09.06.2016

Der Al-Qaida-Führer, der keiner war

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Der Al-Qaida-Führer, der keiner war

Abu Subaida, das erste Folteropfer im Krieg der USA gegen den Terror, ist seit 2002 ohne Anklage in Haft

von Rebecca Gordon

Ein Gefangener wird nach dem Verhör zurückgebracht. Camp X-Ray, Guantánamo MARC SEROTA/reuters
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Die Anschuldigungen klangen fürwahr gravierend. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ließ verlauten, er sei „womöglich die Nummer zwei“ der al-Qaida gewesen, auf jeden Fall aber „ganz nahe an der zweithöchsten Autorität“. Andere wussten es noch genauer. Die CIA informierte den Vize­justizminister, er sei ein „hochrangiger Helfer Osama bin Ladens“ gewesen und als solcher für ein ganzes Netz von Ausbildungslagern zuständig. Auch habe er für al-Qaida die Kontakte und die Kommunikation mit dem Ausland koordiniert. Und CIA-Direktor Michael Hayden erklärte 2008, dass 25 Prozent der al-Qaida betreffenden Informationen, die sein Dienst aus mündlichen Quellen gewonnen habe, von dieser Person und einem Mitgefangenen stammten.

Präsident George W. Bush schließlich rechtfertigte mit Verweis auf diesen Fall das „erweiterte Verhörprogramm der CIA“. Zum Beispiel mit der Behauptung, der Mann habe „ein Terrorcamp in Afghanistan geleitet, in dem einige der Flugzeugentführer vom 11. September ausgebildet wurden“. Zudem habe er geholfen, „Al-Qaida-Führer aus Afghanistan herauszuschmuggeln“, die sich so der Festnahme durch das US-Militär entziehen konnten.

Von all dem ist nichts wahr. Aber selbst wenn es wahr wäre, bleibt das, was die CIA diesem Menschen – mit Wissen und Zustimmung der höchsten Regierungsstellen – angetan hat, ein schreiendes Beispiel für die bis heute ungesühnten Verbrechen, die Leute wie Dick Cheney, George W. Bush und Donald Rumsfeld im „globalen Krieg gegen den Terror“ begangen haben.

Wer ist dieser berüchtigte Mann? Sein Name ist Sain al-Abidin Mohammed Hussein, bekannter unter seinem arabischen Kurznamen Abu Subaida. Und wo befindet er sich heute? Soweit wir wissen, immer noch in strikter Einzelhaft in Guantánamo.

Der saudische Staatsbürger Subaida war in den 1980er Jahren einer der Verantwortlichen für das Khaldan-Camp, ein Ausbildungslager der afghanischen Mudschaheddin, das diese während der sowjetischen Besetzung des Landes mit Hilfe der CIA aufgebaut hatten. Er war damals also ein Verbündeter der USA im Kampf gegen die Sowjets, sprich: einer von Ronald Reagans „Freiheitskämpfern“ (zu denen im Grunde auch Osama bin Laden zählte).

Als Subaida später erneut mit den Amerikanern zu tun bekam, erging es ihm deutlich schlechter. Er hatte das zweifelhafte Glück, der CIA in mehrfacher Hinsicht als Testfall zu dienen: Er war der erste Gefangene, der nach 9/11 dem „Waterboarding“ unterzogen wurde; er war der Erste, mit dem von der CIA angeheuerte Psychologen verbotene Experimente anstellten; er gehörte zu den ersten „Geistergefangenen“, die vor aller Welt, einschließlich dem Internationalen Roten Kreuz, versteckt wurden.1 Und er war einer der ersten Gefangenen, auf die sich das berüchtigte „Rechtsgutachten“ bezog, das der Bush-Administration erklärte, was sie mit Häftlingen legalerweise anstellen dürfe, ohne das bundesstaatlich geltende Folterverbot zu verletzen.2

Die Geschichte des Abu Subaida veranschaulicht exemplarisch, wie die Bush-Regierung und die CIA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ihre unerlaubten Praktiken bis zum Äußersten trieben. Wobei die Hauptverantwortlichen – CIA-Direktor Mi­chael Hayden, Vizepräsident Dick Cheney und George W. Bush selbst – diese Praktiken als leuchtendes Beispiel für die „erweiterten Verhörtechniken“ hinstellten, dank derer man den „Übeltätern“ dringend benötigte Informationen entrungen habe.

Entscheidend ist jedoch ein anderer, nur selten erwähnter Punkt: Der Fall Subaida beruhte von Beginn an auf einer großen Lüge. Der Mann hatte nichts mit al-Qaida zu tun; er war nie „Rädelsführer“ von irgendwas, noch war er an der Planung der 9/11-Attentate beteiligt. Dennoch wurde er brutal misshandelt und wäre in einer gerechteren Welt der berufene Kronzeuge vor einem Kriegsverbrechertribunal, dem sich die damalige US-Führung und ihr wichtigster Nachrichtendienst stellen müssten.

Abgesehen von Subaidas Anwälten und ein paar hartnäckigen Journalisten haben die meisten Menschen den Fall allerdings vergessen. Was auch deshalb ein Fehler ist, weil an diesem Mann die Art der Folter erprobt wurde, die Donald Trump als US-Präsident wieder einführen will.

Angesichts eines republikanischen Präsidentschaftskandidaten, der neue Kriegsverbrechen ankündigt, scheint es angebracht, den Fall Subaida noch einmal zu rekapitulieren und zu überlegen, wie man eine Wiederholung verhindern könnte. Denn schließlich können Trump und andere nur deshalb weitere Kriegsverbrechen in Aussicht stellen, weil bislang noch niemand für die Folterpraktiken der Bush-Regierung zur Verantwortung gezogen wurde.

Abu Subaida wurde im August 2002 – zusammen mit rund fünfzig anderen Männern – in der Stadt Faisalabad im Westen Pakistans gefangen genommen. Bei dem gemeinsamen Einsatz von FBI, CIA und pakistanischem Militär wurde er schwer verletzt. Seine Schussverletzungen in Oberschenkel, Bauch und Hoden hätten womöglich sein Todesurteil bedeutet, hätte die CIA nicht einen Chirurgen aus den USA eingeflogen, der ihn wieder zusammenflickte. Das geschah freilich nicht aus humanitären Beweggründen, sondern weil man sich für den Gefangenen interessierte. Als der Schwerverletzte wieder vernehmungsfähig war, verwehrten ihm seine Bewacher gelegentlich die Schmerzmittel, was ebenfalls eine Art Folter ist.

Später verlor Subaida in CIA-Gewahrsam unter ungeklärten Umständen sein linkes Auge, und wieder galt die Sorge der CIA nicht etwa seiner Gesundheit. Das geht aus dem Folterbericht hervor, den der Geheimdienstausschuss des US-Senats (SSCI für Senate Select Committee on Intelligence) im Dezember 2014 vorgelegt hat.3 Darin heißt es: „Im Oktober 2002 empfahl Detention ­Site Green, die Sehkraft seines rechten Auges zu testen, verbunden mit dem Hinweis, dass seine Fähigkeit zu sehen, zu lesen und zu schreiben für uns sehr wichtig ist.“ Detention ­Site Green ist, wie wir heute wissen, ein CIA-Lager in Thailand, deren Leitung damals ausdrücklich erklärte, man verlange den Sehtest im Hinblick auf „unsere nachrichtendienstlichen Bedürfnisse“ und nicht etwa aus „humanitärer Fürsorge für AS“.

Für die nun folgenden Verhöre heuerte die CIA zwei externe Experten an. Die Psychologen Bruce Jessen und James Mitchell hatten zuvor als Ausbilder im Zentrum für Überlebenstraining der U.S. Air Force4 gearbeitet. Subaida war das erste menschliche Versuchsobjekt, an dem die beiden ihre Theorie ausprobieren konnten, dass man einen Verdächtigen mittels Folter in den Zustand „erlernter Hilflosigkeit“ versetzen könne, um seinen Widerstand gegen ein Verhör zu schwächen. Kostenpunkt: 81 Millionen Dollar.

Aus den CIA-Unterlagen geht hervor, dass das Verhörpersonal bei Abu Subaida – nach einem von Jessen und Mitchell entworfenen Plan – Waterboarding angewendet hat, und zwar unglaubliche 83 Mal in einem einzigen Monat. Dabei schnallten sie ihr Opfer auf ein Holzbrett, deckten sein Gesicht mit einem Tuch zu und gossen immer mehr Wasser durch das Tuch, bis es keine Luft mehr bekam. Bei dieser endlos wiederholten Tortur verlor Subaida, wie es in dem Bericht des Senatsausschusses heißt, einmal „vollständig das Bewusstsein, während Blasen aus seinem offenen, mit Wasser gefüllten Mund aufstiegen“.

Jede dieser 83 Anwendungen bestand aus einem „watering cycle“, der vier Schritte umfasste: erstens Aufforderung zu Aussagen, mehrfach unterbrochen durch Verabreichung von Wasser bis knapp an die Grenze des Erstickens; zweitens Steigerung der verabreichten Wassermenge bis zur Blockade der Atemwege und dem Einsetzen unkontrollierter Bronchialkrämpfe; drittens Anheben des Bretts aus dem Wasser, damit die Atemwege wieder frei werden; viertens Absenken des Bretts und erneute Aufforderung, Informationen zu liefern.

Während dieser „Zyklen“ wurde Subaida die ganze Zeit von den CIA-Leuten gefilmt. Die Videobänder wurden archiviert. Doch nachdem sich ihre Existenz herumgesprochen hatte und die Agency peinliche Enthüllungen – und womöglich sogar strafrechtliche Ermittlungen – befürchtete, wurden die Bänder im Jahr 2005 vernichtet. CIA-Chef Michael Hayden erklärte gegenüber CNN jedoch, sie seien nur zerstört worden, weil sie keinen „nachrichtendienstlichen Wert“ mehr hatten und ein „Sicherheitsrisiko“ darstellten.

Aber wessen Sicherheit war gefährdet, wenn die Aufnahmen publik geworden wären? Doch wohl die der CIA-Mitarbeiter und der angeheuerten Spezialisten, die gleich mehrere nationale und internationale Antifoltergesetze verletzt haben. Und damit auch die der höchsten CIA- und Regierungsvertreter, die diese Handlungen gutgeheißen hatten.

Aus dem Folterreport des US-Senats geht hervor, dass Subaida noch weiteren Foltermethoden unterworfen wurde. Dazu gehörten etwa „stress positions“, also erzwungene Körperhaltungen, die qualvolle Schmerzen verursachen, ohne Spuren zu hinterlassen; Schlafentzug von bis zu 180 Stunden, was im Allgemeinen zu Halluzinationen oder Psychosen führt; oder unerträgliche Belastung durch Dauerlärm, was ebenfalls Psychosen auslöst.

Weitere Techniken waren das „walling“, die CIA-interne Bezeichnung für eine Methode, bei der die Schulterblätter fortwährend gegen eine „flexible falsche Wand“ geknallt werden,5 und stundenlanges Einsperren in eine enge Kiste, in der aufrechtes Stehen nicht möglich ist. All diese Foltertechniken waren explizit in einem Memorandum abgesegnet, das Jay Bybee von der Rechtsgutachtenabteilung des Justizministeriums für den Chefjuristen der CIA, John Rizzo, verfasst hatte. In diesem Memorandum legitimierte Bybee zehn der Techniken, die im Fall Subaida angewandt wurden.

Das von Jessen und Mitchell geleitete Programm diente offenbar nicht nur dem Zweck, Informationen aus dem Gefangenen herauszuholen. Die CIA benutzte Abu Subaida wohl auch als Testperson, an der die „Effektivität“ von Waterboarding überprüft wurde. Wenn das stimmt, verstieß sie damit nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen den War Crimes Act von 1996, also das US-Gesetz über Kriegsverbrechen, das Experimente mit Gefangenen ausdrücklich verbietet.

Was spricht für die Vermutung, dass das, was mit Subaida geschah, zum Teil ein illegales Experiment war? Am 30. Mai 2005 sandte Steven Bradbury, Chef der Rechtsgutachtenabteilung des Justizministeriums, ein Memorandum an Rizzo. Darin hieß es: „Von jedem Verhör werden genaue Aufzeichnungen aufbewahrt. Das ermöglicht eine fortlaufende Evaluierung der Wirksamkeit der jeweiligen Technik und aller möglichen unbeabsichtigten oder zweckwidrigen Resultate.“ Anders formuliert: Mit Unterstützung des US-Justizministeriums verfertigte und speicherte die CIA eine detaillierte Dokumentation von experimentellen Verfahren mit der Absicht, die Wirkungsweise von Waterboarding zu evaluieren. Das Bradbury-Memorandum belegt mithin, dass die Brutalität der CIA Methode hatte.

So hat es auch Abu Subaida selbst empfunden, wie er später gegenüber IRK-Vertretern erklärte: „In dieser Phase sagte man mir, ich sei einer der Ersten für diese Verhörtechniken. Es gab also keinerlei Regeln. Ich hatte das Gefühl, sie experimentieren und probieren Techniken aus, um sie später bei anderen Leuten anzuwenden.“

Neben den Videoaufnahmen verlangte das Office of Medical Services der CIA auch ein akribisches Protokoll jeder einzelnen Waterboarding-Sitzung. Alles war bis aufs Detail festgelegt: „Um für die Zukunft bestmögliche medizinische Aussagen und Empfehlungen zu erhalten, ist es wichtig, jede Anwendung des Wasserbretts genauestens zu dokumentieren: wie lange jede einzelne Anwendung (und die ganze Prozedur) gedauert hat, wie viel Wasser benutzt wurde (und wie viel verschüttet), wie genau das Wasser angewendet wurde, ob es zu einem Atemwegsverschluss kam, ob der Nasen- oder der Mund-Rachen-Raum gefüllt war, welches Volumen wieder ausgeworfen wurde, wie lang die Pause zwischen den Anwendungen war und wie die Testperson nach jeder Behandlung aussah.“

Abu Subaida war auch einer der ersten Gefangenen, die die CIA vor den Nachforschungen des IRK zu verstecken versuchte, indem man sie in „black sites“ verbrachte, Geheimgefängnisse in Ländern, deren Regierungen dem US-Geheimdienst behilflich waren oder ein Auge zudrückten. So wurde Subaida unter anderem in Polen gefoltert (siehe Kasten).

Offiziell existierten die „ghost prisoners“ gar nicht. Im Folterreport des US-Senats heißt es dazu: „Zum Teil, um Abu Subaida gegenüber dem Interna­tio­nalen Roten Kreuz nicht deklarieren zu müssen, was erforderlich gewesen wäre, wenn er in einer US-Militärbasis inhaftiert worden wäre, ließ sich die CIA genehmigen, Abu Subaida heimlich in einer Einrichtung in . . . gefangen zu halten.“ Inzwischen wissen wir, dass Subaida zuerst nach Thailand entführt wurde.

Der britische Journalist und Dokumentarfilmer Andy Worthington hat 2009 berichtet, dass die Bush-Regierung die Ergebnisse der „Verhöre“ von Abu Subaida auch nutzte, um ihr größtes Verbrechen, nämlich die völkerrechtswidrige Invasion des Irak zu rechtfertigen. Im Vorfeld des Kriegs ließen US-Regierungsstellen an die Me­dien durchsickern, Subaida habe gestanden, von einem geheimen Abkommen gewusst zu haben: Demnach hatten Osama bin Laden, Abu Mussab al-Sarkawi (der spätere Al-Qaida-Führer im Irak) und der irakische Diktator Saddam Hussein vereinbart, gemeinsam auf die Destabilisierung der autonomen Kurdenregion im Norden des Irak hinzuarbeiten. Das war komplett gelogen. Subaida konnte gar keine Kenntnis von einer solchen Vereinbarung haben, denn die wäre zum einen „absurd“ gewesen (wie es Worthington formuliert), und zum anderen war er kein Al-Qaida-Mitglied.

Die Beweisführung, dass der Mann irgendetwas mit al-Qaida zu tun hatte, war nicht nur an den Haaren herbeigezogen, sie drehte sich auch im Kreis – und ging ungefähr so: Abu Subaida hatte als „hochrangiger“ Al-Qaida-Vertreter das Lager Khaldan in Afghanistan unter sich, also war Khaldan ein Al-Qaida-Lager; und wenn Khaldan ein Al-Qaida-Lager war, muss Subaida ein hoher Al-Qaida-Vertreter gewesen sein.

Mittels ihrer „erweiterten“ Verhörtechniken quetschten die CIA-Leute alles, was sie hören wollten, aus einem Mann heraus, dessen Leben nichts mit den erfolterten Lügen zu tun hatte, die er seinen Kidnappern erzählte. Kein einziges Element des Bilds, das die Bush-Regierung entworfen hatte, erwies sich als richtig. Zwar hatte man in Washington jahrelang Khaldan als Al-Qaida-Ausbildungslager bezeichnet, aber die Geheimdienstleute wussten genau, dass das nicht zutraf. Das geht in aller Klarheit aus dem Folterreport des SSCI hervor, das eine entsprechende Einschätzung der CIA vom 16. August 2006 zitiert.6

Der Gefangene soll für immer schweigen

Aber Subaida war nicht nur kein hochrangiges Mitglied von al-Qaida, die Organisation hatte seinen Aufnahmeantrag bereits 1993 abgelehnt. Auch das war der CIA spätestens 2006, wenn nicht schon viel früher bekannt. Noch einen Monat, nachdem der Geheimdienst intern klargestellt hatte, was das Khaldan-Camp tatsächlich war und dass Subaida keine Verbindungen zu al-Qaida hatte, benutzte Präsident Bush die Geschichte von dessen Festnahme und den Verhören zur Rechtfertigung des „erweiterten Verhörprogramms“ der CIA. In der Rede an die Nation am 6. September 2006 behauptete er, Su­bai­da habe geholfen, „Al-Qaida-Führer aus Afghanistan herauszuschmuggeln“.

In derselben Rede sprach Bush über Subaida: „Unsere Geheimdienste glauben, dass er ein Terroristencamp in Afghanistan geleitet hat, wo einige der Flugzeugentführer von 9/11 ausgebildet wurden.“7 Die CIA hätte wohl besser nach den Leuten Ausschau halten sollen, die tatsächlich Flugzeugentführer ausgebildet haben – von einigen Betreibern privater Flugschulen in den USA wusste das FBI schon vor 9/11, dass dort auch mutmaßliche Terroristen lernten, eine Boing 747 zu fliegen.8

Im Juni 2007 legte die Regierung sogar noch nach: Vor dem Kongress-Ausschuss für Sicherheit und Kooperation in Europa erläuterte John Bellinger als juristischer Berater des US-Außenministeriums, warum Guantánamo nicht geschlossen werden dürfe. Zur Begründung erklärte er, das Gefängnis diene einem sehr wichtigen Zweck. Hier seien „extrem gefährliche Individuen“ untergebracht, meinte Bellinger und verwies explizit auf „Leute wie Abu Subaida, die 9/11 geplant haben“.

Im September 2009 nahm die Oba­ma-Regierung die Anschuldigungen gegen den Guantánamo-Häftling stillschweigend zurück. Subaidas Anwälte hatten eine Habeas-Corpus-Beschwerde eingereicht, sprich das Recht eingefordert, das laut Verfassung jedem inhaftierten Menschen zusteht: dass man ihm die Anschuldigungen mitteilt, auf Grund derer er seiner Freiheit beraubt wird. Die Anwälte forderten die Regierung zur Herausgabe von Dokumenten auf, mit denen sie ihre These untermauern wollten, dass ihr Mandant zu Unrecht in Guantánamo saß.

Die Obama-Regierung reagierte mit einem 109-seitigen Schriftsatz der Justizbehörde des District of Columbia (DC), die für Habeas-Corpus-Klagen von Guantánamo-Häftlingen zuständig ist. Die Begründung der staatlichen Seite wartete mit kuriosen Argumenten auf: Es gebe keinerlei Grund, irgendwelche „entlastenden“ Dokumente auszuhändigen, um zu belegen, dass der Häftling kein Al-Qaida-Mitglied oder an den 9/11-Attentaten oder an terroristischen Aktivitäten beteiligt war – denn die Regierung behaupte ja gar nicht mehr, dass eine dieser Anschuldigungen wahr sei. Darüber hinaus habe die Bush-Regierung nie eine „persönliche Beteiligung“ Subaidas an der „Planung oder Ausführung der Anschläge vom 11. September 2001“ behauptet. Auch habe sie keineswegs behauptet, der Häftling habe „zum Zeitpunkt seiner Festnahme von irgendwelchen bevorstehenden terroristischen Operationen“ gewusst.

Die Anklage gegen einen Menschen, der 83 Mal mit Waterboarding gequält wurde und der CIA angeblich entscheidende Informationen über weitere Al-Qaida-Aktionen mitgeteilt hat, wurde also heimlich still und leise zurückgenommen, ohne dass Öffentlichkeit und Medien groß davon Kenntnis genommen hätten. Die Beweisquelle Nummer eins war mit einem Mal zur Beweisquelle null geworden.

Sieben Jahre nach Entgegennahme von Subaidas Habeas-Corpus-Beschwerde steht die Entscheidung des Bundesbezirksgerichts immer noch aus – eine außergewöhnlich lange Zeit, wenn man bedenkt, dass das Gericht für die Behandlung solcher Beschwerden durchschnittlich 751 Tage braucht. Verschleppte Gerechtigkeit bedeutet hier in Wahrheit verweigerte Gerechtigkeit.

Aus dem zitierten SSCI-Report geht hervor, dass die CIA-Zentrale ihren Verhörspezialisten zugesichert hat, dass Subaida niemals in eine Situation geraten werde, „in der er irgendwelche ernsthaften Kontakte mit anderen und/oder die Chance auf Entlassung hat“. „Alle wichtigen Mitspieler“, so die CIA-Zentrale, seien sich darin einig, dass der Häftling „für den Rest seines Lebens isoliert bleiben sollte“. Tatsächlich ist Subaida bis heute von der Außenwelt abgeschnitten.

1 Gemäß der 3. Genfer Konventionen von 1949 müssen Kriegsgefangene jederzeit von Vertretern des IRK besucht werden können.

2 Verfasser der „Torture Memos“ vom August 2002 war der damalige Vizejustizminister Jay Bybee, der Folterpraktiken als „erweiterte Verhörtechniken“ definierte und für legal erklärte.

3 Wie beunruhigt die CIA über die Arbeit des SSCI war, zeigt die Tatsache, dass sie damals Hackerangriffe auf die Computer des Ausschusses organisiert hat.

4 Das Zentrum der Air Force nennt sich Sere (Survival, Evasion, Resistance, Escape) und befindet sich auf dem Gelände der Luftwaffenbasis Fairchild im Bundesstaat Washington.

5 Subaida hat gegenüber dem IRK ausgesagt, dass er beim ersten Mal gegen eine echte harte Betonwand geknallt wurde.

6 Darin heißt es: „Khaldan nicht zu al-Qaida gehörig. Eine verbreitete falsche Wahrnehmung . . . geht dahin, dass das Lager Khaldan von al-Qaida betrieben werde. Berichte vor dem 11. September 2001 stellten Abu Su­bai­da fälschlich als ‚senior al-Qaida lieutenant‘ dar, was zu dem Rückschluss führte, zwischen dem von ihm geleiteten Khaldan-Lager und Osama bin Laden bestehe eine Verbindung.“ Zitiert nach: „The Senate Intelligence Committee Report on Torture”, Brooklyn und London (Melville House) 2014, Fußnote 60.

7 New York Times, 6. September 2006.

8 Siehe Washington Post, 23. September 2001.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Rebecca Gordon ist Publizistin und Dozentin für politische Philosophie an der Universität San Francisco. Autorin unter anderem von: „American Nuremberg: The U.S. Officials Who Should Stand Trial for Post-9/11 War Crimes“, New York (Hot Books) 2016.

© Agence Globale; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.06.2016, von Rebecca Gordon