07.07.2016

Obamas letzte Chance

zurück

Obamas letzte Chance

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die jüngsten Debatten über die Entscheidung im Verfahren Citizens United machen deutlich, welch große Macht der Supreme Court hat und wie stark er politische Prozesse und Wahlen beeinflussen kann. So ist der oberste Gerichtshof selbst zu einem Wahl­kampf­the­ma geworden.

Anfang 2016 bestand der Gerichtshof aus vier konservativen Richtern1 , die von Republikanern nominiert worden waren, und vier liberalen2 , die demokratische Präsidenten benannt hatten. Das neunte Mitglied, Anthony Kennedy, wurde 1988 von Ronald Reagan ausgewählt und ist keinem der beiden Lager zuzuordnen: Er stimmt meistens mit den Republikanern; bei Fragen, die Grundrechte berühren, manchmal aber auch mit den Demokraten. Zum Beispiel hat er bei der Entscheidung über gleichgeschlechtliche Eheschließungen das Mehrheitsvotum formuliert, das diese Partnerschaften legalisierte.3

Von den neun Richtern waren Anfang des Jahres vier älter als 79 Jahre. Damit ist es sehr wahrscheinlich, dass der nächste Präsident ein oder mehrere Mitglieder des obersten Gerichtshofs berufen kann. Der überraschende Tod des strikt konservativen Richters Antonin Scalia am 13. Februar 2016, knapp 300 Tage vor Ablauf der Präsidentschaft von Barack Obama, hat diesen Ablösungsprozess beschleunigt.

Dieser Todesfall gibt Obama vor dem Ausscheiden aus dem Amt noch die Möglichkeit, die ideologische Ausrichtung des Supreme Court zu verändern. Aber der Senat, der den vom Präsidenten ausgewählten Kandidaten bestätigen muss,4 wird es ihm allen Anschein nach nicht leicht machen.

Nicht einmal eine Stunde nach Bekanntwerden des Todes von Richter Scalia lehnte der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, kategorisch das Ansinnen ab, einen von Präsident Obama ausgewählten Bewerber überhaupt anzuhören. „Es kommt nicht infrage, dass ein Präsident am Ende seiner Amtszeit einen Richter nominiert“, erklärte er am 20. März in einem Interview auf CNN.

Dabei hat McConnell unterschlagen, dass es so etwas bereits 1916, 1932 und 1988 mit den Präsidenten Wilson, Hoover und Reagan gegeben hat. Der Republikaner erklärte, die Entscheidung liege beim Volk, „und das Volk wird sie bei der Wahl treffen“. Allerdings gibt die Verfassung der USA dem Volk gerade bei diesem Verfahren wenig Mitsprachemöglichkeiten. Das ist dem Mehrheitsführer ziemlich egal, er will die Entscheidung auf jeden Fall bis November hinauszögern, ungeachtet des Drucks aus dem Weißen Haus.

Obama hat bereits Mitte März erklärt, dass sein Kandidat Merrick B. Garland ist, der hochangesehene Präsident des Berufungsgerichts des District of Columbia, dem auch Richter Scalia angehört hatte. Die Gruppe Alliance for Jus­tice hat 450 Entscheidungen von Richter Garland untersucht und kam zu dem Schluss, dass er als Gemäßigter betrachtet werden könne. Trotzdem bleiben die Republikaner bei ihrem Widerstand, und außer einigen „Höflichkeitstreffen“ hat es in der Sache keine Bewegung gegeben.

Am 18. Mai hat Donald Trump eine Liste mit elf Kandidaten veröffentlicht. Auf ihr stehen lauter konservative Weiße: etwa William Prior, Richter am Berufungsgericht des elften Gerichtsbezirks,5 ein erbitterter Abtreibungsgegner; Don Willett, der zur Wahlkampfmannschaft von ­George W. Bush gehörte und vor seiner Berufung an den obersten Gerichtshof seines Heimatstaats Texas für Bush gearbeitet hat; und Diane Sykes. Die wohl die konservativste Kandidatin auf der Liste wurde von George W. Bush an das ­Berufungsgericht des siebten Gerichtsbezirks geholt. Weil Trump als Präsidentschaftskandidat im republikanischen Lager umstritten ist,6 möchte er der Parteiführung, allen voran Paul Ryan, dem mächtigen Sprecher im Repräsentantenhaus, Beweise seiner konservativen Haltung liefern.

Dass der Supreme Court im Präsidentschaftswahlkampf eine so große Rolle spielt, liegt daran, dass das Gericht in den nächsten Jahren über viele wichtige Themen zu entscheiden hat: über die Todesstrafe (mindestens ein Fall pro Jahr), über Maßnahmen zur positiven Diskriminierung, die Abtreibungsfrage, das Gesetz zur Krankenversicherung, das Wahlrechtsgesetz, das in den letzten Jahren mehrfach verschoben wurde,6 und die Rechte der Gewerkschaften. Je nach dem Ausgang der Präsidentschaftswahl und der davon abhängenden Richterernennungen wird der Gerichtshof in diesen Fragen, die alle einen ideologischen Hintergrund haben, zu der einen oder anderen Seite tendieren.⇥Anne Deysine

1 Antonin Scalia, nominiert von Ronald Reagan 1986; Clarence Thomas, ausgewählt von George Bush 1991; John Glover Roberts jr. und Samuel Alito, berufen von George W. Bush 2005 und 2006.

2 Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer, durch Bill Clinton 1993 und 1994; Sonia Sotomayor und Elena Kagan, unter Barack Obama 2009 und 2010.

3 Entscheidung Obergefell v. Hodges vom 26. Juni 2015.

4 Nach der Verfassung wird jeder Richter mit Zustimmung des Senats vom Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Seit 1969 wurden sieben Kandidaten abgelehnt.

5 In den Vereinigten Staaten gibt es ein Bundesberufungsgericht und zwölf Berufungsgerichte, die für jeweils einen Gerichtsbezirk (circuit) zuständig sind.

6 Siehe Brentin Mock, „Wählen in den USA“, Le Monde diplomatique, Oktober 2014.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016