07.04.2016

Auf der Balkanroute

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Auf der Balkanroute

von Jean-Arnault Dérens und Simon Rico

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Der Wind peitscht über die Ebene. Am Ende einer Landstraße liegt, eingezwängt zwischen Feldern und einem Güterbahnhof, das letzte Flüchtlingslager auf griechischem Boden. Geht man die Gleise entlang, steht man nach wenigen hundert Metern vor einem Gitter. Dahinter beginnt Mazedonien. Noch Ende Februar öffneten die Polizisten ab und zu das Gitter und ließen die Flüchtlinge in Fünfzigergruppen passieren. Seit November 2015 wurden in Idomeni allerdings nur Afghanen, Iraker und Syrer durchgelassen, die Bürger aller anderen Länder wurden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgewiesen. Im Januar wurden auch Afghanen nicht mehr akzeptiert. Anfang März durften noch Syrier aus Aleppo durch, nicht aber die aus Damaskus. Seit dem 7. März ist die Grenze ganz geschlossen.

Das Lager von Idomeni ist für 1500 Personen eingerichtet, inzwischen drängen sich dort mehr als 10 000 unter unvorstellbaren Bedingungen in kleinen Zelten. Nachdem Slowenien die Schließung seiner Grenze ab 8. März verkündet und Mazedonien nachgezogen hat, stellt sich allen dieselbe Frage: Wie soll die Reise weitergehen? Müssen sie sich neuen Schleppern anvertrauen, nachdem der humanitäre Korridor nun ganz gesperrt ist? An eine Rückkehr in Richtung Türkei denkt jedenfalls niemand.

Evzoni liegt an der Autobahn zwischen Thessaloniki und Skopje. Die letzte Raststätte vor der Grenze, wenige Kilometer von Idomeni entfernt, fungiert seit November wieder als Stützpunkt der Schlepper. „Ich komme aus Athen. Ich habe einem Führer 700 Euro gegeben, damit er mich nach Belgrad bringt“, erzählt der Algerier Brahim T. Mehrere hundert Menschen schlafen jede Nacht nahe der Autobahn. Wenn sie noch Geld haben, nehmen sie zu mehreren ein bescheidenes Hotelzimmer, wenn nicht, finden sie Unterschlupf in leerstehenden Gebäuden. Jeder ist über Smartphone mit dem Internet verbunden – eine unverzichtbare Hotline, um Fluchthelfer zu kontaktieren, Fluchtrouten zu suchen und mit der Familie zu kommunizieren.

Hier gibt es fast nur Männer, die meisten sind aus Nordafrika oder dem Iran. Also haben sie keine Chance, als Flüchtlinge akzeptiert zu werden. Nachts versuchen sie, in kleinen Gruppen den Stacheldrahtzaun zu überwinden, der die Grenze markiert. Der Marokkaner Larbi H. hat es mehrfach versucht: „Es gibt Löcher im Zaun, aber dahinter warten die mazedonischen Soldaten. Sie halten uns auf, verprügeln uns und schicken uns zurück nach Griechenland.“

Veles ist eine vergessene Industriestadt mitten in Mazedonien. Das Haus von Lence Zdravkin steht an der Bahnstrecke Thessaloniki–Belgrad. Schon 2011 hat sie Migranten geholfen, die damals die Gleise entlangliefen, weil sie keine Züge benutzen durften. „Irgendwann habe ich angefangen, ihnen Wasser, Kekse, Kleidung zu geben“, erzählt Zdravkin. Die erschöpften Leute konnten sich bei ihr für eine Stunde im Schatten ausruhen oder die Füße waschen. „Viele hatten Angst, sie versteckten sich vor der Polizei, aber bald kursierte meine Adresse in den sozialen Netzen.“

Lence Zdravkin war eine der Ersten, die sich in Mazedonien für Migranten und Flüchtlinge einsetzten. „Manche hielten mich für verrückt. Aber dann fingen die Nachbarn an, Lebensmittel oder Decken hierherzubringen.“ Im Frühjahr 2015 machten jeden Tag täglich mehrere Dutzend Flüchtlinge in Veles halt. Zdravkin arbeitet inzwischen auch ehrenamtlich im Lager von Gevgelija mit. Seit die Balkanroute zu ist, sind die Flüchtlinge wieder zu Fuß unterwegs. „Wenn man den Migranten die legale Weiterreise verbietet, müssen sie sich illegal durchschlagen.“ Zdravkin hatte gehofft, dass Europa humanitäre Lösungen findet, die Möglichkeit einer menschenwürdigen Reise bietet. Jetzt erlebt sie das Gegenteil: „Wir sind wieder in die schlimmsten Zustände der Illegalität zurückgefallen.“ Von ihrem Fenster im ersten Stock aus sieht sie wieder schemenhafte Gestalten die Schienen entlanglaufen.

Vaksince und Lojane sind zwei Dörfer in den Bergen des albanisch geprägten Westens Mazedoniens. Von hier aus überblickt man die Autobahn und die Eisenbahnstrecke bei Tabanovce, dem letzten Ort vor der Grenze zu Serbien. Die mazedonische Polizei traut sich schon lange nicht mehr in diese einstige Hochburg der albanischen Guerilla, die heute als Drehscheibe für allerlei Schmuggelgeschäfte dient.

Für die Flüchtlinge war Lojane lange Zeit eine obligatorische Zwischenstation. Hier warteten sie auf die Nacht, um illegal nach Serbien zu gelangen; sie schliefen in Bauruinen oder im lokalen „Dschungel“, im Buschwerk an den Berghängen nahe der Grenze. Als sich der humanitäre Korridor öffnete, zogen die Flüchtlinge mehrere Monate lang durch das Tal. Aber die „Illegalen“, die „Wirtschaftsflüchtlinge“, für die der Korridor gesperrt wurde, nahmen bald wieder den Weg über die Berge.

Damit haben auch die Gewaltakte zugenommen, beklagt Francisca Baptista da Silva. Die Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Serbien macht dafür auch die EU verantwortlich, denn die habe die Grenzschließungen letztlich erzwungen. Im Mai 2015 wurde ein Netz von Geiselnehmern unter Leitung eines Afghanen namens „Ali Baba“ zerschlagen, die Polizei befreite mehrere Dutzende Flüchtlinge. Inzwischen laufen die Geschäfte wieder.

Jenseits der Grenze liegt Preševo. Die rund 50 000 Einwohner leben über 34 Gemeinden verteilt und sind überwiegend Albaner. In einer Tabakfabrik, die, wie fast alle Betriebe der Gegend, seit Langem geschlossen ist, registriert die Polizei die Identität der Flüchtlinge und nimmt ihre Fingerabdrücke. Die Flüchtlingskrise bedeutet Nachfrage nach Bustransporten Richtung Kroa­tien, nach Nahrungsmitteln, nach Mobiltelefonen. Das hat Geld nach Preševo gebracht. Zwischen Juni und November 2015 hat sich eine regelrechte Parallelwirtschaft entwickelt.

Shkëlzen K. betreibt einen Minimarkt mitten im Zentrum. Im Jahr 2015 hat sich sein Umsatz verdreifacht. Das Bahnhofsviertel wurde zum Flüchtlingslager unter freiem Himmel. Tausende schliefen am Straßenrand, während sie auf ihre Registrierung und die Aushändigung des für drei Tage gültigen serbischen Passierscheins warteten, um in Richtung Kroatien weiterreisen zu können. Das Regis­trie­rungszentrum existiert zwar noch, aber es kommen kaum noch Flüchtlinge durch.

Bei Nacht zu Fuß quer durch Bulgarien

Das serbische Städtchen Dimitrovgrad liegt an der Grenze zu Bulgarien, über die jeden Tag 100 bis 300 Afghanen kommen. Für manche schmeckt die Ankunft in Serbien wie ein erster Sieg, wie eine Befreiung. Von der Türkei aus sind sie quer durch Bulgarien gelaufen, meist nachts, um nicht entdeckt zu werden. Die Kräftigsten haben es – wenn sie Glück haben – in zwei Wochen geschafft. Praktisch alle berichten, dass die bulgarische Polizei sie verprügelt und ihnen anschließend ihr Geld und die teureren Smartphones abgenommen hat.

In Dimitrovgrad gibt es nur zwei große Zelte, wo die auf Registrierung Wartenden vor der Kälte Schutz finden, aber sie sind immer überfüllt. Schweizer Freiwillige verteilen ­Suppe und Decken. Der 15-jährige Javeed ist total entkräftet und schwankt vor Erschöpfung. „Nur Afghanen können diese Reise durchstehen“, versichert uns sein Freund. „Wir sind daran gewöhnt, durch die Berge zu laufen; die Syrer könnten da nicht mithalten.“ Die Afghanen, die Bulgarien durchqueren, sind die Ärmsten unter den Flüchtlingen: zu arm, um Schlepper zu bezahlen. Seit die EU-Länder sie nicht mehr aufnehmen, gleicht ihre Reise einer Lotterie.

Sid liegt an der serbisch-kroatischen Grenze. Von September bis Ende Oktober 2015 passierten mehr als 200 000 Flüchtlinge die kleine Kon­troll­station von Berkasovo/Bapska in den Hügeln über den Donauschleifen. Betreut wurden sie von nahezu 1000 tschechischen und slowakischen Freiwilligen. „Wir sind hier, weil wir uns für unseren Präsidenten schämen“, erzählte uns der vielleicht 50-jährige Pavel H., ein evangelischer Christ, der zusammen mit anarchistischen Aktivisten in Berkasovo kampierte. „Wir wollen zeigen, dass nicht alle Tschechen für die Schließung der Grenze sind.“

Für die Flüchtlinge in Sid ging es vom Bahnhof eines Nachbarorts weiter. Hier brachten serbische und kroatische Polizisten die Flüchtlinge in Züge, die sie zum kroatischen Aufnahmezentrum Slavonski Brod fuhren. „Wie sagt man ‚bitte‘ auf Arabisch? Weißt du das, Kroate?“, rief ein serbischer Beamter, der einer syrischen Familie weiterhelfen wollte, seinem Kollegen zu. Dank der Flüchtlinge haben sich zwischen den ehemaligen Feinden wieder normale Arbeitsbeziehungen entwickelt.

Subotica ist die letzte serbische Stadt vor der ungarischen Grenze. Bis 1989 verlief hier noch der Eiserne Vorhang, der Europa teilte. 2011 wurde die Stadt zu einer wichtigen Station auf der Balkanroute. Anlaufpunkt der Migranten war eine stillgelegte Brikettfabrik. Von hier organisierten Schleppernetzwerke den Grenzübertritt nach Ungarn. Deren Dienste verhalfen im Winter 2014/15 auch 100 000 Kosovaren zur Flucht in die EU, die allerdings ebenso plötzlich endete, wie sie begonnen hatte.

Nach der totalen Blockade der Grenze durch Ungarn am 14. September 2015 kamen zunächst keine Flüchtlinge mehr über Subotica, aber seit die Unterscheidung zwischen „echten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ gilt, sind neue Anwärter aufgetaucht.

Hakim T. aus Marokko wartet auf eine Überweisung von 1200 Euro, um einen Schleuser zu bezahlen. „Ich werde mit dem Auto hingebracht, der Führer zeigt mir eine Öffnung im Stacheldraht. Auf der anderen Seite wird jemand auf mich warten, das ist nicht so schwierig.“ Die illegalen Grenzübertritte haben seit der Schließung der „legalen“ Routen wieder zugenommen, obwohl sie mit vielen realen Gefahren verbunden sind, von Schutzgelderpressung bis hin zur Festnahme und anschließenden Gefängnisstrafe.

Sveta Lucija ist ein kleiner Grenzposten an der kroatisch-slowenischen Grenze in Istrien. Hier fand am 19. Dezember 2015 ein denkwürdiges Volleyballspiel statt. Demonstranten aus Kroa­tien und Slowenien verabredeten sich auf beiden Seiten des Grenzgitters, um gegen den Bau eines Stacheldrahtzauns auf slowenischer Seite zu protestieren. Selbst die Jagdvereine machten mit, weil der Zaun die Wildwechsel durchschneidet.

Das Städtchen Šentilj an der Grenze zwischen Slowenien und Österreich hat im Juni 1991 die ersten Kämpfe im Jugoslawienkrieg erlebt, als Einheiten der slowenischen Territorialverteidigung gegen die Jugoslawische Volksarmee die Kontrolle über die Grenze zu Österreich erkämpften. 25 Jahre später wurde der Grenzübergang Šentilj/Spielfeld zum Hauptriegel der gesamten Balkanroute. Den ganzen Herbst 2015 blieb er für den Autoverkehr geschlossen, und Tag für Tag warteten Tausende Flüchtlinge hier auf die Chance, nach Norden zu gelangen.

Am 19. Februar 2016 führte Österreich Quoten ein. Damit beschränkt das Land die Einreise pro Tag auf 80 Asylbewerber und 3200 Migranten, die als ihr Ziel ein Drittland nachweisen können. Zugleich vereinbarte Österreich mit Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien ein gemeinsames ­Verfahren zur Registrierung der Flüchtlinge im Transit. Die Regierungschefs dieser Länder trafen sich am 24. Februar in Wien zu einem „Westbalkangipfel“, zu dem aber Griechenland nicht eingeladen war.1 Damit wurde Österreich zum Komplizen der „Visegrád-Gruppe“ (Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen) bei der Schließung der Balkanroute unter Missachtung der Regeln des Schengenraums. Eine ernsthafte Reaktion der Europäischen Union blieb aus.

Selbst wenn sich die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei infolge des Brüsseler Abkommens vom 18. März künftig verringern sollte, werden sich die Zehntausende, die in Griechenland festsitzen, neue Wege suchen. Dafür bieten sich zwei Routen an. Die eine führt über Rumänien und die Ukraine, die andere über Albanien.

Von Albanien aus könnten die Flüchtlinge versuchen, sich über Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien nach Norden durchzuschlagen oder über die Adria nach Italien zu gelangen. Die Regierung in Tirana stellt sich schon seit Monaten auf eine solche Entwicklung ein. Anfang März entsandte sie Spezialeinheiten der Polizei an die Grenze zu Griechenland wie auch an die Grenze zu Mazedonien in der Nähe des Übergangs Kafasan nördlich von Struga. Da jedoch die vielen Schleichwege durch die albanischen Berge kaum zu kontrollieren sind, könnte auch Albanien für die Flüchtlinge bald zu einer neuen Sackgasse werden.

1 Die Athener Regierung beschwerte sich in Wien über diese „einseitige und unerfreuliche“ Initiative.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Jean-Arnault Dérens und Simon Rico sind Redakteure der Website Le Courrier des Balkans.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2016, von Jean-Arnault Dérens und Simon Rico