Straßenkampf
Russische Fernfahrer wehren sich gegen die neue Maut
von Hélène Richard
Vor einem Einkaufszentrum in Chimki, nordöstlich von Moskau, parken am 7. März 2016 neun Lkws. „Preiserhöhung: Die Lkw-Maut trifft alle“ steht auf dem Schild an einer Windschutzscheibe. „Sie rauben die Fernfahrer aus und enteignen die Rentner!“ auf einem anderen. Über einen Stapel Paletten steigen wir in einen Anhänger, der den streikenden Fernfahrern als Hauptquartier dient. Der Anhänger ist bestens ausgestattet: ein großer Tisch, ein Kocher, auf dem Würstchen braten, ein Drucker und ein Heizlüfter, der das ganze Fahrzeug vibrieren lässt.
Viel geredet wird nicht. Es ist 19 Uhr. Ein paar Meter weiter langweilen sich zwei Polizisten in Zivil. Im Camp von Chimki und in einem weiteren in Sankt Petersburg harren die Fernfahrer aus, die den Kampf gegen die neue Mautpflicht für Lkws nicht aufgeben wollen. Sie sind der Nachhall einer sozialen Bewegung, die im letzten Winter viele russische Regionen erschüttert hat. „Seit 1998 gab es keinen Arbeitskonflikt mit so vielen Mitstreitern und beteiligten Regionen“, kommentiert die Website des Zentrums für soziale und Arbeitnehmerrechte, das alle zwei Monate die sozialen Konflikte in Russland analysiert.
Laut offiziellen Angaben sorgen etwa 1,8 Millionen Lastwagen und knapp zwei Millionen Fernfahrer dafür, dass der Warentransport über die russischen Straßen läuft. Anfangs war die Beteiligung an den Protesten groß. Allein in der autonomen Nordkaukasusrepublik Dagestan, deren Fernfahrer Russland mit Produkten aus dem Iran, Aserbaidschan und der Türkei versorgen, hatten im Herbst 2015 fast 17 000 Fahrer bei Bummelstreiks und ähnlichen Aktionen mitgemacht.1 In anderen Regionen gab es zwischen November 2015 und Februar 2016 Hunderte Treffen aufgebrachter Lkw-Fahrer. Doch an jenem Abend in Chimki halten nur noch neun Streikende die Stellung.
Unter der Krise der russischen Wirtschaft – die ist 2015 infolge der westlichen Sanktionen nach der Annexion der Krim um 3,7 Prozent geschrumpft – haben die Lkw-Fahrer besonders zu leiden, denn ihre Auslastung ist abhängig vom privaten Konsum, der 2015 um 7,5 Prozent zurückging. Die Einführung der neuen „Platon-Maut“ im November 2015 hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit dieser Abgabe sollen Reparaturen von Schäden bezahlt werden, die „durch Fahrzeuge von mehr als zwölf Tonnen an den Bundesstraßen“ verursacht werden. Die Fahrer fühlen sich doppelt bestraft. Die berühmten Schlaglöcher auf Russlands Straßen ruinieren Stoßdämpfer und Wirbelsäulen – und jetzt sollen sie auch noch für die Reparaturen bezahlen!
In jedem Führerhaus ist jetzt ein GPS-Gerät eingebaut, das die gefahrenen Kilometer berechnet, außerdem muss jeder Fahrer online seine genaue Route angeben. Nach dem Start des neuen Mautsystems am 11. November kam es vermehrt zu Bummelstreiks. Viele Fahrer drohten damit, sich in Moskau zu versammeln und die Ringautobahn zu blockieren.2 Aber wegen der schlechten Koordinierung und intensiver Polizeikontrollen wurde nichts aus der geplanten Aktion. Die meisten Laster wurden gestoppt, bevor sie die Hauptstadt erreichten.
„Der Warentransport ist um 10 bis 15 Prozent zurückgegangen“, schätzt Waleri Woitko, Präsident der Fernfahrervereinigung Dalnoboischtschik, die die Interessen der kleinen und mittleren Transportunternehmen vertritt. „Aber noch bedrohlicher für unsere Unternehmen ist der Gewinneinbruch der Branche um 30 Prozent.“
Alle Kosten steigen. Die zumeist importierten Lkw-Ersatzteile verteuern sich durch den Verfall des Rubels, der im Februar den Tiefpunkt seit der Rubelabwertung im Krisenjahr 1998 erreicht hat. Trotz des historisch niedrigen Rohölpreises ist das Benzin an den Tankstellen in den letzten zwei Jahren um 10 Prozent teurer geworden, weil die Regierung neue Einnahmequellen braucht. Im April wurde die Dieselsteuer um 20 Prozent erhöht.
Für Unzufriedenheit sorgt auch, dass die Durchführung der Platon-Maut – von den GPS-Geräten bis zu den Fahrzeugen der Kontrolleure, die jeden Verstoß ahnden – in den Händen von RT-Invest Transportnye Sistemy liegt. Die Firma gehört zu 50 Prozent Arkadi Rotenberg, dem Sohn des Oligarchen und Putin-Vertrauten Igor Rotenberg.
Nach Ansicht der Fernfahrer hat Wladimir Putin die neue Maut nur eingeführt, damit sich sein Freund Rotenberg auf ihre Kosten bereichern kann. Tatsächlich handelt es sich jedoch eher um einen Austausch von Gefälligkeiten: Rotenberg hat den Bau der Brücke übernommen, die die Krim mit dem russischen Festland verbinden soll. Seine Investition in das schätzungsweise 3 Milliarden Euro teure Projekt ermöglicht den lebenswichtigen direkten Zugang zur Krim, die seit der Annexion durch die ukrainische Blockade gelähmt ist.
Bei minus 40˚ C muss der Motor auch nachts laufen
Nicht alle Fernfahrer laufen Sturm gegen die Maut. Viele große und mittlere Logistikunternehmen erhoffen sich dank der Platon-Maut eine für sie günstige Restrukturierung des Transportsektors. „Deshalb finden die protestierenden Fahrer bei den Arbeitgeberverbänden keine Unterstützung“, erläutert Boris Krawtschenko, Sekretär der Konföderation der Arbeit, des zweitstärksten Gewerkschaftsverbands im Land.3
Die protestierenden Fernfahrer hingegen gehören zu den kleinen Einzelunternehmern mit ein bis fünf Lastwagen, die knapp 70 Prozent der Straßentransportunternehmen ausmachen. „2001 hat die Regierung das Lizenzsystem aufgehoben. Die Deregulierung hat den Markt für unqualifizierte Fahrer geöffnet. Die Liberalisierung unserer Ökonomie unter der jetzigen Regierung ist viel stärker als in Frankreich oder Deutschland. Und das schadet der Entwicklung des Sektors“, analysiert Woitko.
Der Zorn der Fernfahrer richtet sich also gar nicht so sehr gegen die Maut. Er offenbart die Ängste einer ganzen Berufsgruppe, die an ihrer Unabhängigkeit hängt und fürchtet zu verschwinden. „Sie wollen uns vom Markt vertreiben, uns zwingen, für die großen Firmen zu arbeiten“, schimpft Andrei Bajutin, Besitzer von zwei Lastwagen und Koordinator des Protestcamps in Chimski.
Im 1500 Kilometer entfernten Tscheljabinsk treffen wir ein Dutzend Fernfahrer auf der Stoinka, dem Autohof, auf dem sie zwischen zwei Lieferungen ihre Fahrzeuge abstellen und Reparaturen durchführen. Es ist wenig zu tun. Obwohl es geschneit hat, ist der Boden unter den Fahrzeugen trocken. „Die Lastwagen fahren nicht mehr raus. Sie sagen, die Krise sei vorbei, aber für uns fängt sie erst an“, erzählt Anatoli Stakejew, der einen Kipplader besitzt. Die Fernfahrer führen ein ungesundes Leben; viele haben sich angewöhnt, während der Fahrt trockene chinesische Nudelsuppen zu knabbern und warmes Wasser dazu zu trinken.
Tscheljabinsk am Fuß des Ural liegt an der Straße Richtung Sibirien. Die Fernfahrer, die sich in den Fernen Osten Russlands wagen, nennt man die Simniki („die Winterlichen“). Sie fahren in Konvois, um sich im Fall einer Panne helfen zu können. In den Gegenden, wo das Straßennetz dünn ist, dienen im Winter die zugefrorenen Flüsse als Verbindungswege. Nachts muss der Motor im Stehen weiterlaufen, damit das Benzin bei minus 40 Grad Celsius nicht einfriert. Viele haben ihre Lkws inzwischen verkauft und arbeiten für Supermarktketten: ein Tag Arbeit, zwei Tage Erholung, für 40 000 Rubel, umgerechnet 540 Euro im Monat. Das entspricht etwa dem Nettoverdienst eines unabhängigen Fernfahrers.
Selbstständige Lkw-Fahrer sind weit mehr als die angestellten in die Schattenwirtschaft verstrickt. Sich an die teils widersprüchlichen Gesetze und Vorschriften zu halten, ist schwierig. Geldstrafen, beispielsweise wegen der Fehldeklarierung einer Ladung, sind Verhandlungssache. Zahlreiche Transportunternehmen machen bis zu drei Viertel ihres Umsatzes in der Schattenwirtschaft. Durch die neue Maut können die Fahrer die Kontrollstellen – an denen neben der Tonnage auch die Einhaltung der maximalen Fahrzeiten überprüft wird – nicht mehr umgehen, ohne eine Strafzahlung zu riskieren.
Zwei Jeeps passieren das Ortsschild von Miass. In Sowjetzeiten ging es der Stadt an den Ausläufern des Ural wegen des Nutzfahrzeugwerks UralAZ gut. Heute verfällt sie. Es ist Sonntag, und da die Jagdsaison vorbei ist, vertreiben sich Matwejew und seine Kollegen die Zeit mit einem besonderen Spiel: im Schlamm stecken bleiben. Jenseits der markierten Straßen versinkt man knietief im Schnee – ideale Bedingungen! Sie fahren ihre Laster fest, manchmal dauert es Stunden, bis sie sich wieder vorwärts bewegen.
Oleg Sukow füllt die Wodkagläser, die der Übung den richtigen Schwung verleihen. „Ich komme aus einem Dorf dreihundert Kilometer von hier“, erzählt er. „Wir haben alles Mögliche gemacht, um zu überleben: arbeiten, stehlen. Wir waren Banditen. Mit zwanzig bin ich in die Stadt gekommen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit einem Kumpel habe ich angefangen, Privatisierungscoupons4 aufzukaufen. Mein Freund hat das Geld investiert. Ich hatte damals keine Ahnung, und am Ende ist nur er dabei reich geworden. Heute gehört ihm das größte Hotel von Tscheljabinsk, und er sitzt im Stadtparlament.“
Die russische Staatsmacht ist gegenüber den unzufriedenen Fernfahrern relativ gnädig. Zwar wurde das strenge Demonstrationsgesetz5 auf Bummelstreiks ausgeweitet, aber abgesehen von einer Verurteilung musste bisher kein Fahrer ins Gefängnis. Da erging es den Protestierenden gegen die Wahl Putins zur dritten Amtszeit als Präsident ganz anders. Sie mussten die Teilnahme an der Kundgebung am 6. Mai 2012 auf dem Moskauer Bolotnajaplatz teuer bezahlen, obwohl sie genehmigt war. Dreißig Demonstranten wurden wegen Beteiligung an einer angeblich von Washington finanzierten subversiven Aktion verhaftet. Sie wurden der „Teilnahme, Organisation oder Anstiftung von Aufruhr in großem Umfang“ beschuldigt und zu bis zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Dutzend von ihnen wurde 2013, anlässlich des zwanzigsten Jahrestags der Verfassung, amnestiert.
Bei Bewegungen, die von den Regionen (und nicht von Moskau) ausgehen, soziale (nicht politische) Forderungen vertreten und von gesellschaftlichen oder beruflichen Gruppen getragen werden, die als loyal gegenüber der Regierung gelten, lässt die Staatsmacht Milde walten. Bei seiner großen Jahrespressekonferenz äußerte sich Putin geradezu zärtlich über die Fernfahrer: „Ich komme auch aus einer Arbeiterfamilie. Diese Männer arbeiten Tag und Nacht. Ich mag sie gern, aber sie müssen raus aus der Schattenwirtschaft, und dabei müssen wir ihnen helfen.“
Direkt nach der Einführung der Platon-Maut bot die Regierung eine befristete Reduzierung der Abgabe bis zum 29. Februar 2016 an.6 Am 4. Dezember verabschiedete die Duma ein Gesetz, das die Strafen für säumige Zahler stark reduzierte. Bei der Pressekonferenz versprach der Präsident den Fahrern eine Befreiung von der Transportsteuer und gab zu, dass diese sich mit der Platon-Maut überschneide.
Bis vor Kurzem setzten die Fernfahrer noch auf den Geschäftsmann Dmitri Potapenko, der seine Eloquenz und wohl auch seine finanziellen Mittel in den Dienst ihrer Forderungen gestellt hatte. Beim Wirtschaftsforum in Moskau erklärte er am 8. Dezember 2015, die Regierung habe der Wirtschaft „dramatische Schläge“ versetzt: Dazu gehörten das „kriminelle Embargo“ für verschiedene westliche Importe, das zu Preisexplosionen geführt habe, ebenso wie die „Rotenberg-Steuer“.
Mittlerweile ist Potapenko jedoch der „Partei des Wachstums“ beigetreten, die die Interessen der Arbeitgeber vertritt. Sie dient vor allem dem Ziel, vor den Parlamentswahlen im September 2016 die Wählerschaft der kleinen und mittleren Unternehmen zu gewinnen, um die liberalen und sozialdemokratischen Oppositionsparteien kleinzuhalten.
Bei der kremlkritischen Opposition weckten die unstrukturierten Proteste der Lkw-Fahrer die Hoffnung, eine neue gesellschaftliche Basis zu finden. Sie versuchte, den Zorn der Fernfahrer zu nutzen, um der Regierung vorzuwerfen, dass sie für ihre Rückkehr auf die internationale Bühne die ökonomische Gesundheit des Landes opfere. Erreicht hat sie damit nur, dass die protestierenden Fernfahrer politisch Position beziehen mussten – und daran zerbrachen.
1 Kavkazski Ouzel (Onlinezeitung für die Kaukasusregion), 1. Dezember 2015.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Hélène Richard ist Russland-Korrespondentin von Le Monde diplomatique.