10.03.2016

Adams Kinder träumen von England

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Adams Kinder träumen von England

Was die Polen wählen – und warum

von Cédric Gouverneur

Heike Jeschonnek, Brooklyn Bridge, 2014, Paraffin und Öl auf Papier, 110 x 150 cm
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Adam Kalabis hat kurz geschorenes Haar und die Statur eines Ringers. Wir treffen ihn im Büro der Solidarność, nahe der Zeche Pokój („Frieden“) im oberschlesischen Ruda. Mit seinen riesigen, von Kohlestaub geschwärzten Händen serviert er Tee. Noch vor einer halben Stunde war der 46-jährige Bergmann 800 Meter unter Tage. 4000 Leute arbeiten in der Zeche, Kalabis ist seit seinem 18. Lebensjahr dabei. „Anfangs habe ich Kohleeimer geschleppt, heute mache ich Instandhaltung.“ 30 Jahre Schwerarbeit haben dem Riesenkerl zugesetzt: „Ich hoffe, ich ende nicht wie mein Vater – mit 45 in Rente und ein Jahr später tot.“

Aber Kalabis kann noch lange nicht in den Ruhestand gehen: „Die letzte Regierung hat meine Krankheitstage für ungültig erklärt, mitsamt den Tagen, an denen ich Blut spenden war.1 Und den Kollegen, die ihren Wehrdienst zur Zeit des Kommunismus absolviert haben, rechnen die nicht mal die Armeezeit an!“

Kalabis arbeitet für das staatliche Unternehmen KW, „siebeneinhalb Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, und das für 2900 Złoty“. Das sind nicht einmal 700 Euro. In 15 Jahren wurde sein Lohn um lediglich150 Złoty erhöht. Darüber will er sich nicht mal beklagen: „Die Witwe eines Freundes, der bei einem Schlagwetter in der Halemba-Grube2 ums Leben gekommen ist, bekam eine Lohnfortzahlung von sechs Monaten, und das war’s!“ Er ballt seine Hände zu Fäusten: „Über mehrere Generationen waren alle in meiner Familie Bergleute, und jetzt bin ich der letzte! Meine Frau reinigt öffentliche Toiletten. Ein ,Müllvertrag‘: Vollzeit für 800 Złoty im Monat.“ Solche Jobs für umgerechnet 180 Euro heißen in Polen „Müllverträge“.

Eine feste Stelle jenseits solcher „flexiblen“ Arbeitsverhältnisse zu finden ist schwer. Deswegen ziehe es die jungen Leute ins Ausland, erklärt Kalabis: „Mein Sohn und meine Tochter träumen davon, in England zu leben.“ Seit dem EU-Beitritt 2004 sind mindestens 2 Millionen Polen ausgewandert, vor allem nach Großbritannien und Irland. „Der Kapitalismus ist gut für die, die wissen, wie man Geschäfte macht. Für alle anderen ist er es nicht“, meint er resigniert. An der Wand seines Gewerkschaftsbüros hängt eine bunte Sammlung von Symbolen: eine Solidarność-Fahne, das polnische Wappen, das übliche Porträt von Papst Johannes Paul II., ein signiertes Foto von einem lokalen Boxchampion und der Kalender der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS).

Der Gewerkschafter Kalabis ist Mitglied dieser Partei. Bei den Parlamentswahlen sprach die Gewerkschaft keine Empfehlung aus, aber für Kalabis war es ohnehin klar: „Ich bin Katholik, aber das ist nicht der Grund. Die PiS ist die einzige Partei, die uns unterstützt. Nach dem Grubenunglück von Halemba hat uns Präsident Kaczyński besucht; das hat mich berührt.“3

Die liberalkonservative Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), die das Land von 2007 bis 2015 regiert hat, ist Kalabis dagegen ein Gräuel. Er war zutiefst „schockiert“, als der aus der PO hervorgegangene Präsident Komorowski 2014 am Begräbnis von General Jaruzelski teilnahm, der in den 1980er Jahren als Regierungschef das Kriegsrecht ausgerufen und die Solidarność unterdrückt hatte. Aber noch schwerer wog für ihn, dass die PO-Regierung im Januar 2015 die Schließung von Bergwerken ankündigte, ohne zuvor mit den Betroffenen gesprochen zu haben. „Aus dem Fernsehen habe ich von der geplanten Schließung meiner Zeche erfahren“, erzählt Kalabis wütend; die PO hat versprochen, die Bergwerke zu erhalten. Deshalb hätten die meisten seiner Kollegen für die PiS gestimmt.

Am 25. Oktober 2015 gewann die PiS die Parlamentswahlen (zum Sejm und zum Senat) mit 37,6 Prozent der Stimmen. Die PO kam auf 24,1 Prozent, die rechtspopulistische Partei Kukiz’15 auf 8,8 Prozent. Keine Partei der Linken schaffte es in den Sejm.

Trotz zahlreicher Anfragen fand sich kein Vertreter der neuen Regierungspartei bereit, mit uns zu sprechen.4 Einen kleinen Einblick in den ideologischen Überbau der PiS gewährte allerdings der polnische Außenminister Waszczykowski in einem Interview mit der Bild-Zeitung. Darin polemisierte er gegen eine Welt, die sich „nach marxistischen Vorbild“ nur in eine Richtung entwickle, ein „Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen“. Von solchen „Krankheiten“ wolle die PiS die Nation heilen, indem sie die wahren „polnischen Werte“, fördert: „Traditionen, Geschichtsbewusstsein, Vaterlandsliebe, der Glaube an Gott, an ein normales Familienleben zwischen Mann und Frau.“5

Für die PiS stimmten nicht nur konservative Polen, sondern auch viele sozial Benachteiligte, die in den positiven Wirtschaftszahlen des Landes nicht auftauchen. Es sind Leute wie Adam Kalabis und seine Familie, die unter den Folgen der neoliberalen Reformen leiden und oft nur die Wahl haben, Müllverträge zu akzeptieren oder ins Ausland zu gehen. Oder Arbeiter, die in Subunternehmen für die großen europäischen – vorwiegend deutschen – Konzerne malochen. Oder Rentner, die von weniger als 300 Euro im Monat leben müssen. All diese Enttäuschten konnte die klerikal-nationalistische und protektionistische PiS mit einem ambitionierten Sozialprogramm ansprechen. Vor allem mit dem Versprechen auf ein monatliches Kindergeld von 500 Złoty (115 Euro).

In Bytom hat jeder Fünfte keine Arbeit

Der Politologieprofessor Radosław Markowski von der Universität Warschau beschreibt die Entwicklung der PiS seit ihrer ersten Regierungsperiode von 2005 bis 2007: „Damals war sie zwar konservativ, aber auch wirtschaftsliberal. Seither ist sie immer populistischer, fremdenfeindlicher und euroskeptischer geworden – ein katholischer Nationalismus, garniert mit einem Sozialpaket.“

Markowski unterscheidet bei den PiS-Wählern drei Gruppen. Die erste nennt er die „Smolensk-Sekte“: Leute, die überzeugt sind, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz vom April 2010 um ein „Komplott zwischen Donald Tusk und Wladimir Putin“ handelte. Die zweite sind die praktizierenden Katholiken, „deren Weltbild oftmals nicht über das hinausgeht, was ihnen der Pfarrer erzählt“. Die dritte Gruppe sind gemäßigte Wähler, die mit dem Sozialprogramm gewonnen wurden.

Die oberschlesische Stadt Bytom verfällt zusehends, seit das Bergwerk geschlossen wurde. Das Straßenbild prägen geschlossene Geschäfte und bettelnde Rentner. „Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent“, sagt der 34-jährige Unternehmer Paweł Michalski. Er hat bei den Wahlen für die Bewegung Kukiz’15 kandidiert, eine populistische Anti-Establishment-Partei, gegründet von dem ehemaligen Rockmusiker Paweł Kukiz. Die von rechtsextremen Nationalisten unterwanderte Bewegung ist heute drittstärkste Kraft in Polen – vor den linken Parteien. In Bytom kam Kukiz auf 15 Prozent.

„In England oder Deutschland kann man gut arbeiten. Ich kenne eine Krankenschwester, die 1700 Złoty im Monat verdient hat. Das reicht einfach nicht zum Leben! Also ist sie nach Deutschland gegangen.“ Michalski bekennt sich als „Befürworter des Freihandels“, unterstützt aber das Kindergeld der PiS: „Die Menschen sind einfach zu arm, man muss ihnen helfen.“

Der 33-jährige Robert Piaty aus Kattowitz hat zwar Politikwissenschaft studiert, aber seitdem hat er nur Jobs mit „Müllverträgen“ gefunden. Zurzeit arbeitet er in einem Callcenter für umgerechnet 320 Euro im Monat. „Die Hälfte meiner Freunde sind nach England gegangen. Ich war auch 6 Monate dort. Verdient habe ich 1200 Euro.“ Piaty ist Mitglied der Gewerkschaft Sierpien 80 („August 1980“ – der Beginn der Solidarność-Streikbewegung) und wählt die linke Partei Razem (Gemeinsam), die bei den Wahlen auf 3,6 Prozent kam und sich als polnisches Pendant zur spanischen Podemos versteht.

Ob die PiS-Regierung ihre Versprechen tatsächlich einlösen wird, bleibt abzuwarten. Die zuständigen Minister mussten bereits zugeben, dass die Schließung von Zechen nicht zu vermeiden sei. Doch zunächst ist man damit beschäftigt, den Rechtsstaat einzuschränken und die staatlichen Medien zu übernehmen.6 Dagegen protestieren seit Dezember Zehntausende, die dem Aufruf des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji, KOD) folgen.

„Der polnischen Demokratie geht es gut“, findet dagegen die Journalistin Aleksandra Rybinska, die für das rechte Wochenmagazin wSieci schreibt. Das Blatt machte Mitte Januar mit dem Titel „Konspiration gegen Polen“ auf; das Cover zeigte eine Fotomontage mit Angela Merkel und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, wie sie bei der Teilung Polens im Jahr 1815 mitmischen. Rybinska verteidigt die Politik der PiS mit dem Argument, auch die PO habe früher ihre Leute in den Medien durchgesetzt. Das habe damals allerdings niemanden im Westen gestört. Heute stehe die PiS für die Werte, die von den „in Europa herrschenden Alt-68ern“ verachtet werden: „Der Westen hat geglaubt, Viktor Orbáns Ungarn würde ein Einzelfall bleiben; und jetzt setzt auch Polen wieder auf traditionelle Werte. In Brüssel fürchtet man sich vor den konservativen Kräften.“

Mateusz Kijowski – lila Jacke, Ohrring, Pferdeschwanz – personifiziert alles, was die PiS ablehnt. Der 47-jährige IT-Spezialist hat das KOD ins Leben gerufen. „Innerhalb weniger Tage waren wir 55 000“, erzählt er lächelnd. Kijowski ist gerade aus Straßburg zurück, wo eine KOD-Delegation „von den liberalen, sozialistischen und grünen Europaabgeordneten wärmstens empfangen“ wurde. Ein im Internet verbreitetes Video behauptet, das KOD werde vom US-amerikanischen Milliardär George Soros finanziert. „Leider nicht“, meint Kijowski feixend. „Aber im Ernst, keiner hatte mit diesem Angriff auf die Freiheit gerechnet. Im Wahlkampf war davon nicht die Rede. Aber jetzt tut die PiS so, als sei sie mit einer Generalvollmacht ausgestattet, als bedeute Demokratie die absolute Macht derer, die bei Wahlen eine Mehrheit erlangt haben.“

Bei einer Demo auf dem Danziger Werftgelände schwingen viele Demonstranten polnische und Europa-Fahnen, einige auch die Regenbogenfahne. Eine Drohne fliegt über den Platz und filmt die Demonstranten, die dem fliegenden Spion spöttisch zuwinken.

„Es ist unsere Pflicht, hier zu sein“, erklären zwei Rentner. „Wir waren schon 1980 auf der Straße. Wir wollen keine Diktaturen mehr! Wir sind für die jungen Menschen hier, denen nicht klar ist, was für sie alles auf dem Spiel steht.“ Das KOD ist allerdings nicht in der Lage, Menschen jenseits des liberalen Milieus zu mobilisieren.

Menschen wie Karol Guzikiewicz. Er war noch Mechanikerlehrling, als er 1980 mit Lech Wałęsa am legendären Streik auf der Danziger Lenin-Werft teilnahm. 2008 trat er der PiS bei. „Das Werftgelände liegt brach: Mehrere 100 Hektar hatten wir 1990, heute sind es gerade noch 20“, erzählt er, während er uns durch eine Produktionshalle führt. Damals habe es 17 000 Arbeitsplätze gegeben, heute nur noch 1000, vor allem in der Produktion von Windrädern. „An all dem sind Donald Tusk und Europa schuld. Wegen der Liberalen ist das Arbeitsrecht nirgendwo so schlecht wie in Polen.“ Die Kritik aus Brüssel wischt der Gewerkschafter vom Tisch: „Europa soll sich um seine Million Migranten kümmern und Polen in Ruhe lassen!“7

Stefan Adamski ist Mitbegründer von Attac Polen und Mitglied der linken Partei Razem. Er betont, dass die Solidarność nie für den Kapitalismus eingetreten ist. „Die Gewerkschaft verlangte vom kommunistischen Regime nur die Wahrung der Arbeitnehmerrechte. Die PiS hingegen stellt den Kapitalismus nicht infrage. Sie verspricht lediglich, ihn etwas solidarischer zu gestalten.“ Und dann sagt Adamski, was ihn am traurigsten stimmt: „Nicht die Beschützer der Demokratie werden Kaczyński stoppen. Sondern die Finanzmärkte, die sich gegen die Umsetzung sozialer und protektionistischer Maßnahmen stemmen werden.“

1 Manche Bergleute gehen regelmäßig Blut spenden, weil sie so einen Tag frei bekommen.

2 Bei diesem Grubenunglück im November 2006 kamen 23 Bergleute ums Leben.

3 Lech Kaczynski war polnischer Staatspräsident von Dezember 2005 bis zu seinem Tod am 10. April 2010 beim Flugzeugabsturz von Smolensk, der insgesamt 96 Todesopfer forderte. Lech war der Zwillingsbruder des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski, der von 2005 bis 2009 Ministerpräsident einer Koalitionsregierung war.

4 Der Europa-Abgeordnete Tomasz Poreba antwortete uns zwar per E-Mail, weigerte sich jedoch, Passagen aus seiner Antwort für die Veröffentlichung freizugeben.

5 Bild, 3. Januar 2016. Angesichts der Reaktion auf diese Äußerungen behauptete Waszczykowski später, es habe sich um einen Scherz gehandelt.

6 Siehe Anna Wojciuk und Lukasz Mikolajewski, „Die polnische Wandlung“, Le Monde diplomatique, Februar 2016.

7 Im Januar ergab eine Meinungsumfrage, dass nur 4 Prozent der Polen Flüchtlinge willkommen heißen.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Cédric Gouverneur ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Cédric Gouverneur