07.07.2016

Wir waren die Zukunft der Türkei

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Wir waren die Zukunft der Türkei

Als die Demokratische Partei der Völker (HDP) im Juni 2015 erstmals ins Parlament einzog, war das ein Erfolg für die Demokratie. Weil Präsident Erdoğan alles tut, um diese wichtige Stimme der Opposition zum Schweigen zu bringen, wendet sich der HDP-Vorsitzende jetzt an die europäische Öffentlichkeit.

von Selahattin Demirtaş

17. Mai 2016, HDP-Anhänger verfolgen im Parlament die Debatte um die Verfassungsänderung BURHAN ÖZBILICI/ap
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Am 20. Mai 2016 beschloss das türkische Parlament eine zeitweilige Verfassungsänderung, mit der die parlamentarische Immunität Dutzender Abgeordneter rückwirkend aufgehoben wurde.1 Damit ging die türkische Politik einen weiteren Schritt auf den Abgrund zu: Die Entscheidung verstößt nicht nur gegen die Verfassung, sie verhöhnt auch die universellen Prinzipien von Recht und Demokratie.

Die Verfassungsänderung geht auf einen Vorstoß von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zurück und zielte hauptsächlich auf die Demokratische Partei der Völker (HDP),2 die stärkste Kraft der Opposition im Parlament.3 Gegen 53 der 59 HDP-Abgeordneten erhebt die Staatsanwaltschaft insgesamt 417 Vorwürfe, die sich größtenteils auf Äußerungen in öffentlichen Reden beziehen. Die Parlamentarier werden also verfolgt, weil sie ihr Grundrecht auf Redefreiheit in Anspruch genommen haben. Seinem Ziel, die HDP aus dem Parlament und aus dem gesamten politischen Leben des Landes zu verbannen, ist Erdoğan mit der Aufhebung der Immunität eines Großteils der HDP-Abgeordneten einen weiteren Schritt näher gekommen.

Der Staatspräsident betrachtet die HDP als Hindernis auf seinem Weg zur Autokratie.4 Da unsere Partei die wichtigste Stimme und Plattform der demokratischen Kräfte der Türkei ist, insbesondere der politischen Bewegung der Kurden, will Erdoğan sie zum Schweigen bringen. Sein Ziel ist es, jeglicher Opposition den Weg zu versperren und all jene mundtot zu machen, die im Parlament die in den Regionen mit kurdischer Mehrheit verübten Verbrechen gegen die Menschheit anprangern.

Wir werden nicht klein beigeben angesichts der Bestrebungen, unsere Abgeordneten vor Gericht zu zerren – vor Tribunale, die zu Kriegsmaschinen im Dienst der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geworden sind. Wir werden unseren Kampf für Gleichheit und Gerechtigkeit Hand in Hand mit den anderen demokratischen Kräften in der Türkei fortsetzen und uns gegen die Verfolgung unserer Parlamentarier und die Verhaftung von gewählten Räten und Amtsträgern in den Kommunen wehren.5

Pazifismus gilt heute als terroristische Propaganda

Das Land, das zumindest pro forma vor nicht allzu langer Zeit noch die Harmonisierung seiner demokratischen Normen mit denen der Europäischen ­Union in Erwägung zog, ist heute taub vom Waffenlärm in den kurdischen Städten und von den ­Proklamationen Er­doğans, der denkt, er könne sich durch immer lauteres Gebrüll aus seinem Palast in Ankara legitimieren.

Wieder einmal wütet ein Krieg gegen die kurdischen Städte, dessen Folgen verheerend sind und der die Einheit der Gesellschaft bedroht. In diesem Krieg, in dem schwere Waffen und Panzer gegen Wohnhäuser eingesetzt werden, haben seit Juli 2015 Hunderte Zivilisten und Mitglieder der türkischen Sicherheitskräfte und eine unbekannte Zahl kurdischer Milizionäre ihr Leben verloren – einzig, damit Er­do­ğans Partei zusätzliche Stimmen gewinnen und ein Präsidialsystem einführen kann. Dafür stürzt dieser Präsident das Land in einen Abgrund der Zerstörung.

Angesichts all dessen wächst im Volk die Angst vor einer Rückkehr in die dunklen 1990er Jahre. Aber das, was heute geschieht, ist schlimmer. In der Stadt Cizre sind Hunderte von Menschen lebendig in ihren Kellern verbrannt, und das Sur-Viertel von Diyar­ba­kır wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht (siehe den Artikel auf Seite 10).

In der türkischen Gesellschaft machen sich Sorge und Verzweiflung breit, denn die Menschen sehen sich tagtäglich in ihrer Sicherheit bedroht. Der Raum des demokratischen Lebens wird immer kleiner, je mehr die Stimmen der Opposition zum Schweigen gebracht werden. Die Regierung etabliert ein zunehmend autoritäres Regime, um die Macht immer fester in die Hand zu bekommen und ihre Herrschaft zu verstetigen. Das ist die Realität in der heutigen Türkei.

Und was tun die europäischen In­sti­tu­tionen? Wir warten darauf, dass sie eindeutig und hörbar verurteilen, was hier geschieht.

von Selahattin Demirtaş

Aber sie ignorieren nicht nur die Zerstörungen, sie lehnen es auch offen ab, irgendetwas zu unternehmen, das den Verbrechen Einhalt gebieten könnte.

Die internationalen Organisationen sind nicht viel besser: Das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat Ankara nach dreimonatigem Zögern lediglich aufgefordert, eine unabhängige Untersuchungskommission über die Massaker in Cizre einzusetzen. Konkrete Maßnahmen, um die Türkei dazu zu bringen, die von ihr unterzeichneten internationalen Vereinbarungen zu respektieren, blieben aus.6

Europa sorgt sich allein um die Flüchtlingskrise, während universelle Werte wie Demokratie und Menschenrechte in der Türkei mit Füßen getreten werden. Die USA sind vor allem mit den Krieg gegen den IS befasst. Das sind schwerwiegende Probleme, gewiss. Aber es ist schwer zu verstehen, warum Europa und der Rest der Welt die Situation der Kurden in der Türkei übersieht, die unmittelbar damit zu tun hat. Und noch schwerer zu verstehen ist das Schweigen angesichts der schweren Verstöße gegen fundamentale Menschenrechte, begangen von Erdoğan und seiner AKP, die die Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flüchten, zu Werkzeugen ihrer Erpressung machen.7

Der Friedensprozess, der Ende 2012 begonnen hatte, war für alle Beteiligten ein Anlass zum Aufatmen.8 Der Weg war noch weit, aber ein Schritt hin zu einem dauerhaften Frieden zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk war getan. Doch im April 2015 beschloss das Regime in Ankara plötzlich, die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan, dem historischer Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und einem der Architekten des Friedensprozesses, der auf der Insel İmralı inhaftiert ist, zu verschärfen und ihm jeden Besuch und jeden Kontakt nach außen zu verbieten. Diese konfrontative Strategie heizte die Spannungen wieder an und führte im Sommer 2015 zum Beginn der Militäroffensive in der kurdischen Region der Türkei.

Präsident Erdoğan ist gegen eine Wiederaufnahme des Dialogs. Für ihn kommt es nicht infrage, an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder den von ihm angezettelten Krieg zu beenden, ohne den er seinen Thron verlieren könnte.

Mittlerweile haben wir einen Punkt erreicht, an dem schon Aufrufe zum Frieden als Verbrechen betrachtet werden: Vier Hochschullehrer wurden ihrer Ämter enthoben und wegen der Verbreitung „terroristischer Propaganda“ angeklagt, weil sie öffentlich eine Petition für das Ende der Militäropera­tio­nen in den Städten der Südosttürkei verlesen hatten.9

Erdoğan scheut sich auch nicht, die syrischen Kurden ins Visier zu nehmen, die heldenhaft gegen den IS gekämpft und diesen mit Unterstützung der internationalen Koalition zurückgedrängt haben. Die Türkei hat sämtliche Grenzübergänge geschlossen, die Kämpfer der – mit der PKK verbundenen – Kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) Syriens hätten benutzen können, obwohl syrische Kurden nie auch nur einen Schuss in Richtung Türkei abgefeuert haben.

Der Möchtegern-Sultan gegen das pluralistische Modell

Wir, die HDP, fordern die sofortige Aufhebung der kriegerischen Blockade kurdischer Städte, bevor es zu spät ist und die Gewalt ein unkontrollierbares Ausmaß annimmt. Wir fordern beide Seiten auf, den Krieg zu beenden. Solange die Waffen sprechen, wird immer weniger Raum für die Demokratie bleiben, und Erdoğan bekommt die Möglichkeit, sich als alleiniger Garant der nationalen Stabilität darzustellen.

Im Nahen Osten, wo vor einem Jahrhundert Nationalstaaten auf einem Stück Papier geschaffen wurden,10 scheint es unmöglich, der tödlichen Alternative zwischen IS und despotischen Regimen zu entgehen. Doch der einzige Ausweg ist ein demokratisches, säkulares und pluralistisches Modell, das die verschiedenen Völker und Reli­gio­nen auf eine Stufe stellt; ein Modell mit starken, autonomen Lokalverwaltungen und mehr kollektiven und individuellen Rechten (siehe Seite 11).

Bei den Wahlen im Juni 2015 gewann unsere Partei 13 Prozent der Stimmen, mit einem Programm, das diese Vision für die Türkei ebenso wie für die anderen Länder des Nahen Ostens forderte. Wir vertreten armenische, jesidische, arabische und assyrische Bürger, Arbeiter und Akademiker, die Jugend und die Frauen, die Aleviten und Sunniten, die Türken und die Kurden. Mit der HDP ist das Land in seiner ganzen Vielfalt ins Parlament eingezogen, Hand in Hand, mit Friedensliedern auf den Lippen. 6 Millionen Wähler stimmten für eine gemeinsame demokratische Zukunft, und die HDP wurde zur Hoffnungsträgerin des Friedens. Die Völker des Landes waren zu der Überzeugung gelangt, dass sie gemeinsam die leidende türkische Demokratie heilen können. Wir waren die Zukunft der Türkei.

Doch da war die andere Seite der Türkei, die auf eine repressive Vergangenheit zurückgriff und die niemals etwas Gutes für das Volk getan hat. Unser Erfolg bei den Wahlen 2015 hat die Einparteienherrschaft der nationalistischen und sektiererischen AKP beendet. Wir waren Sand im Getriebe, der Hemmschuh im großen Werk von Erdoğan, dem Möchtegern-Sultan. Deshalb hat der Präsident unsere Partei zum Feind erklärt, der um jeden Preis vernichtet werden soll. Deshalb hat er uns als „Terroristen“ diffamiert, den Friedensprozess beendet und unser Land wieder in den Bürgerkrieg der 1990er Jahre zurückgeworfen.

Erdoğan bekämpft die HDP auch deshalb, weil unser Einsatz für die Gleichbehandlung der Ethnien und der Geschlechter den genauen Gegensatz zur sektiererischen, männerdominierten Politik der AKP darstellt. Das zeigte sich auch während der Friedensgespräche, als die Vertreter des Regimes immer wieder Einwände erhoben und uns fragten: „Was hat die Frauenfrage mit dem kurdischen Friedensprozess zu tun?“ Sie fanden das merkwürdig, weil wir ganz unterschiedliche Mentalitäten haben: Unser Kampf war nicht nur für die Kurden, er war für alle.

Vielleicht glaubt der Westen immer noch, dass er mit Erdoğan Geschäfte machen kann. Dabei muss man nur das Schicksal des abgesetzten Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu11 betrachten, um Erdoğan zu durchschauen: Er hat überhaupt keine Vorstellung von Gerechtigkeit, Demokratie oder Menschenrechten, sondern er ist vernarrt in die Vorstellung von sich selbst als allwissendem Herrscher, der allein in der Lage ist, die Zukunft des Landes und der gesamten Region für das kommende Jahrhundert festzulegen.

Tatsächlich ist Erdoğan dabei, unter Missachtung der Verfassung seines Landes ein Präsidialsystem auf türkische Art zu errichten, das er im nationalen Recht verankern will. Nur deshalb hat er die parlamentarische Immunität unserer Abgeordneten aufgehoben. Doch das wird nicht leicht für ihn werden: Die demokratische Opposition, innerhalb und außerhalb des Parlaments, wird sich diesem Gewaltakt nicht unterwerfen.

1 Die Verfassungsänderung, für die 376 der 550 Abgeordneten stimmten, hebt die Immunität all derjenigen Abgeordneten auf, gegen die strafrechtlich relevante Anschuldigungen vorliegen. Theoretisch sind davon 138 Abgeordnete betroffen, tatsächlich richtet sie sich nur gegen Abgeordnete der Linken.

2 In der HDP sind seit 2013 linke und ökologische Parteien und Gruppen zusammengeschlossen, von denen mehrere aus der Kurdenbewegung hervorgegangen sind. Zwei ihrer Mitglieder waren im September 2015 kurze Zeit Mitglieder der Interimsregierung.

3 Am 1. November 2015 gewann die HDP bei den erneuten Parlamentswahlen 10,7 Prozent der Stimmen (59 Sitze). Vor ihr lagen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP, islamisch-konservativ, 49,5 Prozent/317 Sitze), die Republikanische Volkspartei (CHP, kemalistisch, Mitte-links, 25,3 Prozent/134 Sitze) und die Nationalistische Bewegung (MHP, ultranationalistisch-pantürkisch, 11,9 Prozent/41 Sitze).

4 Mit 12,9 Prozent der Stimmen und 80 Abgeordneten bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 hatte die HDP Erdogans Plan durchkreuzt, das heutige parlamentarische System durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Wenn er nicht drei Fünftel (330) der Abgeordneten hinter sich hat, kann er kein Referendum beschließen, um die Verfassung zu ändern. Bei den Neuwahlen im November 2015 gewann er eine absolute Mehrheit für die AKP, aber immer noch keine qualifizierte Mehrheit für eine Verfassungsänderung.

5 Nach Angaben der Internationalen Vertretung der kurdischen Frauenbewegung (IRKWM) wurden 4500 Funktionäre und lokale Abgeordnete der HDP verhaftet; 950 von ihnen waren Ende April 2016 immer noch im Gefängnis.

6 Die Türkei hat 1954 die Europäische Menschenrechtskonvention und 2003 den Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert.

7 Am 18. März 2016 unterzeichneten die EU und die Türkei ein Abkommen, in dem sich die Türkei verpflichtet, den Zustrom von Migranten (vor allem syrischer Flüchtlinge) in die EU zu begrenzen.

8 Im Dezember 2012 ergriff die Regierung Erdogan die Initiative zu direkten Verhandlungen mit der PKK, ihrem inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan und mehreren kurdischen Persönlichkeiten, von denen einige heute Abgeordnete der HDP sind. 2013 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, und 2014 erklärten beide Seiten, kurz vor einer grundsätzlichen Einigung zu stehen.

9 Esra Munger, Professorin an der Bosporus-Univer- sität, Muzaffer Kaya, der an der Kunsthochschule unterrichtet, Kivanc Ersoy von der Nisantasi-Universität sowie Meral Camci, Professorin an der Yeni-Yüzyil-Universität.

10 Anspielung auf das Sykes-Picot-Abkommen. Siehe Henry Laurens, „Willkürliche Aufteilung“, Le ­Monde ­diplomatique, Juli 2014, und ders.: „Der Zerfall des Osmanischen Reichs und die Nachkriegsordnung“, Le Monde diplomatique, April 2003.

11 Ahmet Davutoglu war außenpolitischer Berater Erdogans (2003 bis 2009), Außenminister (2009 bis 2014) und dann Ministerpräsident. Im Mai 2016 wurde er zum Rücktritt gezwungen und durch Binali Yildirim, einen engen Vertrauten Erdogans, ersetzt.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Selahattin Demirtas ist neben Figen Yüksekdag Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Fraktionsvorsitzender seiner Partei in der Großen Nationalversammlung der Türkei und seit 2015 Abgeordneter für Istanbul.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Selahattin Demirtaş