07.07.2016

Überwachen und Strafen in China

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Überwachen und Strafen in China

von Zhang Zhulin

Der Hongkonger Buchhändler Lam Wing-kee weigerte sich, für China zu spionieren KIN CHEUNG/ap
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Xu Qin wird als einer der reichsten Männer Chinas vorgestellt – und als Betrüger. Zumindest hat er das am 16. Mai „gestanden“ – nicht vor Gericht, sondern im Fernsehen, auf Dragon TV. Seit etwa drei Jahren tauchen derartige Geständnisse im Chinesischen Zentralfernsehen (CCTV) auf. Ein Dutzend Prominente aus dem In- und Ausland, Journalisten, Geschäftsleute oder Anwälte haben sich inzwischen schon zur besten Sendezeit bei Partei und Land entschuldigt.

Die unglaublichste Geschichte erzählte der sinoschwedische Autor und Mitinhaber der bekannten Hongkonger Buchhandlung Causeway Bay Books, Gui Min-hai, der wie vier seiner Kollegen im Oktober 2015 auf einmal spurlos verschwand, um drei Monate später genauso plötzlich wiederaufzutauchen – in den 19-Uhr-Nachrichten am 17. Januar 2016. Er sei heimlich auf das chinesische Festland zurückgekehrt, gestand Min-Hai, weil er sich schwere Vorwürfe mache: Vor elf Jahren habe er den Tod einer Jugendlichen mitverschuldet.1

Eines der ersten Geständnisse legte am 29. August 2013 der Sinoamerikaner Xue Biqun ab. Der Star-Blogger, besser bekannt unter seinem Pseudonym Xue Manzi (Charles Xue), beichtete vor laufender Kamera, er habe eine Vorliebe für bezahlten Sex und Orgien, eine schlechte Gewohnheit, die er bei seinen Aufenthalten im Ausland angenommen habe. Xue Manzi, der auf Weibo, dem chinesischen Twitter, über 12 Millionen Follower hat, war wenige Tage zuvor von der Pekinger Polizei in Begleitung einer Prostituierten festgenommen worden.

Acht Monate später ließ man ihn erneut auf CCTV auftreten: „Ich habe ein Verbrechen begangen ... Ich hoffe, dass die Regierung mir die ­Chance gibt, einen Schlussstrich zu ziehen und ein neues Leben anzufangen. Ich bekenne meine Fehler. Ich werde das nicht wieder tun“, versicherte er. Am selben Tag wurde er auf Kaution freigelassen. Für Xue Manzi war der Albtraum damit vermutlich vorbei. Aber für andere, wie die Journalisten Chen Yongzhou, Gao Yu, Shen Hao, geht er weiter: Über 100 Journalistinnen und Blogger befinden sich derzeit in Haft oder Hausarrest.

„Sie können diese Art von Interview verweigern, aber sie haben auch die Pflicht, zu kooperieren“, erklärt uns einer der wenigen auskunftsbereiten Redakteure von CCTV. Er benutzt dafür eine typisch chinesische Redewendung, über die sich der Pekinger Anwalt Liu Jian­jun später wahnsinnig aufregen wird: „Eine einzelne Hand kann nicht applaudieren.“

Im Sommer 2015 wurde Liu Jianjun vier Wochen lang festgehalten, weil er als Anwalt eines Beamten, der wegen Korruption zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war, an einer 14-Personen-Demonstration vor dem Gericht von Weifang (Provinz Shandong) teilgenommen hatte. Es verschlug ihm die Sprache, als er sich am 22. Juni gemeinsam mit seinen Mitangeklagten in den CCTV-Nachrichten sah. „Die Polizei hatte mir dreimal versichert, wenn ich ein solches Gespräch führen würde, werde mein Name nicht genannt, und mein Gesicht würde unkenntlich gemacht“, berichtet Liu.

Die „sehr harten“ Haftbedingungen hatten ihn dazu bewogen, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Nach seinen Angaben hatten die Gefangenen täglich nur 20 Minuten Ausgang, obwohl ihnen offiziell zwei Stunden zustehen, eine morgens und eine nachmittags. Einfache Verdächtige würden „einem Klima des Terrors ausgesetzt, damit sie gehorchen, wenn sie wieder draußen sind“. Dabei ist es ihm ein Rätsel, warum die Staatsmacht sich so verbissen zeigt: „Ich habe weder politische Ambitionen noch wäre ich imstande, die Kommunistische Partei Chinas zu stürzen.“

Cheng Yizhong, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Nanfang Du­shi Bao, der 2004 festgenommen wurde, hat erzählt, wie die Staatsme­dien schon damals die Interviews inszeniert und den Häftlingen eine Falle gestellt haben. In Zivil gekleidete Jus­tiz­angestellte holten Cheng Yizhong aus der Zelle und führten ihn ins Büro des Staatsanwalts. Dort warteten ein paar junge Hochschullehrer auf ihn. Sie sagten, sie würden ihn sehr verehren; einer von ihnen zitierte sogar eines seiner Gedichte, und zum Mittagessen ließ der Staatsanwalt regionale Spe­zia­li­täten aus Chengs Heimat auffahren.

Dann tauchte eine Frau mit einem riesigen Kuchen auf. „Cheng, heute ist dein 39. Geburtstag“, sagte der Staatsanwalt. „Wir wissen noch nicht, wo du deinen 40. verbringen wirst, aber wir wünschen dir einen angenehmen Weg.“ Er reichte dem Häftling ein Plastikmesser und bat ihn, sich etwas zu wünschen, bevor er den Kuchen vor mehreren Fotografen anschnitt.

Cheng Yizhong dachte in diesem Augenblick an seine Familie, und ihm kamen die Tränen. Doch schnell wurde ihm klar, dass es ihnen genau um diese Tränen gegangen war. Sie wollten ihn weichklopfen, um eben diesen Augenblick festzuhalten.2

Auch Ausländer bleiben nicht verschont. Im August 2013 erschien der Brite Peter Humphrey, Privatdetektiv im Auftrag des Pharmagiganten Glaxo­Smith­Kline, in einer unscharfen Aufnahme auf CCTV. Er gestand, er habe chinesische Staatsbürger bestochen, damit sie ihm die Spitzel nennen, die den Behörden verrieten, an welche Beamte der Konzern Schmiergelder gezahlt hatte. Am 22. Januar war der Schwede Peter Dahlin an der Reihe, Gründer einer NGO, die Menschenrechtsanwälten zur Seite steht: Er bekannte sich zu Aktivitäten, die die na­tio­nale Sicherheit gefährdet hatten, und wurde anschließend ausgewiesen.

„Dass man die Leute zwingt, auf CCTV Geständnisse abzulegen, bevor sie überhaupt einem Richter vorgeführt werden, ist ein klarer Verstoß gegen chinesisches Recht“, meint He Weifang, Professor an der Universität Peking und einer der renommiertesten Juristen im Lande. „Wenn man bedenkt, dass die Medien Organe der Kommunistischen Partei sind und CCTV die Stimme der Regierung ist, kommt einem dieser Zwang, öffentlich seine Sünden zu bereuen, noch abscheulicher vor.“ Der Justiz bleibe danach gar nichts anderes mehr übrig, als das Urteil der Medien zu übernehmen.

Der renommierte Journalist Wen Tao3 kritisiert zwar ebenfalls, dass sich das Staatsfernsehen wie ein Gericht aufführe, vor dem man sich nicht verteidigen kann. Doch er sagt auch, dass es heute mehr Transparenz gebe als unter Präsident Hu Jintao (2002 bis 2012): „Zu Hus Zeiten erfuhren wir gar nichts von solchen Fällen. Jetzt kennen wir ein paar, aber nur diejenigen, bei denen die Regierung an einer Veröffentlichung interessiert ist.“ Dazu muss man wissen, dass Wen Tao 2011 verhaftet wurde und ohne jede Erklärung 83 Tage lang von der Außenwelt abgeschnitten war.

Der ehemalige CNN-Redakteur Huang Tianbo möchte auch lieber glauben, dass die Regierung selbst keine schlechten Absichten verfolgt: „Peking geht es eher um die Verbreitung von Informationen. Die Regierung ist streng und versucht mit solchen Exempeln abzuschrecken. Aber angesichts der demütigenden und zerstörerischen Urteile von CCTV gibt es keine Chance, zu widersprechen.“ Er findet es geschmacklos, wie das Staatsfernsehen den Fall von Xue Manzi präsentiert hat: „Stellen Sie sich vor, wie viele chinesischen Familien gerade bei Tisch saßen und gemeinsam mit ihren Kindern Xues Sexgeschichten mitanhören mussten. Auf jedem Fall ist es unseriös, die Medien zu benutzen, um jemanden zu demütigen.“

Ein Teil der Chinesen hat nichts gegen die Journalisten-Staatsanwälte einzuwenden; sie finden, die gehörten eben zum politischen System. Der Menschenrechtsanwalt Teng Biao sieht das ganz anders: „Diese Journalisten sind keine Opfer des Systems – sie nehmen aktiv daran teil und sind die Helfershelfer der Regierung.“

Die Fernsehgeständnisse erinnern an eine der schmerzvollsten Episoden der jüngeren chinesischen Geschichte. Während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) waren erzwungene öffentliche Geständnisse und demütigende Zurschaustellungen an der Tagesordnung.4 Manche Leute mussten ein Plakat tragen, anderen wurden die Haare geschoren, und Expräsident Liu Shaoqi (1959 bis 1968), dem vorgeworfen wurde, die Partei kapitalistisch zu unterwandern, stand am 5. August 1967 mit seiner Frau vor einer Million Menschen auf dem Tiananmen-Platz am Pranger, bevor man ihn zu Tode folterte.

Könnte sich dieser Albtraum unter dem allmächtigen Xi Jinping wiederholen? Immerhin war der Präsident selbst als Student mehrere Jahre lang aufs Land verbannt worden. Sein Vater Xi Zhongxun, einst Vizepräsident der Volksversammlung und Stellvertretender Ministerpräsident, war 1962 einer Säuberungswelle zum Opfer gefallen. Er wurde mit einer Tafel um den Hals, auf der sein Name und das Urteil „Aufrührer gegen die Partei“5 standen, öffentlich vorgeführt und landete für 15 Jahre im Gefängnis.

Im vergangenen März verlangte Zhu Zhengfu, Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV) und Vizepräsident der chinesischen Anwaltsvereinigung, das Ende der TV-Beichten. Das große Auf­sehen, das er damit in den Medien erregte, blieb jedoch bislang ohne politische Folgen. Mehrere Artikel auf der Website der Wirtschaftswochenzeitung Caixin wurden sogar zensiert.

„Die persönliche Würde der Bürger der Volksrepublik China ist unverletzlich“, zitiert der Pekinger Juraprofessor He Weifang Artikel 38 der Verfassung. Und im Strafgesetzbuch, Artikel 12, heißt es: „Ohne ein Urteil des Volksgerichts kann niemand für schuldig befunden werden.“

1 Min-hais Kollege Lam Wing-kee ist inzwischen wieder in Hongkong und nutzte seine Freiheit sofort für einen gefährlich offenen Bericht über seine Haft in China, vgl. Kai Strittmatter, „Geständnis nach Drehbuch“, Süddeutsche Zeitung, 18./19. Juni 2016.

2 Cheng Yizhong hat die Szene dem Journalisten Philip Pan geschildert, der sie in seinem Buch nacherzählt: „Out of Mao’s Shadow. The Struggle for the Soul of a New China“, New York (Simon & Schuster) 2009.

3 Wen Tao arbeitet für die Global Times, Nandu Zhoukan, den Sender Phoenix Chinese News and Entertainment (Phoenix CNE) und die Website Initium Media (Hongkong).

4 Siehe Li Zhensheng, „Roter Nachrichtensoldat – Ein chinesischer Fotograf in den Wirren der Kulturrevolu­tion“, Phaidon (Berlin) 2003. Zhensheng hatte die Negative seiner Aufnahmen unter den Holzdielen seiner Wohnung versteckt.

5 Mingjingnews, 2. Juli 2014.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Zhang Zhulin ist Redakteur des Courrier international und schreibt unter anderem für die South China Morning Post (Hongkong) und Lianhe Zaobao (Singapur).

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Zhang Zhulin