Freie Bahn
Bei der Privatisierung des Schienenverkehrs in Europa gibt es fast nur Verlierer
von Julian Mischi und Valérie Solano
In Parchim, einer Stadt mit 20 000 Einwohnern in Mecklenburg-Vorpommern, steht der Bahnhof zum Verkauf: verschlossene Gebäude, ein paar Graffiti, Fahrpläne mit den Abfahrtszeiten der Autobusse.
Der Bahnhof in der nordenglischen Kleinstadt Ashington bietet einen ähnlichen Anblick: „Von der Bahnsteigkante zurückbleiben“, warnt ein Schild, das an dem roten Ziegelgebäude schief über einem mit Brettern zugenagelten Schalter hängt. Der Schnellzug aus Edinburgh fährt dreimal pro Stunde durch, hält aber nicht. „Mit dem Zug wären wir in dreißig Minuten mitten in Newcastle, aber es gibt keinen Zug mehr“, erzählt ein Anwohner. „Auf der Autobahn ist fast immer Stau, und man kann nie sicher sein, dass man pünktlich kommt. Aber es gibt keinen anderen Weg, der Bus fährt ja auch über die Autobahn.“ Mit ihm dauert die Fahrt von Ashington nach Newcastle eine knappe Stunde.
Die Stilllegung vieler Bahnhöfe ist eine konkrete Folge der Liberalisierung des Schienenverkehrs, die seit 25 Jahren in ganz Europa stattfindet, trotz einigen Widerstands. Im Mai 2014 versammelten sich die Einwohner des finnischen Orts Haukivuori, um gegen die Schließung ihres Bahnhofs zu protestieren: „Es ist unglaublich, dass sie eine Station aufgeben, die seit 125 Jahren existiert, nur damit die Fahrt von Kouvola nach Kuopio drei Minuten kürzer wird! Man hat den Eindruck, dass der VR mehr als 12 000 Menschen komplett egal sind“, klagt Liisa Pulliainen, eine Bewohnerin des Orts.
VR-Yhtymä Oy ist der Logistikkonzern mit 21 Unternehmen, der aus der alten finnische Bahngesellschaft hervorgegangen ist. Wie überall führte die Privatisierung zu einer Zwei-Klassen-Mobilität: Die Hochgeschwindigkeitsverbindungen werden gefördert, während regionale Verbindungen und der öffentliche Personenverkehr vernachlässigt werden. Im September 2015 stellte die VR in 28 von 200 Bahnhöfen den Betrieb ein; auch einige Nebenstrecken werden nicht mehr bedient.
Im März teilte die finnische Regierung mit, den Schienenverkehr auch für andere Anbieter öffnen zu wollen. Kurz danach kündigte die VR-Gruppe die Streichung von 200 Lokführerstellen an – woraufhin die Lokführer für einen Tag in den Streik traten. Die Streikenden kritisierten vor allem die Verschlechterung des Angebots durch die neue Konkurrenzsituation. Tatsächlich bekommen Reisende auf den Bahnhöfen und in den Zügen keine Informationen mehr, sie können ihr Gepäck nicht mehr aufgeben und sich nirgendwo nach Anschlussverbindungen erkundigen. Sie müssen selbst sehen, wie sie weiterkommen, und ihre Fahrkarten im Internet kaufen.
Anderer Ort, selbe Situation: Am Hauptbahnhof von Stockholm arbeiten mehrere Bahnbetreiber in Konkurrenz zueinander, so dass die Kunden keinerlei Überblick mehr haben. Wer von der schwedischen Hauptstadt nach Malmö fahren will, muss unter zahlreichen Gesellschaften und unterschiedlichen Tarifen auswählen. Fahrkarten, die im Voraus oder nur für bestimmte Zeiten am Tag gelöst werden, sind billiger, gelten aber nicht für einen anderen Zug, wenn man den gebuchten verpasst hat. Man muss viel Zeit im Internet verbringen, um das günstigste Angebot zu finden, denn am Schalter bekommt man nur Auskünfte zu der Gesellschaft, die ihn betreibt.
Mit ihren Bahn-Richtlinien verfolgt die Europäische Union ein klares Ziel: Der Bahnverkehr in Europa soll vereinfacht und durch Konkurrenz für die Kunden billiger werden. Fernziel ist ein transparentes Tarifsystem, länderübergreifende Interoperabilität (Zusammenarbeit bei der Stromversorgung, einheitliche Spurweite, Signalanlagen und Sicherheitsvorschriften) und mehr Hochgeschwindigkeitszüge. Auf dem Papier klingt das gut, doch mit den Zielen ist eine bestimmte Agenda verbunden: die Zerschlagung der nationalen Eisenbahnunternehmen durch die Trennung von Infrastruktur (die Gleise) und Betrieb (die Beförderung), und die Aufspaltung der einzelnen Dienstleistungen (Fahrkartenverkauf, Reinigung, Wartung, Fahrdienst, Kontrolle), um in jedem Bereich Konkurrenz zu erzeugen.
Die massive Deregulierung traf zuerst den Güterverkehr. Die Schienentransportunternehmen konkurrieren heute aber nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Straßentransport. Inzwischen betreiben zahlreiche Eisenbahnunternehmen selbst Straßenspeditionen. Das Frachtvolumen ist in Europa insgesamt zwar relativ stabil, aber der Anteil des Gütertransports auf der Schiene ist zugunsten des Transports auf der Straße geschrumpft. Lastwagen fahren Ziele an, wohin keine Züge mehr rollen, und nach der Öffnung des europäischen Gütertransportmarkts haben die Fuhrunternehmen von sinkenden Kosten profitiert – zulasten der Umwelt und der Gehälter.
Das kann man zum Beispiel in der Schweiz beobachten. Dort bekam die Crossrail AG, ein Eisenbahnunternehmen mit Tochtergesellschaften in mehreren europäischen Ländern, im Rahmen der Öffnung Zugang zum schweizerischen Verkehrsnetz. Seine Mechaniker bezahlte das Unternehmen nach italienischen Standards: 3600 Schweizer Franken (rund 3270 Euro) im Monat; 2000 Franken weniger als das, was die staatlichen Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) zahlen. 2016 gab das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) recht und befand, dass die Gehälter von Crossrail gegen das Eisenbahngesetz verstießen. Danach ist der Zugang zum schweizerischen Eisenbahnnetz daran geknüpft, dass die geltenden Anstellungsbedingungen der Branche eingehalten werden.
In Schweden begann die Privatisierung 2001. Doch der Wettbewerb brachte nicht die Resultate, die man den Fahrgästen versprochen hatte: Bahnfahren ist teuer und komplizierter, die Züge sind selten pünktlich. Die Zunahme des Verkehrs hat zu immer mehr Verzögerungen und Störungen geführt. 70 Prozent des Eisenbahnnetzes sind eingleisig, und die Schieneninfrastruktur ist für die viel gerühmten Hochgeschwindigkeitszüge ungeeignet. Überdies behindern Güter- und Regionalzüge, die häufig halten, die Hochgeschwindigkeitszüge, und eine lokale Störung hat sofort Auswirkungen auf das gesamte Verkehrsnetz. Dem Schienennetz kam die Konkurrenz der Betreiber in keiner Weise zugute: Weil Investitionen in die Infrastruktur nicht rentabel sind, haben die Betreiber kein Interesse daran, in Schweden ebenso wenig wie in anderen Ländern. Der Journalist Mikael Nyberg bezeichnet die Zerschlagung des schwedischen Eisenbahnsystems, das einmal als eines der verlässlichsten in Europa galt, als „großen Raubzug“.1 Und in einer Umfrage sprachen sich 70 Prozent der Schweden für eine Rückkehr zum staatlichen Eisenbahnmonopol aus.2
Mehr Unfälle, steigende Preise
Aufgrund unzureichender Investitionen in die Bahn-Infrastruktur nehmen überall in Europa die Unfälle zu. Im Jahr 2000 ereignete sich ein schweres Eisenbahnunglück im britischen Hatfield (mit 4 Toten und 35 Verletzten), 2002 ein weiteres in Potters Bar (mit 7 Toten und 76 Verletzten). Das Vereinigte Königreich ist ein Pionier in Sachen Bahnprivatisierung, die mit dem „Railways Act“ von 1993 begann. Die Untersuchung nach der Zugentgleisung in Hatfield ergab, dass sämtliche Strecken im Land marode waren, weil über einen langen Zeitraum viel zu wenig investiert worden war.
Statt Geld in die Infrastruktur zu stecken, hatte Railtrack, die Betreibergesellschaft des britischen Schienennetzes, die Gewinne gehortet. Für den Austausch defekter Gleise forderte die Gesellschaft Finanzhilfen von der Regierung – die dann teilweise dafür verwendet wurden, Dividenden an die Aktionäre auszuschütten.3 Inzwischen wird das britische Schienennetz wieder von einer staatlichen Gesellschaft betrieben, der 2002 gegründeten Network Rail.
Auch in Frankreich führen Kostensenkungen und das Outsourcing von Wartungsaufgaben zum Verfall des Schienennetzes: Am 12. Juli 2013 entgleiste im Bahnhof von Brétigny-sur-Orge ein Zug, weil sich in einer Weiche ein Metallteil gelockert hatte. Bei dem Unglück starben 7 Menschen, 70 wurden verletzt. Die meisten Sicherheitsprobleme sind die Folge der mangelhaften Wartung der Gleisanlagen, aber auch der unzureichenden Ausbildung des Personals, insbesondere der Lokführer. Im März 2013 durchbrach eine Lokomotive im schweizerischen Rangierbahnhof Penthalaz wegen zu hoher Geschwindigkeit einen Prellbock. „Ich glaube, der Lokführer kannte die Lokomotive nur aus dem Betriebshandbuch“, gab ein Weichensteller zu Protokoll. Der Lokführer war bei einem Subunternehmer angestellt, der Fahrzeugführer ausleiht.
Der Wettlauf um die niedrigsten Kosten verschlechtert nicht nur die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten bei den großen Staatsbahnen, sondern untergräbt auch eine anspruchsvolle Berufsethik, nach der das rollende Material in perfektem Zustand zu sein hat. Das neue Management drängt die Arbeiter, ihre Produktivität auf Kosten der Qualität und damit der Sicherheit zu steigern. Jean T. ist seit 32 Jahren bei der SBB für Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten zuständig: „Ich habe immer hervorragende Bewertungen bekommen, und auf einmal warf mir mein Chef vor, ich wäre zu sorgfältig. ,Mach deine Sache und kümmere dich nicht um den Rest.‘ Aber ich kann so nicht arbeiten. Wenn du siehst, dass ein Kabel abgenutzt ist, tauschst du es aus, auch wenn du den Auftrag hast, nach den Bremsen zu schauen.“
In einem Betriebswerk der französischen SNCF äußern sich Arbeiter und leitende Angestellte ähnlich. Der ehemalige Personalchef erzählt, dass in den nuller Jahren „die Rentabilität eine immer größere Rolle spielte. Früher zählte vor allem, dass die Arbeit richtig gemacht wurde. Es ging nicht dauernd darum, dass man wegen der Kosten Rechenschaft ablegen musste. Die Arbeit musste gut sein, wenn das viel kostete, war es nicht so schlimm.“ Der französische Staat plant, den Schienenpersonenverkehr ab 2020 für den Wettbewerb zu öffnen. Diese Deadline hat Brüssel gesetzt. Zuerst wird es die großen Fernverbindungen treffen, vor allem die TGV-Strecken. Voraussichtlich 2024 sind dann die Linien dran, die sogenannte öffentliche Dienstleistungen erbringen (Regionalzüge, Intercitys). Vor diesem Hintergrund werden die zuletzt massiven Streiks bei der SNCF verständlich: Die Gewerkschaften wollen Einfluss nehmen auf die Verhandlungen mit der SNCF und den privaten Betreibern über den Vertrag zur Harmonisierung der Arbeitsbedingungen aller Eisenbahner.
Das vierte Brüsseler „Eisenbahnpaket“, das im Januar 2014 konzipiert wurde, zielt auf die Länder, die bei der Deregulierung hinterherhinken; es soll „noch bestehende Hindernisse ausräumen, die der Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums im Wege stehen“.4 Immer wieder ist die Rede davon, „einen wettbewerbsfähigeren Eisenbahnsektor zu schaffen“, obwohl nicht zu übersehen ist, welche negativen Wirkungen die ausschließliche Orientierung auf den Wettbewerb hat.
Im Vereinigten Königreich war die Regierung nach dem Eisenbahnunglück von Hatfield zu Änderungen gezwungen, aber die grundsätzliche Linie blieb: Deregulierung im Bereich Personenverkehr mit mittlerweile rund 30 Betreibern, die als Franchisenehmer Konzessionen bekommen. Für die Kunden lohnte sich die Privatisierung nicht: Die Fahrpreise steigen unaufhörlich; 2012 um 6 Prozent, 2013 um 4,2, 2014 um 2,8 und 2015 um 2,5 Prozent. Für die Infrastruktur werden regelmäßig öffentliche Gelder zugeschossen.5
Besonders im Zusammenhang mit den Diskussionen über einen möglichen „Brexit“ gibt es noch einen anderen Streitpunkt: Die Betreiber, die Konzessionen für das Vereinigte Königreich besitzen, sind nur in Ausnahmen britische Firmen, sondern kommen überwiegend vom Kontinent. Die Deutsche Bahn (DB) ist mit ihrer Tochtergesellschaft Arriva vertreten, aus Frankreich sind Keolis und RATP dabei, aus den Niederlanden Abellio. Damit hat die Privatisierung paradoxerweise den Niedergang der britischen Unternehmen beschleunigt. Vor diesem Hintergrund setzen sich Bürgerinitiativen seit mehreren Jahren dafür ein, Bahnhöfe und Strecken, die als nutzlos oder defizitär stillgelegt wurden, wieder zu öffnen. So kämpfen im Vereinigten Königreich wie auch in anderen Ländern Eisenbahner, Bahnkunden und lokale Abgeordnete gemeinsam dafür, die Werte des öffentlichen Personenverkehrs zu erhalten.
1 Mikael Nyberg, „Det Stora Tågrånet“, Stockholm (Karneval) 2011.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Julian Mischi ist Soziologe und Autor von „Le Bourg et l’Atélier. Sociologie du combat syndical“, Marseille (Agone) 2016. Valérie Solano ist Generalsekretärin der schweizerischen Transportgewerkschaft SEV.