsitz des Iren Sean MacBride tagte. Zu den Mitgliedern zählten damals Hubert Beuve-Méry, der Gründer der Tageszeitung Le Monde, und der Schriftsteller Gabriel García Márquez. Der Abschlussbericht, den die Unesco-Generalversammlung verabschiedete, begründete unter dem symbolträchtigen Titel „Vielfältige Stimmen, eine Welt“, weshalb das Recht auf Kommunikation als Ausdruck neuer gesellschaftlicher Rechte zu fassen sei.5

Sollte das Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt verabschiedet werden, bleibt den privaten und öffentlichen Akteuren keine andere Wahl, als sich mit ihm zu arrangieren. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind daher gut beraten, die Konvention mit Leben zu erfüllen und ihre Grenzen zu erweitern. Genau dazu lädt Artikel 11 über die „Verantwortung und Mitwirkung der Zivilgesellschaft“ ausdrücklich ein. Als in einer frühen Phase diskutiert wurde, ob wir für kulturelle Belange überhaupt ein Rechtsinstrument brauchen, zwangen gerade die zivilgesellschaftlichen Akteure die verantwortlichen Politiker, deutliche Positionen zu beziehen. Aus dieser intensiven Mobilisierung der nationalen und internationalen Netzwerke und der Verbände von Kulturschaffenden könnten wir auch jetzt wieder einiges lernen.

Die sozialen Netzwerke haben die Debatten über den Konventionsentwurf mit den Diskussionen über die Informationsgesellschaft zusammengeführt, die im Umfeld des Weltgipfels stattfanden. Zur Bewahrung der kulturellen und medialen Vielfalt wurde hier das neue „Rechte auf Kommunikation“ postuliert: Vielfalt der Informationsquellen, Vielfalt der Eigentumsformen von Medien, Vielfalt des Medienzugangs, Unterstützung öffentlicher Medienanstalten, Förderung freier und unabhängiger Medien. Die im Kulturbereich Beschäftigten gründeten ihrerseits in den letzten vier Jahren schon in 30 Ländern Verbände. Damit haben sie bewiesen, dass sich die Verknüpfung beruflicher Belange mit gesellschaftlichen Anliegen nicht unbedingt als korporatistische Interessenpolitik äußern muss.

In der Abschlusserklärung ihrer Tagung, die am Vorabend der letzten Überarbeitung des Konventionsentwurfs im Mai 2005 in Madrid stattfand, riefen sie die Mitgliedstaaten der Unesco auf, „allem Druck zu widerstehen, der die Konvention inhaltlich aufzuweichen sucht“. Und sie warnten vor Bestrebungen, „die Verabschiedung der Konvention auf die Unesco-Generalversammlung im Jahr 2007 oder noch später zu vertagen, was der Wirkung des Übereinkommens überaus abträglich wäre“. Nun sind die Mitgliedstaaten am Zug.

Fußnoten: 1 Dazu Bernard Cassen, „Das Gemauschel geht weiter“, Le Monde diplomatique, September 2003. 2 Koichiro Matsuura (Unesco-Generaldirektor), „La diversité culturelle du monde“, in: „Unesco, Déclaration universelle sur la diversité culturelle“, Paris 2002, Reihe „Diversité culturelle“, Nr. 1, S. 3. 3 Die USA zahlen heute wieder, wie vor 1984, über 20 Prozent des Unesco-Budgets. Damals erfolgte ihr Austritt aus Protest gegen die Forderung der blockfreien Staaten nach gleicher Beteiligung an den Informationsflüssen und nach einer „Neuen Weltordnung der Information und Kommunikation“. 4 Dazu „Unesco, Les Industries culturelles. Un enjeu pour la culture“, Paris 1982; „Les Industries culturelles“, Abteilung für kulturelle Entwicklung, Unesco, Paris 1980. 5 Sean MacBride (Bericht), „Voix multiples, un seul monde“, Paris (Unesco/La Documentation française) 1980. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Armand Mattelart ist Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Paris-VIII, Autor von „Diversité culturelle et mondialisation“, Paris (La Découverte) 2005.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Armand Mattelart