12.05.2016

Demokratische Übungen im Iran

zurück

Demokratische Übungen im Iran

Beim zweiten Wahlgang am 29. April hat das gemäßigte Lager um Präsident Rohani weitere Erfolge erzielt. Während das Regime die hohe Beteiligung als Erfolg für sich verbuchen kann, ging es für viele Iraner nur um eine Wahl zwischen größerem und kleinerem Übel.

von Shervin Ahmadi und Philippe Descamps

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Atmosphäre gleicht einem Volksfest. Die Menge drängt sich um einen weißen Turban. Soeben ist Präsident Hassan Rohani beim jährlichen Revolutionsumzug in Teheran auf der Azadi-Allee aufgetaucht. Immer wieder ertönt der Slogan: „Weder besiegt noch unterworfen!“ Die Menge stimmt in die Rufe ein. Sie offenbaren, was das Atomabkommen1 für „die Straße“, zumindest für die einfachen, regimetreuen Leute bedeutet.

Es ist der 10. Februar 2016. Nach seinem diplomatischen Erfolg mit dem Atomdeal und kurz vor den Parlamentswahlen am 26. Februar und 29. April nutzt Rohani, der Führer der „gemäßigten Konservativen“, die Gelegenheit für ein Bad in der Menge. Vielleicht sind es, wie die offizielle Presse später behauptet, Millionen Iraner, die zum Freiheitsplatz strömen, mehrere Hunderttausend sind es auf jeden Fall.

Hier herrscht noch der alte Personenkult, überall hängen Porträts der beiden Obersten Revolutionsführer, Ajatollah Chomeini (1902–1989) und dessen Nachfolger Ali Chamenei, daneben Parolen gegen Israel und die USA. Aber die Stimmung ist anders als vor zwanzig oder noch vor zehn Jahren, als die Nachbarschaftsvereine Paraden gegen die „westliche Arroganz“ organisierten.

Viele Familien sind unterwegs. Die Jüngsten tragen grün-weiß-rote Mützen oder haben sich wie im Fußballstadion die Nationalfarben auf die Wange gemalt. Islamische Parolen aus Lautsprechern oder auf Transparenten sind die Ausnahme, aber überall feiert man die Größe des Iran.

Alle jubeln über die Rückkehr auf die internationale Bühne. Nicht nur weil das Land, das einst zur „Achse des Bösen“ gehörte, heute mit den wichtigsten Großmächten am Verhandlungstisch sitzt, sondern auch weil – wie ein verspätetes Echo der Revolution – seine libanesischen, irakischen, syrischen und jemenitischen Verbündeten in einem Regionalkonflikt, den niemand beim Namen nennen mag, wichtige Erfolge erzielen.

Kontrollierte Wahlen und patriotische Lieder

„Sehen Sie sich das hier gut an“, ruft uns eine etwa Vierzigjährige von ihrem Stand aus zu. „Nicht dass Sie hinterher erzählen, hier würden Lebensmittel verteilt, damit die Leute kommen!“ Ihre Ermahnung klingt streng, aber sie lächelt, und ihre gekochte rote Bete schmeckt köstlich.

Die Stimmung bleibt freundlich. Auf mehreren Bühnen gibt es humoristische Darbietungen und Gesang, irgendwann schaukelt ein großer Karnevalskopf über die Menge, die sich vor der Show eines Fassadenkletterers drängt.

Nach ein paar Volkstänzen folgt eine „Attraktion“ der Revolutionsgarden. Sie spielen die Gefangennahme US-amerikanischer Marines nach, die am 12. Januar 2016 im Persischen Golf in Seenot geraten waren. Danach stehen wieder richtige Schauspieler und patriotische Lieder auf dem Programm. Schließlich entdecken wir sogar einen Stand der Teheraner Börse und daneben den des Privatisierungsbüros!

Ständiges Kameraklicken. Die wenigen Ausländer werden mit Willkommensgrüßen und Selfie-Wünschen bestürmt. Etwas weiter weg entfernt steht mitten auf der Straße eine Rakete. Direkt davor drei offen homosexuelle junge Männer mitten in diesem großen Umzug,2 die Ordnungskräfte halten sich im Hintergrund. Eine (zivile) Rakete und eine (militärische) Drohne flankieren den Zugang zum Platz. Eine westlich gekleidete Frau um die dreißig fasst den Vormittag für uns zusammen: „Wenn es Probleme im Inneren gibt, ist es wichtig, sich nach außen geschlossen zu zeigen.“

„Eine Million auf der Straße, mag sein, aber fünfzig Millionen dagegen!“ Sajida L. und ihr Mann Nasim3 bleiben dem Revolutionsfest wie immer fern. Als Aktivisten der laizistischen Linken waren sie 1979 aktiv am Sturz des alten Schah-Regimes beteiligt, dann verschwanden sie von 1983 bis 1990 in den Kerkern der Islamischen Republik. Zwischen zwei Gläsern Wein – den viele Familien selbst herstellen, um das Alkoholverbot zu umgehen – beschreibt

Nasim das Dilemma der Fortschrittlichen vor den Wahlen: „Ich bin für einen Ökosozialismus, der nachhaltige Entwicklung und soziale Gerechtigkeit verbindet. Aber wenn wir Linken heute für die Freiheit kämpfen wollen, haben wir keine andere Wahl, als für die am wenigsten Konservativen zu stimmen, die versuchen, die Macht des Revolu­tions­führers einzuschränken.“

„Wir wissen durchaus, dass die Programme der Reformer immer liberaler werden und dass zwischen den Sozial­programmen der Kandidaten keine großen Unterschiede bestehen“, ergänzt Sajida. „Aber das Wichtigste wäre, dass wir etwas mehr Luft zum Atmen haben, um die Grundlagen einer echten Demokratie aufzubauen und zu versuchen, die Gewerkschaften und Verbände wieder zu stärken.“ Das Regime habe zwar seine Basis im Volk größtenteils verloren, meint sie. „Aber wir haben auch erlebt, wie schnell die Grüne Bewegung4 zusammengebrochen ist. Das lag natürlich an den Repressionen, aber auch daran, dass sie nur von der Mittelschicht getragen wurde. Die Jugend ist nicht bereit, eine neue Revolution zu machen.“

Für die soziale Entwicklung setzt Sajida Hoffnungen in den Ansatz von Präsident Rohani. „Eine Freundin von mir braucht ein sehr teures Krebsmedikament. Dass sie behandelt werden kann, verdankt sie Rohani, der die Importe vereinfacht und die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung erhöht hat. Auch die Situation der Lehrer hat sich nach den Protesten verbessert.“

In diesem Land, wo jede kritische Äußerung ein Versteckspiel mit den Behörden nötig macht, helfen uns die linken Aktivisten, zwischen Täuschungsmanövern und echten Veränderungen zu unterscheiden. Viele Menschen, mit denen wir vor der Wahl gesprochen haben, ließen immer wieder eine Bemerkung fallen: „Wir haben nur die Wahl zwischen dem größeren und dem kleineren Übel.“

Pouya T. wird seinen Sohn begleiten, der zum ersten Mal wählen geht (er stimmt für das kleinere Übel), er selbst kann sich nicht durchringen, einen Zettel in die Urne zu werfen: „Ul­tra­konservative, Gemäßigte, Reformer: Die Etiketten sagen nicht viel. Sie waren alle schon in den 1980er Jahren an der Macht und haben sich die Hände schmutzig gemacht.“

Die von den Repressionen geschwächten Linken können die gestohlenen Jahre ebenso wenig vergessen wie die Massenhinrichtung politischer Gefangener von 1988, bei denen Tausende Menschen starben.5 Der heutige Oberste Führer war damals Staatspräsident, Mir Hossein Mussawi, der Reformkandidat von 2009, Ministerpräsident und Ali Haschemi Rafsandschani Oberkommandierender der Armee. Seit seiner Zeit als Staatspräsident (1989–1997) gilt Rafsandschani als „Pragmatiker“ und Befürworter des freien Unternehmertums.

Während sich die Ideologie der „Weltrevolution des Islam“ mehr und mehr erschöpfte, hat sich die iranische Elite mit dem neoliberalen Weltbild angefreundet. Rafsandschani bleibt trotz seiner 82 Jahre, seiner schamlosen Bereicherung und der Korruptionsaffäre, die seinen Sohn ins Gefängnis gebracht hat, Dreh- und Angelpunkt des politischen Lebens. Heute zählt er zu den „Gemäßigten“. Er hat sich mit Rohani verbündet und auch die Unterstützung der Reformer um den früheren Präsidenten Mohammed Chatami (1997– 2005) gewonnen.

Nasim, der Ökosozialist

Wie viele andere, die sich zur „verbrannten Generation“ der in den 1970er Jahren Geborenen zählen, betrachtet Pouya die Widersprüche seines Heimatlands mal traurig, mal spöttisch, in einer Mischung aus Zuneigung und Hohn. Das riesige Teheran mit seinen mehr als 13 Millionen Einwohnern, einst nach dem Modell von Los Angeles geplant, ist entstellt von Hunderten Kilometern chronisch verstopfter Schnellstraßen, die herrliche Bergkulisse ist durch dem Smog nicht zu erkennen. Während sich Pouya durch die Autokolonnen schlängelt, zählt er die Hochhäuser, erbaut mit Hilfe der Zentralbank, die Geldanlagen großzügig verzinst, ohne nachzufragen, woher das Geld kommt. Deshalb gibt es im Iran heute trotz der internationalen Sank­tio­nen einen wuchernden Bankensektor, eine galoppierende Inflation (2015 circa 15 Prozent) und eine geplatzte Immobilienblase.

Die informelle Ökonomie blüht; weil Erbschaften und Spekulationsgewinne nicht besteuert werden, nimmt die soziale Ungleichheit rasant zu, was sich an den Wohnungspreisen ablesen lässt: circa 7000 Euro pro Quadratmeter auf den grünen Hügeln im Norden der Stadt, höchstens ein paar hundert Euro im Süden, am Rand der Wüste.

Kaufen kann man hier alles: Für 4500 Euro bekommt man ohne Aufnahmeprüfung eine Zulassung zum Studium. Um dem 18-monatigen Militärdienst zu entgehen, muss ein Abi­tu­rient ungefähr 3500 Euro zahlen, ein Arzt 8500 Euro – all das bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von schätzungsweise 300 Euro.

Auch mit der Religion kann man sich immer arrangieren: Die nach der islamischen Lehre prinzipiell verbotenen Zinskredite wurden in „Erleichterungen“ umgetauft, der 1983 verbotene, aber weiterhin übliche Zinswucher in den 2000er Jahren als „diskontierter Profit“6 legalisiert.

Schon die Regelung des Straßenverkehrs verrät einiges über die Einstellung der Iraner zu Vorschriften und zur Organisation der Gesellschaft. Es gibt drei verschiedene Ampeln: dreifarbige, die nicht sehr verbreitet sind, orange blinkende, die die Weiterfahrt mit besonderer Vorsicht erlauben, und rot blinkende, die nur überquert werden dürfen, wenn kein anderes Fahrzeug naht. In der Praxis ist jede Kreuzung ein Hexenkessel, und Vorfahrt hat derjenige, der später bremst. „Wie die Jungs ticken und wann sie endlich auf die Bremse treten, weiß ich inzwischen.“ Pouya lacht. „Aber heute behaupten sich auch die Frauen am Steuer, da muss ich oft nachgeben.“

Mit Ausnahme der höchsten Machtzirkel sind die Frauen überall auf dem Vormarsch,7 auch in der 290 Mitglieder zählenden Madschlis asch-Schura, dem iranischen Parlament. Nach dem zweiten Wahlgang wird es 17 weibliche Abgeordnete geben – so viele wie nie zuvor.

Da ein echtes politisches Engagement aber nach wie vor unmöglich ist, engagieren sich viele lieber in Vereinen. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die während Chatamis Präsidentschaft entstanden waren und unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad (2005–2013) eine schwere Zeit hatten, werden heute wieder aktiv.

Azadeh G. führt uns durch das Begegnungszentrum eines armen Stadtviertels im Süden Teherans. Es ist ein Ort der Nachbarschaftshilfe, wo man Nähen, den Umgang mit Geld und private Haushaltsführung lernt. Eine Gruppe lässt uns ohne Weiteres dazukommen. Unter der Leitung eines Psychologen suchen die Teilnehmer Lösungen für Probleme in der Partnerschaft, bei der Arbeit oder in der Familie. Religiöse Bezüge spielen dabei offenbar keine Rolle. Alle leben mit dem Islam als allgegenwärtiger Institution, aber wenige halten an ihm als politischer Ideologie fest. Der Glaube wird wieder Privatsache.

Nach den Zeiten des Verfalls kollektiver Werte und des Rückzugs ins Private zeugen derzeit viele Aktionen vom Wiedererstarken der Solidarität. In einer Vorstadt hilft ein Verein bei der frühzeitigen Einschulung von Kindern afghanischer Herkunft, um deren Integration zu erleichtern. Verschiedene Organisationen unterstützen alleinstehende Frauen mit Kindern, von denen es im Iran mehr als 2,5 Millionen geben soll. Und sogenannte Sonnenhäuser bieten eine vorübergehende Zuflucht für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind.

Wahlkarawanen im Zagros-Gebirge

Andere Vereine helfen Drogenabhängigen und ihren Familien. Einer davon betreut in Zusammenarbeit mit medizinischen Einrichtungen, die den Entzug überwachen, gut zwanzig Fami­lien. Die Leiterin, Farideh D., war selbst mit einem Drogensüchtigen verheiratet: „Heute fühle ich mich nützlich. Ich habe meinem Leben einen Sinn gegeben. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Suchtkranken im Iran verdoppelt. Alle Schichten der Gesellschaft sind betroffen, aber vor allem Menschen, die vom Land in die Stadt kommen.“ Auch hier ist nicht von Religion die Rede: „Wir engagieren uns aus humanistischen Gründen, nicht aus Pflichtgefühl.“

„Der Drogenkonsum nimmt rasant zu“, bestätigt auch Nasser Fakouhi, Anthropologe an der Universität Teheran. „Das Phänomen ist vergleichbar mit dem Alkohol in der Sowjetunion. Ob als Aufputschmittel oder zur Beruhigung, mit Drogen kann man seiner Situation entfliehen – und letztendlich akzeptiert man sie damit.“

Laut UN-Weltdrogenbericht gibt es im Iran jährlich fast 3000 Drogentote. Nach Angaben des iranischen Delegierten im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen wurden 74 Prozent der weltweit beschlagnahmten Menge an Opium sowie 25 Prozent des Heroins und Morphiums im Iran eingezogen.8

Die 2000 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan, dem Hauptproduzenten von Schlafmohn, begünstigt natürlich den Import und den Transit von Drogen. Aber der Iran entwickelt sich auch selbst mehr und mehr zu einem Großproduzenten chemischer Drogen, insbesondere von Cristal Meth.

Der Kampf gegen den Drogenschmuggel rechtfertigt in den Augen der Behörden jede Repression. Die meisten der 977 Menschen, die 2015 im Iran hingerichtet wurden – so viele wie seit 1989 nicht mehr –, waren wegen Verstoß gegen die Drogengesetze zum Tode verurteilt worden. Mehrere tausend Strafgefangene, von denen einige bei der Verhaftung noch minderjährig waren, sollen in den Gefängnissen auf den Tod durch Erhängen warten.9

Cyrius F., ein pensionierter Klempner, ist Vorsitzender eines Nachbarschaftsvereins im Süden von Teheran. Er beobachtet den sozialen Niedergang und seine Folgen: „Die traditionellen Arbeiterviertel haben erlebt, wie zunächst die Industriearbeiter massenhaft arbeitslos wurden, und als dann die Immobilienblase geplatzt ist, verloren sie ihre Jobs in der Baubranche. Dazu kommen die diplomierten Arbeitslosen, junge Leute, die studiert haben und jetzt Pizza ausliefern oder ewig auf eine feste Stelle warten. Die Schattenwirtschaft explodiert ebenso wie der Drogenhandel in den Parks.“

Das einzige positive Zeichen sind in seinen Augen die entstehenden Protestbewegungen von Arbeitern in der Erdölindustrie sowie von Lehrern und Krankenhauspersonal. Dass daraus ein großer gemeinsamer Kampf werden könnte, glaubt er allerdings nicht – weshalb es wieder auf die Wahl „zwischen dem größeren und dem kleineren Übel“ hinausläuft.

Zoreh V. stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie ist die Witwe eines berühmten Gewerkschafters, der in den 1970er Jahren eine große Gewerkschaftsgruppe in der Hauptstadt geleitet hat. „Vor dreißig Jahren war ich die Einzige in meiner Familie, die nicht in die Moschee ging, die Einzige, die lesen und schreiben konnte“, erinnert sich Zoreh. „Heute haben meine Kinder, Neffen und Nichten alle ein abgeschlossenes Studium. Sie können selbstständig denken. Der Lebensstandard ist höher, die Fruchtbarkeit auf ein Drittel zurückgegangen, jeder kann reisen. Man kann sich darüber beklagen, dass immer die Konsumfreiheit im Vordergrund steht, dass es keine Perspektive für mehr Gleichheit gibt. Aber die konkrete Situation der Menschen hat sich verbessert, und sie haben immer weniger Angst, zu sagen, was sie denken.“

Viele Intellektuelle hören Tag und Nacht BBC auf Persisch und entwickeln als Reaktion auf die offizielle Propaganda eine zuweilen naive prowestliche Haltung. Die einstigen Aktivisten reden voller Verbitterung über die „Errungenschaften“ der Revolution, weil die Fortschritte in Gesundheitswesen, Bildung und Wohnungsbau seither stark eingeschränkt worden sind. Sajida L. ist trotz allem überzeugt, dass „Imam Chomeini seinen Platz in der Geschichte behalten wird, auch wenn man heute über ihn schimpft“, besonders weil er Amerika und Saddam Hussein die Stirn geboten hat.10

In den angesagten Vierteln im Norden Teherans stoßen wir auf ähnliche Ansichten. Bei einer Abendgesellschaft der Großbourgeoisie, die ihre Kinder zum Studieren ins Ausland schickt oder teilweise selbst in den USA lebt, werden zum traditionellen iranischen Essen Wodka oder Whisky gereicht. Die Manager setzen große Hoffnungen in die wirtschaftliche Öffnung, sie schätzen Präsident Rohani, sein Fingerspitzengefühl und sein Geschick im Umgang mit dem Apparat des Revolutionsführers. Der freundliche Ton gegenüber dem Westen ist nicht unvereinbar mit dem Anspruch auf nationale Souveränität, vor allem was die Rivalität mit Saudi-Arabien anbelangt.

Der Wahlkampf ist kurz, sehr kurz. Erst acht Tage vor der Wahl bestätigt der Wächterrat die endgültige Kandidatenliste. Die Hälfte der 12 000 Kandidaten wurde ausgeschlossen, nach einigen Rückzügen bleiben etwas mehr als 5000 für die 290 Sitze in der Madschlis. Sie haben eine Woche Zeit, sich bei der Bevölkerung bekannt zu machen. Durch jedes Dreiseelendorf im Zagros-Gebirge ziehen die Karawanen der Unterstützer. Ganz vorn fährt ein mit Plakaten beklebtes Auto durch die karge Berglandschaft; es folgen der Kandidat, der den Schaulustigen die Hände schüttelt, und ein paar Dutzend weitere Fahrzeuge mit dröhnenden Hupen. An jedem Pfosten hängen Zettel, Geschäfte werden in Wahlkampfbüros verwandelt. Man kommt zum Teetrinken und Kommentieren der Nachrichten, natürlich unter Männern.

So begrenzt dieses Wahlkampfthea­ter auch sein mag, noch vor zwanzig Jahren war es undenkbar. Denn in diesen Bergdörfern, wo die Temperaturen im Winter häufig unter minus 15 Grad sinken und die Häuser nicht isoliert sind, gab es weder Straßen noch Strom. Urplötzlich ist das moderne Leben eingezogen und hat das Land der Luren, einer überwiegend nomadisch lebenden Ethnie, auf den Kopf gestellt. Auf den Almen, wo sie früher ihre Zelte aufstellten, stehen heute Dörfer aus Beton. Der Iran ist inzwischen sehr städtisch geprägt. Auf dem Land lebt nur noch gut ein Viertel der Bevölkerung, während sich die Einwohnerzahl in den Städten seit der Revolution nahezu verdreifacht hat.

Das Regime passt sich der Entwicklung an und setzt mehr auf die Befriedigung der Konsumbedürfnisse als auf Verbote. Das zeigt sich auch bei den Medien, wo zahlreiche nationale oder im Ausland ansässige Fernsehsender entstanden sind.11 Sie werden von Leuten aus dem Umfeld der Machthaber kontrolliert und konzentrieren sich ganz auf Unterhaltung und Ablenkung. So ähnlich ist es auch bei Wahlen. Da es keine richtigen Parteien gibt, wird kaum über politische Programme diskutiert.

Zudem ist das Bewerberfeld kaum überschaubar: In Teheran haben sich 1200 Kandidaten um 30 Mandate beworben. In den Wahllokalen – meist in Schulen oder Moscheen – bekamen die Wählerinnen und Wähler eine Liste mit 30 Feldern überreicht, in die sie fehlerfrei 30 Namen eintragen mussten. Es gab keine Wahlkabinen, alle mussten sich irgendwie vor den Aushang mit der offiziellen Liste stellen, die in alphabetischer Reihenfolge Hunderte Kandidaten aufzählte – was in der Praxis kaum funktionierte.

Am Tag vor der Wahl standen viele Passanten vor den überall klebenden Plakaten und machten sich Notizen. Die Klügsten brachten ihren Zettel mit ins Wahllokal, andere blickten auf ihr Handydisplay oder fragten den Nebenstehenden. In dem Wahllokal, das wir besichtigen durften, gingen die Stimmen mehrheitlich an die „Liste der Hoffnung“, die der Reformer Mohammed Reza Aref anführte, und die alle 30 Mandate der Hauptstadt gewann. Trotz des eingeschränkten Internetzugangs haben die sozialen Netze, die Millionen Iraner nutzen, in der Hauptstadt stark mobilisiert. Das am 26. Februar 2016 am häufigsten auf Instagram geteilte Foto zeigte einen von Dokumententinte gefärbten Daumen und als Verband darum der Satz: „Ich wähle trotzdem und hoffe, dass ich mich dabei nicht so verletze wie letztes Mal.“

Risiken nach dem Ende der Sanktionen

Schon vor der Stichwahl am 29. April konnten die Gemäßigten größere Erfolge verzeichnen. Mehrere Vertreter der Ultrakonservativen wurden abgewählt, darunter der als fundamentalistischer Chef­ideologe des Regimes geltende Aja­tollah Mesbah Yazdi, der auch Vorsitzender des Expertenrats war. Dieser Rat, der Ende Februar zeitgleich mit dem Parlament für acht Jahre gewählt wurde, könnte eine wichtige Rolle spielen, denn er muss den künftigen Obersten Führer wählen, sollte der 76 Jahre alte und kranke Chamenei zurücktreten, abberufen werden oder sterben.

Es war kein Sieg des einen Lagers über das andere, beide Tendenzen sind gleichermaßen vertreten, auch weil die meisten Reformer von der Wahl ausgeschlossen wurden. Die Städte haben für Veränderung gestimmt, nicht aber die ärmeren Regionen, und viele Abgeordnete, die sich heute als gemäßigt darstellen, galten lange als Konservative. Die hohe Wahlbeteiligung ist zudem ein Erfolg für das Regime.

Ohnehin sichern die Institutionen den Mullahs genug Macht, um Einfluss auf sämtliche künftigen Entscheidungen in der Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik zu nehmen. Präsident Ahmadinedschad (2005–2013) hatte für seine Popularität gesorgt, indem er eine Beihilfe an die Armen verteilte und „eine Million“ Wohnungen für die Obdachlosen bauen ließ. Gleichzeitig hat er jedoch die Privatisierung großer Teile des staatlichen Sektors zugunsten religiöser Stiftungen vorangetrieben und die von den Revolutionsgarden kontrollierten Strukturen gestärkt.

Wenn das Atomabkommen nicht schnell Wirkung im Alltagsleben zeigt, könnte die an den Urnen gestärkte Position der gemäßigten Konservativen schnell wieder schwächer werden. Seit dem Ende der Sanktionen hat der Iran zwar bereits einen Teil seiner eingefrorenen Auslandsguthaben zurückbekommen und konnte auch seine Erdölexporte erhöhen. Doch auf die Absichtserklärungen, die mit europäi­schen Unternehmen von Airbus über Peugeot und Renault bis hin zu Siemens unterzeichnet wurden, reagieren die westlichen Banken immer noch zögerlich, weil sie fürchten, ins Visier der US-Justiz zu geraten. Denn die Aufhebung der internationalen Sanktionen betrifft nicht die Strafmaßnahmen, die bereits in den 1980er Jahren allein von den USA beschlossen wurden und im Kongress immer noch energisch verteidigt werden.

US-Präsident Barack Obama hat versichert, sein Land werde seinen Teil des Vertrags erfüllen. Unterstaatssekretär Thomas Shannon musste jedoch eilig ergänzen, dass das noch keinen Zugang zum US-Finanzsystem für den Iran bedeute. Aber immerhin hat Shanon laut AFP-Meldung vom 5. April 2016 auch zugesagt, die Vorschriften für internationale Geldüberweisungen zur Förderung des Handels „zu klären“.

Das diplomatische Tauziehen ist also noch nicht beendet. Aber westliche Unternehmen geben sich in Teheran längst die Klinke in die Hand. Für Irans Industrie birgt die wirtschaftliche Öffnung durchaus auch Risiken. Sie wurde während des Embargos eilig aus dem Boden gestampft und hat die Abhängigkeit des Landes vom Erdöl (circa 25 Prozent des Staatshaushalts) deutlich reduziert. Doch im Palast der vierzig Säulen von Isfahan, dem Symbol für den Glanz des großen Persiens, lädt das unendliche Spiel der Wasserspiegelungen dazu ein, dem Anschein zu misstrauen.

1 Siehe Shervin Ahmadi, „Neue Perspektiven für Teheran“, Le Monde diplomatique, Mai 2015.

2 Geschlechtsumwandlung ist in Iran erlaubt, aber auf Homosexualität steht noch immer die Todesstrafe. Sie dient auch als Vorwand für die Hinrichtung von Oppositionellen. Wenn ein Mann einen anderen umarmt, kann das mit Peitschenhieben bestraft werden.

3 Alle Namen wurden geändert.

4 Protestbewegung gegen das Regime nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad im Jahr 2009.

5 Die Fatwa von Ajatollah Chomeini richtete sich vor allem gegen die Volksmudschaheddin, deren Anführer auf die Seite des Kriegsgegners Irak gewechselt waren. Auch viele Mitglieder kleiner, linksgerichteter Opposi­tions­­gruppen kamen ums Leben. Siehe George Robertson, „The Massacre of Political Prisoners in Iran, 1988“, London (Abdorrahman Boroumand Foundation) 2011.

6 Ramine Motamed-Nejad, „Monnaie et illégalisme. Genèse des protestations monétaires en Iran (1979–2013)“, Revue de la régulation, Nr. 18, Paris, Herbst 2015.

7 Siehe Florence Beaugé, „Die Freiheit der iranischen Frauen“, Le Monde diplomatique, Februar 2016.

8 Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, Genf/New York, Sitzung vom 8. April 2015.

9 „Die Todesstrafe 2015: ein Jahr der Extreme“, Amnesty International.

10 Im September 1980 beschloss der irakische Präsident Saddam Hussein, das Nachbarland Iran anzugreifen, weil er meinte, es sei durch die Revolution von 1979 geschwächt. Der Erste Golfkrieg dauerte acht Jahre und forderte wahrscheinlich mehr als eine Million Tote.

11 Siehe „Die Lieblingsserie der Iraner“, Le Monde di­plo­matique, Juli 2011.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Shervin Ahmadi ist Redakteur von Le Monde diplomatique auf Farsi; Philippe Descamps ist Chefredakteur von Le Monde diplomatique, Paris.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2016, von Shervin Ahmadi und Philippe Descamps