14.10.2005

Kein Heimatschutz für New Orleans

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Kein Heimatschutz für New Orleans

von Mike Davis

Der Hurrikan, der New Orleans zerstörte, hatte sich im Atlantik 125 Seemeilen vor den Bahamas zusammengebraut. Was am 23. August zunächst nur als „Tropisches Tief Nr. 12“ registriert wurde, verdichtete sich rasch zum „Tropensturm ‚Katrina‘ “.

Innerhalb der nächsten vier Tage zog „Katrina“ über Florida zum Golf von Mexiko hinüber und verwandelte sich dabei – weitgehend unerwartet – in ein wahres Monster. Der Wirbelsturm nahm riesige Energiemengen aus dem ungewöhnlich stark erwärmten Meerwasser auf – 3 Grad Celsius über den gewohnten Augustwerten – und baute sich zu einem Hurrikan der Höchststufe 5 auf. Mit seinen 290 Stundenkilometern schob er schließlich eine fast zehn Meter hohe tsunamiartige Flutwelle vor sich her. Wie man inzwischen herausgefunden hat, nahm „Katrina“ so viel Wärme aus dem Wasser im Golf auf, dass „die Temperaturen der Wassermassen, über die er hinweggefegt war, im Nu drastisch fielen, stellenweise von 30 auf 26 Grad Celsius“.1 Fast noch nie hatten die völlig entgeisterten Meteorologen einen Hurrikan erlebt, der mit solcher Geschwindigkeit derartig gewaltige Kräfte entwickelte. Für die Wissenschaftler stellte sich daher die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Stärke von Hurrikanen und der Erderwärmung gibt.

Die Tage, als Big Easy Lake George hieß

Zwar hatte sich „Katrina“ zu einem Hurrikan der Stufe 4 (mit Windgeschwindigkeiten zwischen 210 und 249 Stundenkilometern) abgeschwächt, als sein Zentrum am frühen Morgen des 29. August in der Umgebung von Plaquemindes das Mündungsgebiet des Mississippi erreichte. Doch das Schicksal der im Delta gelegenen Ölhäfen und der Menschen in den Fischersiedlungen und Cajun-Dörfer war besiegelt. Im Bezirk Plaquemines wie auch später an der Golfküste von Mississippi und Alabama trieb „Katrina“ die Wasser der toten Flussarme und der Uferlagunen vor sich her und ließ eine zerstörte Landschaft an der Golfküste zurück. Zunächst steuerte der Hurrikan genau auf den Großraum New Orleans mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern zu, aber als er die Küste erreicht hatte, drehte er nach rechts ab, sodass sein Zentrum 55 Kilometer östlich von New Orleans vorbeizog. Damit entging „Big Easy“ (wie sich die lebensfrohe Stadt auch nennt), das großenteils unterhalb des Meeresspiegels liegt und an die Salzwasserseen Lake Pontchartrain (im Norden) und Lake Borgne (im Osten) grenzt, zwar den schlimmsten Folgen des Wirbelsturms, nicht aber der anrollenden Flutwelle.

Die von „Katrina“ aufgetürmten Wassermassen durchbrachen von diesen beiden Seen her die nicht ausreichend befestigten Deiche, die nicht nur die östlichen, mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Bezirke von New Orleans schützen sollen, sondern auch die angrenzenden weißen Arbeitervororte von St. Bernard. Da es keinerlei Vorwarnungen gab, waren die Bewohner bald von den steigenden Fluten eingeschlossen. Viele Menschen, die nicht evakuiert worden waren, starben in ihren Schlafzimmern, unter anderem auch 34 Insassen eines Altenpflegeheims. Etwas später, gegen Mittag, wurde ein stärkerer Deich eingedrückt, worauf Wassermassen aus dem Lake Pontchartrain in die niedrig gelegenen Teile der Innenstadt strömten. Zwar wurden die berühmtesten Touristenattraktionen wie das French Quarter und Nobelviertel wie Audubon Park und Lakeshore dank ihrer erhöhten Lage verschont, aber der Rest der Stadt stand unter Wasser, großenteils buchstäblich bis zur Dachrinne. Mindestens 250 000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Die Einheimischen tauften ihre überflutete Stadt spontan „Lake George“ – nach dem Präsidenten, der weder neue Deiche hatte errichten lassen noch, als die Katastrophe da war, sofort zur Sichtung und Unterstützung hergekommen war.

George W. Bush verkündete nach der Katastrophe, vor dem Hurrikan „Katrina“ seien alle gleich gewesen. In Wahrheit waren die Auswirkungen des Hurrikans für die Menschen je nach klassenmäßiger und ethnischer Zugehörigkeit überaus verschieden. Die Welle von Angst und Schrecken, die „Katrina“ verbreitet hat, entlarvte nicht nur die verlogenen Behauptungen des Ministeriums für Heimatschutz (Homeland Security), das den Amerikanern eigentlich gleiche Sicherheit für alle versprochen hatte. Der Hurrikan machte auch deutlich, was für katastrophale Auswirkungen die Vernachlässigung der mehrheitlich von Schwarzen und Latinos bewohnten Großstädte und vor allem ihrer Infrastruktur hat. Die Unfähigkeit der bundesstaatlichen Katastrophenschutzbehörde Fema (Federal Emergency Management Agency) hat gezeigt, wie aberwitzig es ist, eine öffentliche Aufgabe, bei der es um Leben und Tod geht, irgendwelchen unbedarften Parteifreunden zu überlassen, die ansonsten gern als bekennende Privatisierer auftreten. Und das Tempo, mit dem die Bush-Regierung die geltende Mindestlohnregelung2 außer Kraft gesetzt und das zerstörte New Orleans notorischen Plünderungskonzernen – wie Halliburton, der Shaw-Gruppe und dem Versicherungsgiganten Blackwater Security – ausgeliefert hat (die schon im Irak ein ordentliches Fettpolster angesetzt haben), steht in obszönem Kontrast zur lebensbedrohenden Trägheit der Fema, die viele tausend Menschen in der stinkenden Hölle des Superdome von New Orleans viel zu spät mit Wasser und Essen versorgt und ihnen Busse geschickt hat.

Wenn jetzt billigend in Kauf genommen wird, dass Unfähigkeit und Nachlässigkeit des Staates den Untergang von New Orleans zur Folge haben, so ist die Schuld allerdings auch der Gouverneurin von Louisiana und vor allem dem Bürgermeister von New Orleans anzulasten.

Im Rathaus sitzt der Afroamerikaner C. Ray Nagin, der als Manager bei einem privaten Kabelfernsehanbieter reich geworden ist. Dieser Mann, der 2002 auch 87 Prozent der weißen Stimmen gewinnen konnte, trägt letztlich die Verantwortung für die Sicherheit auch der Bürger, die aus Gründen der Armut oder des Alters kein Auto haben (immerhin einer Viertel der Bevölkerung). Dass Bürgermeister Nagin es versäumt hat, die Transportmittel bereitzustellen, um die Menschen ohne Auto und die Krankenhauspatienten zu evakuieren, zeugt nicht nur von persönlicher Unfähigkeit. Da die Stadt schon bei der Hurrikanwarnung im September 2004 eine ähnliche Pleite erlebt hatte, steht dieses Versagen auch für die Abgestumpftheit der Elite von New Orleans – der weißen wie der schwarzen – gegenüber den armen Mitbürgern, die in den niedrig gelegenen Bezirken und in verkommenen Sozialsiedlungen leben.

Natürlich hatte es vor dem tödlichen Hurrikan Warnungen gegeben. Man kann sogar sagen: Keine Katastrophe in der Geschichte der USA wurde so genau vorausgesagt. Michael Chertoff, Chef der Homeland Security, behauptete nachträglich, die Wucht des Sturms habe „alles übertroffen, womit man im Voraus hätte rechnen können“. Doch das ist schlichtweg falsch.3 Zwar hat das plötzliche Anwachsen von „Katrina“ zu einem Monsterhurrikan die wissenschaftlichen Beobachter überrascht, aber was auf New Orleans zukommen würde, wenn ein starker Hurrikan über die Stadt hinwegziehen würde, hatten sie stets klar und deutlich vorausgesagt.

Im September 1965 hatte „Betsy“, ein Hurrikan der Stufe 2, die Ostbezirke von New Orleans unter Wasser gesetzt, die jetzt wieder überflutet wurden. Seitdem gab es ausführliche Studien und viele Publikationen zu der Frage, was New Orleans durch eine Sturmflut droht. Und nachdem 1998 der Hurrikan „Georges“ die Region nur knapp verschont hatte, wurde die Forschung erneut intensiviert. Eine differenzierte Computerstudie der Universität Louisiana ergab, dass der Stadt bei einem aus Südwesten herannahenden Hurrikan der Stufe 4 die „buchstäbliche Zerstörung“ drohe.4

Die Deiche und Küstenbefestigungen von New Orleans sind so ausgelegt, dass sie allenfalls einem Hurrikan der Stufe 3 standhalten. Aber die Computersimulationen, die das Ingenieurcorps der US Army 2004 vornahm, entlarvte selbst diesen Schutz als Illusion. Denn wegen der fortwährenden Erosion der vorgelagerten Inseln und der Feuchtgebiete an der Golfküste von Louisiana5 türmen sich die Flutwellen bis zu ihrem Anrollen in New Orleans noch höher auf. Da sich die Stadt aber zugleich entlang ihrer Deiche langsam absenkt, kam die Studie zu dem Ergebnis, dass selbst bei einem Hurrikan der Stufe 3, der sich nur langsam fortbewegt, weite Teile der Stadt überflutet würden.6

Weitere Studien mit Simulationen haben für den Fall, dass ein Hurrikan das Stadtgebiet direkt treffen würde, das exakte Ausmaß der Überflutung und die zu erwartende Zahl von Toten und Verletzten ermittelt. Dabei spuckten die Computer immer wieder dieselben schockierenden Zahlen aus: mindestens 160 Quadratkilometer der Stadt unter Wasser und 80 000 bis 100 000 Tote. Das wäre die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der USA.

Alle Kassandrarufe verhallten ungehört

Im Lichte dieser Studien warnte die Fema schon 2001, eine durch einen Hurrikan verursachte Überflutung von New Orleans sei eine der drei wahrscheinlichsten Megakatastrophen, die sich in naher Zukunft in den Vereinigten Staaten ereignen könnten (die beiden anderen waren ein Erdbeben in Kalifornien und ein terroristischer Angriff auf Manhattan). Wenig später brachte die Zeitschrift Scientific American unter dem Titel „Drowning New Orleans“ einen Beitrag über die Gefahren einer Sturmflut, der verblüffend präzise Voraussagen enthielt.7

Nachdem die Meteorologen eine sprunghafte Zunahme von Hurrikanen vorausgesagt hatten, setzten die zuständigen Stellen in Washington letztes Jahr eine umfassende Katastrophenübung („Hurricane Pam“) an, die die wahrscheinliche Opferzahl von um die zehntausend neuerlich bestätigte. Die Antwort der Bush-Regierung auf diese Prognosen bestand darin, die drängenden Forderungen der Regierung von Louisiana nach erweiterten Schutzmaßnahmen abzuschmettern: Das entscheidende Coast-2050-Projekt zur Rückgewinnung von Wattgebieten wurde auf Eis gelegt. Und die Bundesmittel für Deichbauten, die auch den vollen Ausbau der Schutzdeiche um den Lake Pontchartrain finanzieren sollten, wurden wiederholt gekürzt. Das war auch eine Konsequenz der neuen Prioritäten der Bush-Regierung: Steuergeschenke an die Reichen, horrende Summen für den Krieg im Irak sowie für ein Programm, das „Homeland Security“ heißt und alles zur Verfügung stehende Geld für die Terrorbekämpfung verwendet. Um all das zu bezahlen, musste die Bush-Regierung ausgerechnet den Etat für das katastrophengeschulte Ingenieurcorps der Armee kürzen.

Dabei spielten zweifellos nicht nur fiskalische, sondern auch politische Motive eine Rolle: New Orleans ist eine Stadt mit schwarzer Bevölkerungsmehrheit und einer deutlichen Präferenz für die Demokratische Partei, die bei Wahlen im Bundesstaat Louisiana schon häufig entscheidend war. Warum sollte eine Regierung, die sich in einen Parteienkrieg verbissen hat, für diesen „Dorn im Fleisch der Republikaner“ auch noch Geld ausgeben. Warum sollte sie die 2,5 Milliarden Dollar bewilligen, die nach den Schätzungen des Army Corps erforderlich waren, um die Stadt so zu schützen, dass sie gegen einen Hurrikan der Stufe 5 gewappnet wäre?8

Als der Chef des Army Corps of Engineers, der zuvor für die Republikaner im Repräsentantenhaus gesessen hatte, vor drei Jahren gegen die Kürzung der Projekte zum Überflutungsschutz protestierte, nötigte Bush ihn zum Rücktritt. Und voriges Jahr drängte die Regierung den Kongress, das Budget des Army Corps für den Bezirk New Orleans um 71 Millionen Dollar zu kürzen – trotz der warnenden Hinweise auf die bevorstehende Hurrikan-Saison.9

Aber das Weiße Haus bewilligte nicht nur zu wenig Geld für die Wiederherstellung der Küstenregion und den Deichbau, sondern stutzte auch die Katastrophenschutzbehörde zurück. Die Regierung Clinton hatte die Fema unter ihrem Direktor James Lee Witt, der mit am Kabinettstisch saß, zu einem ihrer Vorzeigeprojekte gemacht. Nach den großen Überschwemmungen entlang dem Mississippi (1993) und dem Erdbeben von Los Angeles (1994) hatte die Behörde für den effizienten Einsatz ihrer Such- und Rettungsteams und die zügige Verteilung der Hilfsgüter über die Parteigrenzen hinweg viel Lob geerntet.

Als dann die Republikaner 2001 die Fema übernahmen, behandelten sie sie wie besetztes Feindesland: Der neue Direktor Joe M. Allbaugh, der für Bush den Wahlkampf gemanagt hatte, nahm sich den „aufgeblasenen“ Etat der Behörde vor und strich die Gelder für viele Programme zur Eindämmung von Flut- und Sturmfolgen eifrig zusammen, bevor er 2003 abtrat und ins Consulting-Geschäft wechselte. Heute berät er Unternehmen, die sich um Aufträge im Irak bemühen. Als geübter Katastrophengewinnler mischt er auch in Louisiana schon wieder mit: Mit seinem Insiderwissen berät er Firmen, die sich auf den Spuren von „Katrina“ um lukrative Wiederaufbauprojekte bewerben.

Seit die Fema 2003 in dem neuen Ministerium für Homeland Security aufgegangen und damit nicht mehr im Kabinett vertreten ist, wurde die Behörde wiederholt verkleinert und zugleich in neue bürokratische und Patronagestrukturen eingebunden. Deshalb haben Fema-Mitarbeiter beim Kongress die Klage eingereicht, dass „Katastrophenmanager der Fema durch parteipolitisch vernetzte Unternehmer und neue Mitarbeiter ersetzt wurden, die nur wenig Erfahrung und Kenntnisse mitbringen“.10 Das gilt vor allem für Allbaughs Nachfolger und Protegé Michael Brown, einen republikanischen Anwalt ohne jede Erfahrung in Notstandsplanung, der sich zuletzt als Lobbyist für die Besitzer teurer arabischer Rennpferde betätigt hatte. Unter Brown setzte sich die Metamorphose der Fema fort. Bedrohungsszenarien, die alle potenziellen Gefahren einbezogen, kamen kaum noch vor, stattdessen fixierte man sich wie besessen auf den Terrorismus. 75 Prozent der Bundesmittel für Katastrophenschutz, die vormals in lokale Projekte der Erdbeben-, Sturm- und Flutprävention geflossen waren, gingen jetzt für Antiterrorszenarien drauf. Das Ergebnis war, dass die Bush-Administration in eine Maginot-Linie gegen die Bedrohung durch al-Qaida investierte und sich immer weniger um Deiche und Pumpen kümmerte.

Die Helfer konnten nicht einmal telefonieren

Zu ernsthaften Befürchtungen gab es also allen Grund, als May Mayfield, der Direktor des Nationalen Hurrikan-Zentrums in Miami in einer Videokonferenz am 28. August warnte, dass „Katrina“ New Orleans verwüsten könnte. Zugeschaltet waren der Präsident, der noch immer auf seiner Farm in Texas Ferien machte, und Vertreter des Ministeriums für Heimatschutz. Doch Fema-Chef Michael Brown reagierte mit nassforscher Arroganz: „Aber wir sind doch vorbereitet. Seit vielen Jahren planen wir für einen solchen Katastrophenfall, weil uns das Problem von New Orleans schon immer klar war …“ Monate zuvor hatten Brown und sein Chef Michael Chertoff, der Minister für Heimatschutz, mit dem neuen Nationalen Notstandsplan geprotzt, der bei größeren Katastrophen die glatt laufende Koordination zwischen den Regierungsbehörden garantieren würde.

Doch als New Orleans und seine Vororte in den Fluten versanken, war kaum jemand aufzutreiben, der die Rettungsmaßnahmen koordinieren konnte. Die verzweifelten Rettungsarbeiter und Bürgermeister mussten erleben, dass die Telefonsysteme zusammenbrachen und eine Kommunikation über Sprechfunk mangels einheitlicher Frequenz nicht möglich war. Überdies fehlte es von vornherein an Essen, Trinkwasser, Sandsäcken, Diesel für die Generatoren, Satellitentelefonen, Mobilklos, Bussen, Booten und Hubschraubern. All dies hätte die Fema in New Orleans längst vorrätig halten müssen. Am fatalsten war jedoch, dass Heimatschutz-Minister Chertoff die Katastrophe mit 24 Stunden Verspätung zu einem Fall „von nationaler Bedeutung“ erklärt und damit viel zu spät die Voraussetzung für das volle Anlaufen bundesstaatlicher Hilfsmaßnahmen geschaffen hatte.

Dass so viele Menschen auf den Dächern ihrer Häuser oder in Krankenhausbetten sterben mussten, lag vor allem an der Tranigkeit der zuständigen Leute im Ministerium für Heimatschutz, die das Ausmaß der Katastrophe viel zu spät erkannten. So verblüffte Chertoff noch drei Tage nach dem tödlichen Montag einen Reporter des National Public Radio mit der Behauptung, die verzweifelten Menschen und die Toten im Superdome, die alle Welt auf den Bildschirmen sehen konnte, das alles seien bloß „Gerüchte und Anekdoten“. Und Fema-Direktor Brown erklärte die Betroffenen zu den Schuldigen, denn die meisten Todesopfer seien Leute, „die der Aufforderung zur Evakuierung nicht nachgekommen“ seien. Dabei wusste Brown genau, dass man einer solchen Aufforderung schlecht nachkommen kann, wenn man kein Auto hat oder im Rollstuhl sitzt.

Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mag noch so sehr beteuern, dass zwischen dem Irak und „Katrina“ keinerlei Zusammenhang bestehe – es steht eindeutig fest, dass die Rettungs- und Hilfsoperationen von Anfang an eingeschränkt waren, weil mehr als ein Drittel der Nationalgarde von Louisiana im Irak stationiert ist.

Dabei hätte man in New Orleans jede Hilfe brauchen können. Die Notstandskommandozentrale im 9. Stock fiel schon früh aus, weil Diesel für die Notstromgeneratoren fehlte. Und Bürgermeister Nagin und seine Mitarbeiter waren zwei Tage von der Außenwelt abgeschnitten, weil ihre Telefone ausfielen. Der Kollaps des Kommando- und Kontrollsystems von New Orleans ist schon erstaunlich, denkt man an die 18 Millionen Dollar Bundeszuschüsse, die seit 2002 für Notstandsübungen ausgegeben wurden und eigentlich genau auf solche Fälle vorbereiten sollten.

Bereits im September 2004 hatte es heftige Kritik an Bürgermeister Nagin gegeben. Denn beim Nahen des Hurrikans „Ivan“ – ein Sturm der Stufe 3, der im letzten Moment von der Stadt abdrehte – hatte er nichts unternommen, um die armen Einwohner zu evakuieren – die reichen hatten sich in ihre Autos gesetzt und waren weggefahren. Nach dieser Erfahrung hatte die Stadtverwaltung 30 000 Videos produziert, die in den armen Vierteln verteilt werden sollten – wozu es allerdings nie kam. Die Videobotschaft lautete: „Wartet nicht auf die Stadt, wartet nicht auf den Staat, wartet nicht auf das Rote Kreuz … geht einfach weg.“ Das hieß im Klartext, die Armen sollten sich zu Fuß aufmachen, denn Busse oder gar Züge für ihre Evakuierung waren in den staatlichen Plänen nicht vorgesehen. Als dann aber nach „Katrina“ verzweifelte Menschen zu hunderten aus der Stadt fliehen wollten, wurden sie auf der Brücke, die zum weißen Vorort Gretna führt, von der übernervösen Lokalpolizei zurückgetrieben, die Warnschüsse über ihre Köpfe hinwegfeuerte. Viele der Menschen, die in ihren versinkenden Wohnvierteln im Stich gelassen wurden, sahen das Versagen der Stadtverwaltung notgedrungen als Ausdruck der scharfen ökonomischen und ethnischen Trennlinien in der Gesellschaft. Es ist kein Geheimnis, dass die kommerziellen Eliten und ihre Verbündeten im Rathaus die schwarze Bevölkerung am liebsten aus der Stadt drängen würde. Schon wurden historische Sozialsiedlungen abgerissen, um Platz für gehobene Stadthäuser und ein Wal-Mart-Kaufhaus zu schaffen. In anderen Sozialwohnungen ist es üblich geworden, die Mieter wegen kleinster Rechtsverstöße an die Luft zu setzen, etwa wenn ihre Kinder sich gesetzwidrig spätabends auf der Straße aufhalten.

Als Endziel schwebt diesen Leuten offenbar ein Las Vegas am Mississippi vor: ein touristischer Themenpark, der die chronische Armut wegblenden würde, die man jenseits der Stadtgrenze in den umliegenden Feuchtgebieten, in Wohnwagensiedlungen und in den Gefängnissen verstecken will.

Manch einer freut sich sogar über die Tabula rasa

So überrascht es kaum, dass manche Leute, die von einem weißeren und sichereren New Orleans träumen, in „Katrina“ eine göttliche Fügung sehen. Ein führender Republikaner aus Louisiana vertraute einem Lobbyisten in Washington an, was er denkt: „Endlich haben wir den ganzen sozialen Wohnungsbau in New Orleans abgeräumt. Wir hätten das nicht tun können, aber jetzt hat es Gott getan.“11 Auch Bürgermeister Nagin frohlockte angesichts der leeren Straßen und zerstörten Wohnviertel: „Diese Stadt ist zum ersten Mal frei von Drogen und Gewalt, und wir sind fest entschlossen, dass das so bleiben soll.“ Die „ethnische Säuberung“ eines Teils von New Orleans würde auf einen Fait accompli hinauslaufen, bei dem die lokalen und die Bundesbehörden sich nicht einmal groß bemühen müssten, bezahlbaren Wohnraum für zehntausende arme Mieter bereitzustellen, die derzeit über das ganze Land verstreut in Flüchtlingsunterkünften leben. Schon wird heftig diskutiert, ob man nicht dort, wo die ärmsten gefährdeten Viertel liegen, Wasserrückhaltebecken anlegen könnte, um die reicheren Wohngebiete der Stadt zu schützen. Das würde bedeuten, wie das Wall Street Journal hervorhebt, „dass einige der ärmsten Einwohner von New Orleans nie wieder in ihre Wohnviertel zurückkehren dürfen“.

Allen Beteiligten ist klar, dass der Wiederaufbau der Stadt und der übrigen betroffenen Gebiete sich zu einem erbitterten Kampf entwickeln wird. Bürgermeister Nagin hat bereits die Ziele der örtlichen Interessenten abgesteckt, denen ein schickes neues New Orleans vorschwebt. Er kündigte die Berufung einer hochkarätig besetzten Wiederaufbaukommission an, wobei die 16 Mitglieder je zur Hälfte Weiße und Schwarze sein sollen, obwohl in New Orleans drei von vier Einwohnern Schwarze sind. Zudem werden die Viertel, in denen sich die Weißen verschanzen (und wo der Neonazi David Duke zu Beginn der 1990er-Jahre seine schockierenden Wahlerfolge erzielte) aggressiv für ihre Interessen eintreten. Und auch die mächtige republikanische Elite von „Big Easy“ lässt bereits verlauten, dass sie gegenüber den Demokraten nicht die zweite Geige spielen wird. Bei diesem Interessenkonflikt dürften die traditionell schwarzen Viertel – wo die Lebensfreude und die Jazzkultur von New Orleans ihr wahres Zuhause haben – nicht viel zu melden haben.

Inzwischen hofft die Bush-Regierung, durch eine Kombination von ungehemmter Staatsverschuldung und fundamentalistischer Gesellschaftspolitik ihre Scharte wieder auswetzen zu können. Doch zunächst hat „Katrina“ die Popularität des Präsidenten derart steil abstürzen lassen – und „kollateral“ auch die Zustimmung zur Besetzung des Irak –, dass auf einmal sogar die politische Vorherrschaft der Republikaner gefährdet scheint. Erstmals seit den gewalttätigen Unruhen in Los Angeles von 1992 war die öffentliche Debatte zeitweise von „traditionell demokratischen“ Themen wie Armut, soziale Rassendiskriminierung und öffentliche Investitionen dominiert. Und das Wall Street Journal ermahnte die Republikaner bereits, „wieder in die politische und intellektuelle Offensive zu gehen“, bevor linksliberale Politiker wie Ted Kennedy auf New-Deal-Rezepte zurückgreifen und etwa eine starke Bundesbehörde fordern, die für Maßnahmen zur Flutabwehr und zum Rückbau der Uferzone an der Golfküste zuständig wäre.12

Auf dieser Linie liefen auch die von der Heritage Foundation organisierten ganztägigen Diskussionen. In diesem Kreis basteln konservative Ideologen, wichtige Kongressmitglieder und Gespenster aus der republikanischen Vergangenheit – wie etwas Nixons Justizminister Edwin Meese – an einer Strategie, die Bush vor den unguten Folgen der „Katrina“-Pleite bewahren soll.

Ein erstes Resultat war die Wiederaufbau-Rede, die Bush am 15. September in New Orleans vor der grell ausgeleuchteten, aber menschenleeren Kulisse des Jackson Square vortrug. Ein unglaublicher Auftritt: Gut gelaunt versicherte Bush den 2 Millionen „Katrina“-Opfern, dass das Weiße Haus den größten Teil der Rechnung für die Flutschäden begleichen werde. Die schätzungsweise 200 Milliarden Dollar würden allerdings auf eine Staatsverschuldung hinauslaufen, bei der es sogar Keynes schwindelig würde (zumal der Präsident weiterhin riesige Steuernachlässe für die Superreichen plant). Anschließend bediente er seine politische Basis mit einem Traumkatalog lang ersehnter Sozialreformen: staatliche Schecks für Schulgeld und Mieten, eine zentrale karitative Rolle für die Kirchen, eine Lotterie zur Förderung des Wohnungsbaus, umfassender Abbau der Unternehmensteuern, Schaffung einer steuerbegünstigten „Gulf Opportunity Zone“ und Beseitigung lästiger staatlicher Vorschriften. Entfallen sollen damit, wie man im Kleingedruckten nachlesen kann, auch die geltenden Lohnsätze im Baugewerbe und die Umweltschutzvorschriften für die Erdölförderung vor der Golfküste.

Für Kenner der Bush-Rhetorik war die Rede auf dem Jackson Square ein Déjà-vu-Erlebnis: Hatte er ähnliche Versprechen nicht auch am Ufer des Euphrat abgegeben? Paul Krugman merkte in der New York Times sardonisch an, das Weiße Haus wolle offenbar, nachdem es nicht gelungen sei, den Irak „in ein Laboratorium für konservative Wirtschaftspolitik“ zu verwandeln, seine Experimente künftig an den traumatisierten Einwohnern von Biloxi und New Orleans ausprobieren.13 Der Kongressabgeordnete Mike Pence, führendes Mitglied der mächtigen Republican Study Group, die für den Präsidenten ein Wiederaufbauprogramm erarbeitet hat, machte die bombastische Ankündigung, die Republikaner würden die von „Katrina“ hinterlassene Trümmerlandschaft in ein kapitalistisches Utopia verwandeln: „Wir wollen die Golfküste zu einem Magneten für die freie Wirtschaft machen. Auf keinen Fall wollen wir an der Stelle des ehemaligen New Orleans eine staatlich hochgepäppelte Stadt errichten.“14

So ist es kein Zufall, dass die Abteilung des Army Corps in New Orleans von derselben Person geleitet wird, die früher für die Vergabe staatlicher Aufträge im Irak zuständig war. In New Orleans werden Viertel wie das Lower Ninth Ward vielleicht nie wieder erstehen, aber im French Quarter können sich die Besitzer der Bars und Striplokale schon heute auf die fetten Jahre freuen, wenn die Arbeiter von Halliburton, die Söldner von Blackwater und die Ingenieure von Bechtel ihre aus Bundesmitteln finanzierten Löhne in die Bourbon Street tragen. In der Altstadt von New Orleans und im Weißen Haus gilt dieselbe Devise: „Laissez le bon temps rouler!“

Fußnoten: 1 Qurin Schiermeier, „The Power of Katrina“, in: Nature 437/8 vom 8. September 2005, S. 174. 2 Der Davis-Bacon-Act wurde 1931 nach der Überschwemmungskatastrophe am Mississippi beschlossen. Er bestimmt, dass bei öffentlich finanzierten Wiederaufbauarbeiten die in der Region üblichen Löhne nicht unterboten werden dürfen. 3 Zit. n. Los Angeles Times, 5. September 2005. 4 Die Studie ist beschrieben in: Richard Campanella, „Time and Place in New Orleans: Past Geographies in the Present Day“, Los Angeles (Gretna) 2002, S. 58. 5 In der Küstenregion von Louisiana gehen jährlich schätzungsweise 60 bis 100 Quadratkilometer Feuchtgebiete verloren. 6 John Travis, „Scientist Fears Come True as Hurricane Floods New Orleans“; Science 309 (9. September 2005), S. 1657. 7 Mark Fischetti, „Drowning New Orleans“, Scientific American, October 2001, S. 76–85. Siehe auch Mark Schleifstein und John McQuaid, „The Big One“, The Times-Picayune, 2002 sowie www.nola.com. 8 Die Schätzungen stammen von Alfred C. Naomi, einem hohen Beamten des Army Corps, der in der New York Times vom 1. September 2005 zitiert wird. 9 Editorial in der New York Times vom 13. September 2005. Fairerweise muss gesagt werden, dass Washington viel Geld für Louisiana bereitgestellt hat, das aber vor allem in öffentliche Projekte floss, die nicht mit dem Schutz vor Hurrikans zu tun hatten, sondern der Schifffahrtsindustrie und den Regionen mit klarer republikanischer Mehrheit zugute kamen. 10 Ken Silverstein, „Top Fema Jobs: No Experience Required“, Los Angeles Times, 9. September 2005. 11 So der Abgeordnete Richard Baker aus Baton Rouge, zit. n. The Wall Street Journal, 9. 9. 2005. 12 Wall Street Journal, Leitartikel v. 15. 9. 2005. 13 New York Times vom 16. September 2005. 14 Zit. n. The Wall Street Journal, 15. 9. 2005. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Mike Davis ist marxistischer Historiker und Buchautor. Bekannt wurde er vor allem durch seine 1990 veröffentlichte Stadt- und Sozialgeschichte „City of Quarz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Mike Davis