07.04.2016

Hotspot Griechenland

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Hotspot Griechenland

von Niels Kadritzke

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Die Fluchtbewegungen Richtung Europa, die den Zusammenhalt der EU auf die Probe stellen, sind für Griechenland besonders belastend. Nicht nur weil das Land am südlichen Ende der Balkanhalbinsel weit mehr Flüchtlinge pro Einwohnerzahl aufgenommen hat als die meisten anderen Staaten Europas. Seit nunmehr acht Jahren befindet es sich außerdem in der tiefsten sozioökonomischen Krise seiner jüngeren Geschichte. Umso beeindruckender ist die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, die zu Recht als Vorbild für ganz Europa gewürdigt wird.

Im Fall Lesbos ist die Solidarität auf bestimmte historische Erfahrungen zurückzuführen, die bis heute in vielen Familien lebendig sind. Die Insel war im Herbst 1922, am Ende des türkisch-griechischen Krieges, das erste Fluchtziel von zehntausenden Kleinasien-Griechen, die mit der Niederlage des griechischen Heeres ihre Heimat verloren hatten. Nach dem 1923 beschlossenen Bevölkerungsaustausch wurden so viele Klein­asien­griechen in Lesbos angesiedelt, dass die Nachfahren dieser Flüchtlinge heute etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Das gilt übrigens auch für die Insel Leros, die in Relation zu ihrer Einwohnerzahl (8000) weit mehr Flüchtlinge als Lesbos aufgenommen und bewundernswert betreut hat.

Ein Gegenbeispiel zu Leros und Lesbos ist die Insel Kos. Hier waren die Geflüchteten von Beginn an weit weniger willkommen. Unter dem Einfluss der rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi, die ihren Stimmenanteil in Kos bei den Wahlen im September 2015 verdoppeln konnte, forderte der Bürgermeister zum Widerstand gegen die „Migrantenflut“ auf. Und der Gemeinderat protestierte in einem Schreiben an die Athener Regierung gegen die Gründung eines Hotspots zur Registrierung der Flüchtlinge. Das explizite Argument: Die Anlage werde Touristen abschrecken und die ökonomische Basis der Insel gefährden.

Wegen der Haltung eines Großteils der Inselbevölkerung konnte der Hotspot in einer leerstehenden Kaserne in Pyli erst Ende Februar – deutlich später als die übrigen Hotspots auf Lesbos, Chios, Leros und Samos – eröffnet werden. Zuvor waren vier Kompanien Bereitschaftspolizei nach Kos entsandt worden, weil aufgebrachte Demonstranten die Arbeiten immer wieder behindert und ein Polizeirevier mit Brandsätzen attackiert hatten.1

Noch ist der Widerstand in Kos eine Ausnahme. Aber die relative Toleranz der meisten Griechen ist nicht bedingungslos. Sie hing davon ab, dass Syrer, Iraker und Afghanen bislang als Transitflüchtlinge wahrgenommen und behandelt wurden, die Griechenland hinter sich lassen wollen.

Bis vor Kurzem war es die Hauptaufgabe der griechischen Politik, „die Weiterwanderung der Flüchtlinge von den Inseln über Athen und Thessaloniki in Richtung Norden nicht zu behindern“. So formulierte es im Dezember 2015 ein Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung.2 Die Regierung Tsipras konnte die Rolle Griechenlands auf die einer „Drehtür Europas“ beschränken.

Diese Drehtür ist blockiert, seit die griechisch-mazedonische Grenze für Flüchtlinge geschlossen ist. Mit dem Ergebnis, dass über 52 000 verzweifelte Menschen in Griechenland festsitzen (Stand vom 2. April), die auf keinen Fall dort bleiben wollen. Was mit ihnen geschehen soll und wie man verhindern will, dass noch viel mehr in der griechischen „Sackgasse“ stecken bleiben, ist auch nach der Brüsseler Vereinbarung vom 18. März völlig ­offen.

Das vorläufige Abkommen zwischen der EU und der Türkei sieht vor, künftig alle auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken. Im Gegenzug soll dieselbe Zahl von anerkannten Asylbewerbern von der Türkei direkt in aufnahmewillige EU-Länder ausgeflogen werden. Die Athener Regierung hat diesen „1:1-Mechanismus“ begrüßt, in der Hoffnung, das „gemeinsame Herangehen an die Flüchtlingskrise“ werde die einseitige und unkontrollierte Belastung Griechenlands beenden. Tsipras hob nach der Einigung in Brüssel hervor, er selbst habe für den Grundgedanken der Vereinbarung – den direkten Transfer von Flüchtlingen aus der Türkei in EU-Aufnahmeländer – bereits seit Monaten geworben.

Lösungen von zweifelhafter Legalität

Doch Sinn und Zweck der in Brüssel getroffenen Vereinbarung ist ein anderer, auch und gerade aus Athener Sicht: Den an der türkischen Ägäisküste angelangten Flüchtlingen soll jeder Anreiz entzogen werden, ihr Geld für die gefährliche Überfahrt zu den griechischen Inseln auszugeben. Es handelt sich im Kern um eine Abschreckungsstrategie, garniert mit der vagen Aussicht auf den Hauptgewinn in einem Lotteriespiel, ein Flugzeugticket nach Europa. Ob diese Strategie aufgeht, ist keineswegs sicher.

Zwei Schlüsselfragen sind noch offen oder bewusst unklar geregelt:

Ist die Türkei tatsächlich ein „sicheres Drittland“ für Asylbewerber, die von Griechenland zurückgeschickt werden? Von Amnesty International wird das energisch bestritten. Und das griechische Gesetz vom 1. April, das die rechtlichen Voraussetzungen für das Rückstellungsverfahren schaffen soll, vermeidet eine Anerkennung der Türkei als „sicheres“ Asylland. Demnächst könnten nämlich kurdische Asylbewerber in Griechenland auftauchen, die man natürlich nicht in das Nachbarland zurückschicken kann.

Die zweite Frage ist, wie man mit Flüchtlingen umgehen will, die sich weigern, ein Schiff zu besteigen, das sie in die Türkei zurückbringen soll? Dass bei den ersten Transporten pro Flüchtling ein Frontex-Polizist vorgesehen ist, zeigt deutlich, mit welchen Widerständen die Organisatoren rechnen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat bereits erklärt, sich nicht an den Abschiebungsaktionen zu beteiligen. Das hat offensichtlich zwei Gründe: Zum einen werden seit dem 21. März ankommende Bootsflüchtlinge auch nach Abgabe eines Asylantrags in einem Gefangenenstatus gehalten, damit sie sich ihrem Abtransport nicht entziehen können. Solche „geschlossenen Lager“ widersprechen den Prin­zi­pien des UNHCR. Zum anderen wird bezweifelt, dass den auf den Inseln gestrandeten Flüchtlingen ein faires Asylantragsverfahren gewährleistet werden kann.

Eine weitere offene Frage ist, was mit den Tausenden in Idomeni Gestrandeten passieren soll. Nach Ansicht des UNHCR müssen auch sie die Chance haben, Zugang zum Asylverfahren in den EU-Staaten zu bekommen. Darüber haben sich die EU-Länder aber noch nicht verständigt.3 Hinsichtlich all dieser Fragen hängt das künftige Schicksal der Geflüchteten auf griechischem Boden erstens von der bislang nicht vorhandenen Solidarität der gesamten EU und zweitens von der Kooperation der Türkei ab.

Dabei fällt Griechenland aufgrund seiner geopolitischen Lage eine besondere Rolle zu, die allerdings die eigenen Kräfte weit übersteigt. Das gilt auch für die praktische Aufgabe, den Geflüchteten in den fünf Insel-Hotspots das zugesagte „individuelle Asylverfahren“ zu gewähren. Nach dem griechischen Gesetz soll innerhalb von zwei Wochen nicht nur der Antrag behandelt, sondern auch der Einspruch gegen einen Ablehnungsbescheid entschieden sein.4

Diese Fristen sind entweder utopisch – oder sie verhindern eine sorgfältige Prüfung der Einzelfälle. Bis Ende letzten Jahres gab es auf griechischer Seite lediglich 260 Experten, die für Asylanträge zuständig waren. Anfang 2016 wurden diese Kräfte durch EU-Personal erheblich aufgestockt. Jetzt sollen bis Mitte April noch weitere 400 Fachkräfte und Dolmetscher von der Europäischen Asylbehörde und anderen EU-Ländern abgestellt werden, darunter 50 „Rücküberstellungsexper­ten“. Die griechisch-türkische Koordination soll dadurch gewährleistet werden, dass je 25 Beobachter beider Länder auf der jeweils anderen Seite eingesetzt sind.

Insgesamt haben die EU-Partner den Griechen zusätzlich 2300 Fachkräfte (inklusive Frontex-Personal) zugesagt. Aber mit mehr Personal allein sind die praktischen Probleme nicht zu lösen. Und die rechtlichen schon gar nicht. Wie unwohl sich die Athener Regierung als Exekutor der EU-Flüchtlingspolitik fühlt, hat der zuständige Minister Mouzalas verdeutlicht, als er nach Verabschiedung des griechischen Gesetzes bekannte, dieses wäre anders ausgefallen, wenn er es selbst hätte schreiben dürfen.

Auch Regierungschef Tsipras musste eingestehen, dass „die Umsetzung der Vereinbarung keine leichte Sache“ sein wird. Um die Dringlichkeit dieser „Sache“ zu unterstreichen, hat er ein „Regierungskomitee für Flüchtlings- und Migrationspolitik“ eingesetzt, das er selbst leitet und dem fünf Minister und sieben Vizeminister angehören. Kenner der Athener Bürokratie bezweifeln jedoch, ob ein solches Komitee die organisatorischen Schwächen überwinden kann, die schon beim Aufbau der fünf Insel-Hotspots offenbar wurden. Auch die 50 000 Plätze in Auffanglagern auf dem griechischen Festland, die Athen bis Ende 2015 bereitstellen sollte, wurden erst unter dem Druck auf die griechischen Nordgrenze eingerichtet.

Für die Regierung Tsipras steht viel auf dem Spiel. Die Frage, wie sie diese Krise bewältigen kann, wird für ihr Schicksal mittelfristig ebenso entscheidend sein wie ihr Umgang mit der „eigentlichen“ griechischen Krise.

Niels Kadritzke

1 Kathimerini, 8. Februar 2018.

2 www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/von-der-drehtuer-zum-windfang-1196/.

3 Der im September 2015 beschlossene Schlüssel für die Verteilung von 160 000 Flüchtlingen auf die EU-Mitgliedsländer ist längst in Vergessenheit geraten. Die meisten Länder wollen an ihre Zusage nicht mehr erinnert werden.

4 Gesetzestext in: Efimerida ton Syntakton, 2. April 2016.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2016, von Niels Kadritzke