07.07.2016

Regale leer, alle korrupt

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Regale leer, alle korrupt

von Loïc Ramirez

Die Augen von Chávez sind überall IVAN ALVARADO/reuters
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Der Mann tritt wütend gegen die Kartons mit Nahrungsmitteln. Er hat keine Lust, weiter zu warten, bis endlich der Jugendminister kommt und die Verteilung der Lebensmittel losgeht. „Lass das bleiben!“, herrscht ihn eine Frau an. Der Ungeduldige verlässt den Raum, in dem die Mitglieder des Lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion (CLAP) versammelt sind – es sind fast ausschließlich ­Frauen.

Diese Komitees wurden im April gegründet, um der Unterschlagung von Nahrungsmitteln und der Spekulation damit entgegenwirken, die nach Meinung der venezolanischen Regierung der Grund für die leeren Regale in den Geschäften sind. Mit Hilfe verschiedener Organisationen – wie eben der CLAP – verteilt der Staat an alle Bürger Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl und Öl, die derzeit nur noch auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen erhältlich sind. Ein Kilo Milchpulver, das offiziell 70 Bolívar kostet,1 wird auf der Straße für das Dreißigfache gehandelt.

Endlich beginnt die Verteilung. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen schon mal ohne den Minister anfangen“, sagt Jesús Guzman, der selbst im Viertel wohnt. „Sonst hätten ihn die Leute gleich mit Beschimpfungen empfangen.“ Schwer beladen mit den kostbaren Gütern machen sich die Mitglieder des Komitees auf zu ihrer Runde, es geht in die Wohnblocks von Hornos de Cal, einer Hochhaussiedlung im Viertel San Agustín von Caracas.

„Für welche Zeitung arbeitest du? Gehörst du in deinem Land einer politischen Organisation an? Was sind deine ersten Eindrücke von Caracas?“, fragt jemand mit einigem Nachdruck. Jemand, dessen Gesicht hinter großen Brillengläsern verborgen ist. Es ist Yurami Quintero, die stellvertretende Jugendministerin. Viel Vertrauen in ausländische Journalisten scheint sie nicht zu haben. Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt sie die Arbeit mitten in ihrer sechsköpfigen Gruppe wieder auf. Stockwerk für Stockwerk und einer genauen Liste folgend verteilen sie die Verpflegungssäcke, die zu reduzierten Festpreisen verkauft werden. In den Fluren stehen die Türen der Wohnungen offen, Kinder strecken die Köpfe hinaus, die Bewohner hören mit, was gesprochen wird.

„Wir stecken mitten in einem Wirtschaftskrieg“, wettert Rodbexa Poleo, Abgeordnete der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), die ein Trikot der Nationalmannschaft trägt. „Wir sind hier, um euch zu zeigen, dass die Revolution euch verteidigt, dass wir mit dem Volk sind!“ Dann ist Frau Quintero dran, sie spricht in ruhigerem Ton: „Die CLAP sind kein Allheilmittel, aber immerhin ein Anfang. Dank der Komitees können wir die Mafia, die uns bestiehlt, wirksam bekämpfen.“

Mit „Mafia“ sind die Unternehmer gemeint, denen die Regierung die Verantwortung für das wirtschaftliche Chaos anlastet: Sie sollen die Produktion und, noch schlimmer, die Importe unterbrochen haben – in einem Land, das einen Großteil seiner Konsumgüter einführen muss. Am 31. Mai kritisierte der PSUV-Abgeordnete Ricardo Molina im Fernsehen die Vernichtung von 3 Millionen Eiern, die eigentlich von der Firma Ovomar hätten verkauft werden sollen. „Und die Milch!“, sagt der PSUV-Unterstützer Charles Ruiz. „Wir haben schon öfter gesehen, dass mehrere tausend Liter Milch auf die Straße geschüttet wurden. Das passiert auf Anordnung von Unternehmern, die Mangel schaffen wollen.“ In den Geschäften fehlen sämtliche Grundnahrungsmittel. Auf dem Schwarzmarkt explodieren die Preise und heizen die Inflation an, die nach Schätzungen des IWF im Jahr 2016 etwa 700 Prozent erreichen wird. Die Säcke, die an diesem Morgen Ende Mai verteilt werden, enthalten Zucker, Milch, Mehl, Öl, Reis und Nudeln – zum Gesamtpreis von 475 Bolívar, weniger, als ein Kilo Milchpulver auf dem Schwarzmarkt kostet.

In einem kleinen Hof im Armeleute­viertel Barrio Marín hilft die Kulturarbeiterin Martha Gonzalez ein paar jungen Leuten, eine Wand zu bemalen: In dieser Krisenzeit sollen sie sich wenigstens künstlerisch betätigen können. „Die CLAP funktionieren nicht überall so gut“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Das Problem unseres Landes ist die Korruption – und zwar nicht nur in den obersten Rängen. Jeder ist beteiligt: die Sekretärinnen, die Zollbeamten, der Lieferant, der Waren unterschlägt, um sie an Freunde weiterverkaufen, die sie dann auf dem Schwarzmarkt verscherbeln. Kurz: Die Korruption betrifft alle, die Venezolaner bestehlen die Venezolaner.“

Um uns herum haben Kinder ein Basketballspiel auf der Straße begonnen, vor den leuchtenden Farben der Wandgemälde. „Die Regierung tut nichts! Weil sie korrupt ist, natürlich! Inzwischen herrscht hier allgemein die Stimmung: Rette sich, wer kann. Jeder kennt die Geschichte vom Verbrecher, der dem Polizisten, der ihn verhaften will, 10 000 Bolívar anbietet. Der Polizist weigert sich und bringt ihn auf die Wache, wo der Mann gleich wieder rauskommt. ‚Du bist echt blöd: Dein Chef hat mich für 5000 rausgelassen!’“

Victor, der zum Kollektiv Comando Creativo gehört, arbeitet an Marthas Seite. Er hat bereits eine ganze Reihe Fresken gemalt, die man jetzt bewundern kann. Er trägt eine große Mütze und ein T-Shirt in Rot, der Farbe der Chavisten, und er redet mit ausgreifenden Handbewegungen, als müsste er sich wie ein Boxer gegen einen unsichtbaren Gegner verteidigen. „Hier gibt es alles! Aber nur schwarz. Und alle machen mit.“ Er hat beobachtet, wie eine Frau, deren Ausweisnummer gerade zum Einkaufen dran war, sich frühmorgens um Windeln angestellt hat. „Dabei hat die gar keine Kinder! Sie hat die Ware dann eingepackt und auf dem Bürgersteig gegenüber für das Zehnfache weiter verkauft.“

Auf dem Schwarzmarkt mischen alle mit

Charles Ruiz hat ein weiteres Beispiel parat: Der Bäcker kauft sein Mehl bei einem bachaquero, einem Spekulanten, der mit preisgebundenen Produkten handelt. „Da der Mehlpreis offi­ziell festgelegt ist, kann er es nicht weiterverkaufen. Also muss er Brot damit backen, das dann sehr teuer gehandelt wird.“ Er zeigt auf die Warteschlange vor einer Bäckerei: „Auch die Kunden, die das Brot kaufen, wissen das.“

All dies führe zu einer Flucht in den Individualismus, meint Victor. „Die Menschen haben nicht das Gefühl, dass sie zu einer politischen Gemeinschaft gehören.“ Auf die Frage, warum der Staat solche Praktiken nicht schärfer verfolge, die doch dem von Präsident Maduro und zuvor von Hugo Chávez proklamierten Sozialismus zuwiderliefen, erwidert Victor nur desillusioniert: „Das ist die große Frage.“

Andere, wie der Journalist Eduardo Rothe vom Sender TeleSur, haben da durchaus Antworten. „Weder die Produktion noch die Importe sind zurückgegangen: Sie liegen seit Jahren auf demselben Niveau. Aber bei der Verteilung hat sich einiges geändert. Alles, was du im Geschäft nicht findest, bekommst du draußen.“ Der Wechsel vom gewöhnlichen zum illegalen Handel hat einen riesigen Schattenmarkt entstehen lassen, an dem viele verdienen und von dem viele abhängig sind. „Das ist eine kollektive Angelegenheit“, sagt Rothe. „Diese Regierung ist nicht diktatorisch: Sie will es sich nur nicht mit so vielen Menschen verderben.“

Im Fernsehen läuft in Dauerschleife ein staatlicher Werbeclip: In einem Klassenzimmer fragt die Lehrerin ihre Schüler, was sie später einmal werden wollen. Einer antwortet, er werde bachaquero, wie sein Vater. Der Spot endet mit der Ermahnung, Schmuggel sei illegal und unmoralisch, im Gegensatz zu fleißiger, ehrlicher Arbeit. Dass eine solche Sensibilisierungskampagne das Problem lösen wird, ist indes unwahrscheinlich.

Die wirtschaftliche Schwäche des venezolanischen Staats ist nicht neu. Sie beruht vor allem auf der Abhängigkeit von den Öleinnahmen.2 „Schon in den 1930er Jahren hat der Ökonom Alberto Adriani gefordert, die Wirtschaft in den Bereichen Viehzucht, Landwirtschaft und Industrie weiterzuentwickeln“, erklärt uns Carlos Mendoza Potellá, der für das Presseorgan der Zentralbank von Venezuela verantwortlich zeichnet und an seinem Schreibtisch hinter aufgereihten Öl- und Schwefelproben sitzt. „Adriani forderte, man müsse ‚das Öl hinter sich lassen‘. Wir haben aber nie diversifiziert. Und wie soll man das Öl hinter sich lassen, wenn es Unmengen davon gibt?“ Venezuela verfügt über die größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt, was paradoxerweise dazu geführt hat, dass nicht in die produktive Industrie investiert wurde. Dies führe zu einer karibischen Variante der „holländischen Krankheit“,3 wie Mendoza Potellá erläutert: „Die Einkünfte aus dem Ölverkauf ins Ausland erhöhen unsere Importmöglichkeiten und verringern durch die Aufwertung unserer Währung unsere Wettbewerbsfähigkeit in anderen Exportbranchen.“

Auch Hugo Chávez hatte während seiner Regierungszeit (1999 bis 2013) vergeblich versucht, diese strukturelle Schieflage zu beheben. Potellá erzählt: „Ein Freund von mir, Agrarwissenschaftler, reiste vor ein paar Jahren in die landwirtschaftlich produktivste Region im Bundesstaat Barinas im Herzen des Landes. Er musste lange mit dem Helikopter fliegen. Von oben sah er plötzlich gelbe und grüne Flecken. Er landete, um nachzusehen, worum es sich handelte. Es waren riesige Parkplätze, auf denen abgestellte Traktoren vor sich hin rosteten: grüne John Deere und gelbe Caterpillar. Was bedeutet das? Die Leute hatten sich die Landwirtschaftskredite gesichert und Traktoren gekauft. Aber nichts damit angestellt.“ Ansonsten, fährt er fort, „sind die Subventionen für die Landwirtschaft in die Immobilienspekula­tion in Caracas gewandert“.

Welche Verantwortung trägt dafür der 2013 verstorbene charismatische Präsident? Unser Gesprächspartner lächelt: „Was hat Chávez bei seinem Amtsantritt im Jahr 1999 getan? Sein erstes Thema war nicht die Wirtschaft, sondern die soziale Lage: Mangelernährung und fehlender Wohnraum. Das werfe ich ihm nicht vor, denn das waren die unmittelbaren Anforderungen der menschlichen Solidarität. Aber auf diese Weise kann man die Produktivität eines Landes nicht verbessern.“ Die Entscheidung des Präsidenten sei nachvollziehbar, doch sie hatte schwerwiegende Folgen. Wie beim Energieverbrauch, der dank der Umverteilung des Reichtums anstieg, wuchsen seit Chávez’ Machtübernahme auch die Nahrungsmittelimporte stetig. Von 1,4 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 6,5 Milliarden 2013. Die Venezolaner haben ihren Konsum seither nicht zurückgeschraubt, aber der Bolívar verlor dramatisch an Wert, und so verschärfte sich das Problem.

Weder der „Wirtschaftskrieg“ noch die Fokussierung des Chavismus auf soziale Anliegen reichen nach Mendo­zas Ansicht aus, um den aktuellen Mangel zu erklären. Zum Beispiel der Zucker: „Die Regierung besitzt alle Zuckerfabriken, sie hat sie enteignet. Aber mit der gesamten Produktion lässt sich nicht mal der nationale Bedarf decken. Alles steht still, das Zuckerrohr wird nicht geerntet. Ist das Sabotage oder Ineffizienz? Sie werden sagen, dass ich wie ein Oppositioneller rede, aber die Korruption ist überall!“ Laut einer Studie der venezolanischen Consultingfirma Ecoanalítica wurden bei den Importen zwischen 2003 und 2012 „ungefähr 70 Milliarden Dollar unterschlagen. Bei 20 Prozent der Importe von Privatfirmen und 40 Prozent der Einfuhren von staatlich geführten Unternehmen oder Agenturen lag Betrug vor.4 Mendoza kommt zu einem naheliegenden Schluss: „Wir haben die kapitalistische Logik nicht durch eine sozialistische ersetzt, sondern durch die Logik einer korrupten Verwaltung.“

Korruption – während unseres gesamten Besuchs gibt es kein Gespräch, in dem das Wort nicht fällt. Viele werfen der Regierung ihre „Schwäche“ im Kampf gegen dieses Übel vor. „Sie will nicht zu streng sein, weil sie Angst hat, der Beliebtheit des Präsidenten zu schaden“, meint Fermin Sandoval, der in Petare einen lokalen Radiosender betreibt. „Aber egal, ob sie Druck ausübt oder nicht, die großen Medien werden immer sagen, dass Venezuela eine Diktatur ist.“

Ein glänzender neuer SUV biegt in eine Straße am Bolívar-Platz, benannt nach dem Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar (1783 bis 1830), den Hugo Chávez zu seinem Helden machte. Wir fragen zwei rot gekleidete junge Frauen auf einer Caféterrasse, ob das Auto einem Mitglied jener „Eliten“ gehöre, die von den bolivarischen Revolutionären angeklagt werden? Sie verdrehen die Augen: „Das ist wohl eher der Wagen eines Ministers oder eines PSUV-Granden!“ Alle Aussagen, die wir sammeln, gehen in die gleiche Richtung: Die Kluft zwischen dem Lebensstil mancher Parteifunktionäre und dem ihrer Parteibasis hat zu einer politischen Spaltung geführt.

Das wird nirgendwo so deutlich wie im Viertel 23 de Enero. Selbst in dieser Stammhochburg der venezolanischen Linken, dem Zentrum des Widerstands während der rebellischen 1960er Jahre und auch der folgenden Jahrzehnte, siegte die Opposition bei den Wahlen vom 6. Dezember 2015, die dem Chavismus im ganzen Land eine schwere Niederlage bescherten.5

„Sie hatten nur 20 Stimmen mehr!“, betont Juan Contreras, ein engagiertes Parteimitglied im Viertel. Er empfängt uns im Radiosender Al Son del 23, den die chavistische Gruppe Coordinadora Simon Bolívar betreibt. „Unsere Büros befinden sich in einem ehemaligen Kommissariat, wo in den 1960er Jahren Linke gefoltert wurden. Es war uns sehr wichtig, solche Orte wieder zu besetzen.“ Auf den Fassaden prangen die Konterfeis von Che Guevara und Simón Bolívar neben propalästinensischen Graffiti. Für viele war Contreras der geeignete Kandidat des Viertels. Doch die PSUV-Führung bevorzugte eine Überraschungskandidatin. „Ein Fehler“, meint der alte Aktivist bescheiden.

Solche Vorgehensweisen erklärten die Wahlniederlage im letzten Dezember, meint Eduardo Rothe. Die PSUV sei weniger an einer überwältigenden Mehrheit für die Opposition denn an mangelnden Stimmen für das chavistische Lager gescheitert.

„Die Wahlen fanden ordnungsgemäß statt“, unterstreicht er. „Kein Betrug. Aber die Partei mit ihrem Bürokratismus hat den Ast abgesägt, auf dem sie sitzt, als sie die von der Basis vorgeschlagenen Kandidaten nicht akzeptiert hat.“ Im Viertel 23 sagen viele, sie seien aus Protest nicht zur Wahl gegangen.

Jetzt rücken die Chavisten wieder zusammen. Am 1. Juni versammelte sich die chavistische Jugend in der Hauptstadt zu einer Solidaritätskundgebung für die Regierung. Hunderte Schüler und Studenten marschierten durch die Straßen, skandierten regierungstreue Parolen und schwenkten die Fahnen von Venezuela oder Kuba. Am Miraflores-Palast wurde die Menge von Präsident Maduro empfangen, der unter Beifall zahlreiche Hände schüttelte.

Die Linken träumen von einer neuen Verfassung

Fidel Barbarito, früher Kulturminister in Maduros erstem Kabinett und Dozent an der Universidad Nacional Experimental de las Artes, sieht darin, wie viele Chavisten, ein ermutigendes Signal: Trotz der großen Demonstrationen der Opposition könne das bevorstehende Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten6 gewonnen werden. „Wir befinden uns in einer Zeit der Radikalisierung: Die Masken sind gefallen. Die verzweifelte Rechte, die die Interessen der USA vertritt, hat ein neues Szenario geschaffen. Es ist jetzt wirklich ein Krieg.“

Der Radiomacher Sandoval berichtet uns von einem Vorfall, den er für bezeichnend hält: „Diese Woche gab es einen bewaffneten Angriff gegen die Polizei, hier in Petare! Maskierte Typen schossen mit Maschinenpistolen – das sind Paramilitärs. Es war ein Test. Man wollte sehen, ob bei dem herrschenden Mangel so ein Angriff zur Initialzündung für soziale Unruhen werden kann. Im Augenblick ist die Mehrheit der Bevölkerung dazu nicht bereit, denn sie weiß, wer dahintersteckt; aber ich glaube, die Leute werden das alles irgendwann satthaben.“ Er vermag seine Besorgnis nur schlecht zu verbergen. „Warum setzt man in einem solchen Fall so junge Polizisten ein? Warum schickt die Regierung keine Spezialeinheiten?“

Fidel Barbarito erinnert daran, dass im Sommer 2015 die „Operationen zur Befreiung des Volkes“ (OLP) mit neuen Ordnungseinheiten unter der Federführung der Armee begonnen haben. „Dabei ging es darum, paramilitärische Organisationen zu zerschlagen. Wir schrecken auch nicht vor physischen Auseinandersetzungen zurück.“ Auch wenn niemand Venezuela in der Hand von Paramilitärs sehen möchte, sprechen die Maßnahmen der OLP nicht gerade für eine friedliche Zukunft der Revolution.

Ruben Pereira, ein engagierter Chavist in Petare, ist zuversichtlich, dass der Präsident das Referendum übersteht. Aber das wird nicht reichen, glaubt er: „Eine Volksabstimmung löst keine Probleme. Wir gewinnen sie, und dann? Die Opposition ist doch immer noch da.“ Sein Lösungsvorschlag: „Eine verfassunggebende Versammlung. Wäre ich an Maduros Stelle, würde ich mein Amt und das Mandat der rechten Parlamentsmehrheit infrage stellen. Man muss noch mal zurück auf Anfang!“ Eine neue „Links­wende“ müsste seiner Meinung nach die Macht des Volkes stärken, die Basisorganisa­tio­nen, die parallel zu den staatlichen Institutionen existieren. Doch auch hier sind Zweifel angebracht: Falls Maduro das wollte, bekäme er dafür Unterstützung in einer Partei, von der jeder sagt, dass sie von Korruption zerfressen ist?

Martha Gonzalez ist nicht optimistisch, was den Ausgang des Referendums angeht, aber sie möchte auch keine Schwarzmalerei betreiben. Der Wahlschock von 2015 sei vor allem eine Niederlage der Boli-Bourgeoisie, also der Leute, die sich über den Parteiapparat bereichert haben. „Das ist auch in Ordnung, solange die Leute unsere Errungenschaften, die bolivarischen Missionen und Sozialprogramme im Kopf behalten. Sie werden sich das nicht nehmen lassen. Außerdem hat der Chavismus trotz des Wirtschaftskriegs 5 Millionen Stimmen bekommen. Das ist sein harter Kern – das ist enorm viel.“ Die entscheidende Frage sei, was die Menschen tun, die für die Opposition gestimmt haben, weil sie sich ein Ende der Mangelwirtschaft erhofften. Im Wahlspot des Oppositionsbündnisses MUD mit dem Titel „Die letzte Schlange“ stehen Bürger „zum letzten Mal“ vor den Wahllokalen Schlange, um die Chavisten zu vertreiben und damit den Mangel zu beseitigen.

„Bei einer solchen Mehrheit hätte man doch erwarten können, dass die Opposition im Parlament wirksame Wirtschafts- und Sicherheitsgesetze durchbringt“, meint Rothe. „Aber nein. Das Erste, was sie beschlossen haben, war ein Amnestiegesetz!“ Es schließt für die Zeit vom 1. Januar 1999 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes jede Strafverfolgung für Verbrechen wie „Beleidigung und Verleumdung“ von Staatsbeamten und die Teilnahme an den „Ereignissen des 11. April 2002 und der folgenden Tage“ aus. Damals war es zu einem Putsch gegen Chávez gekommen, der jedoch nach kurzer Zeit beendet war.

„Machen wir doch eine Umfrage bei allen, die für die Opposition gestimmt haben, weil sie dachten, dass sich ihre Lebensumstände verbessern würden“, schmunzelt Pablo Artiage, kommunistischer Aktivist in Petare. „Da werden wir keine große Begeisterung erleben.“ Tatsächlich hatte die Opposition jedoch noch keine Gelegenheit, sich in das Regierungsgeschäft einzumischen: Kaum war sie ins Parlament eingezogen, verhängte Präsident Maduro den Wirtschaftsnotstand, um seine Politik fortsetzen zu können.

Auf den Mauern und Fassaden von Caracas spiegelt sich die politische Lage des Landes wider, das sich in ständiger Auseinandersetzung befindet: Werbeplakate für Erfrischungsgetränke oder Schnellrestaurants machen den revolutionären Slogans und Chávez-Porträts der Platz streitig. Im Augenblick kann eine gesellschaftliche Explosion noch verhindert werden, dank „des Bewusstseins des Volkes“, wie die Chavisten sagen. Aber vor allem wohl aufgrund der tagtäglichen Arbeit der engagierten Parteibasis.

Früh am Morgen bilden sich bereits Schlangen auf den Bürgersteigen, vor Bäckereien, Apotheken, Geschäften und Banken. Die Menschen bleiben ­ruhig, lesen Zeitung oder unterhalten sich mit den Nachbarn. Die Einwohner von Caracas warten – wie lange noch?

1 Nach offiziellem Wechselkurs entsprechen 70 Bolivar 6,36 Euro. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man dafür 14 Eurocents.

2 Siehe Gregory Wilpert, „Venezuelas Öl und der Klassenkampf“, Le Monde diplomatique, Dezember 2013.

3 Zuerst wurde dieses außenwirtschaftliche Paradoxon nach der Entdeckung der Erdgasvorkommen in Holland in den 1960 Jahren beobachtet: Reichtum an Rohstoffen und Außenhandelsüberschüsse hemmen die industrielle Entwicklung eines Landes.

4 William Neuman und Patricia Torresmay, „Venezuela’s economy suffers as import schemes siphon billions“, New York Times, 5. Mai 2015.

5 Die Opposition errang 109, die PSUV nur 52 von insgesamt 167 Sitzen in der Nationalversammlung. Vgl. Gregory Wilpert, „Sturmwarnung für Venezuela“, Le Monde diplomatique, Januar 2016.

6 Das von der Opposition geforderte Referendum wurde im April vom Parlament beschlossen. Am 7. Juni bestätigte der Nationale Wahlrat (CNE) die Gültigkeit der eingereichten Unterschriften, nachdem die Regierung zuvor von Fälschungen gesprochen hatte.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Loïc Ramirez ist Journalist, Autor von: „La Rose assassinée“, Paris (Notes de la Fondation Gabriel-Péri) 2015.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Loïc Ramirez