10.03.2016

Schönes neues Johannesburg

zurück

Schönes neues Johannesburg

von Naniso Tswai

Kultur und Umbau im Herzen der Stadt Westend61/ullstein
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die glühende Morgensonne, die über dem Horizont von Johannesburg aufsteigt, wird wieder für einen sengend heißen Sommertag sorgen. Die Stadt war noch nie ein Ort für zarte Gemüter, ihr Charakter und alles um sie herum war schon immer eine Herausforderung. Johannesburg ist der Mikrokosmos eines Landes, in dem ein Großteil der Bevölkerung den Alltag nur mit Mühe und harter Arbeit bewältigen kann.

Südafrika bemüht sich sehr, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und die Konflikte zu überwinden, aber die Narben der Geschichte sind immer noch sichtbar – an den Menschen und in der Landschaft. Das Projekt der Regenbogengesellschaft, das Mitte der 1990er Jahre aus einem enthusiastischen Moment des sozialen Aufruhrs hervorgegangen ist, sollte die Apartheid überwinden und ein Land aufbauen, das allen gehört. Doch dieses Projekt kommt nur sehr schleppend voran.

22 Jahre nach dem Ende der Apartheid sind die Trennlinien zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen immer noch tief, und die alte Rassentrennung setzt sich in Form von ökonomischer und sozialer Ungleichheit fort. Dieses Problem wirft – kombiniert mit der kräftezehrenden Aidskrise1 – einen Schatten auf ein Land, das einmal in ganz Afrika als Leuchtfeuer der Hoffnung gesehen wurde.

Natürlich muss man zugeben, dass sich die politische Landschaft seit dem Ende der Apartheid erheblich gewandelt hat. Auch die soziale Annäherung ist mit Riesenschritten vorangekommen, denn heute kooperieren die verschiedenen Gemeinschaften auf ganz neue Weise und haben zusammen neue Räume der Integration erschlossen. Doch trotz dieser wichtigen Fortschritte bleiben Südafrika und seine Bürger unausweichlich durch ihre Geschichte gezeichnet.

In Johannesburg, wo sich die Konflikte der Vergangenheit schon im Aufbau der Stadt widerspiegeln, ist sie am deutlichsten sichtbar: Im Zentrum liegt der verarmte, vorwiegend von Schwarzen bewohnte Central Business District (CBD), an den sich die Viertel der neuen schwarzen Mittelklasse im Norden anschließen. Weiter außerhalb liegen die Gated Communities für die ­reichen Weißen, und schließlich, noch weiter vom Stadtzentrum entfernt, die schwarz dominierten Townships, die unter dem Apartheidsystem entstanden sind und dazu dienten, die billigen Arbeitskräfte in der Nähe der Ballungszentren unterzubringen.

Johannesburg ist ein Konglomerat vielfältiger und sehr unterschiedlicher Gemeinschaften, zwischen denen häufig – bei aller räumlichen Nähe – eine sektiererisch gepflegte Abneigung herrscht. Dabei ist die ethnische Zugehörigkeit zwar nach wie vor das sichtbarste Merkmal zur Abgrenzung, doch wird es zunehmend durch das der Klassenzugehörigkeit ersetzt.

Der junge Künstler Khehla Chepape Makgato, der sein ganzes Leben in Johannesburg verbracht hat, drückt es so aus: „In den zwanzig Jahren seit dem Ende der Apartheid, also seit man uns Schwarzen das Wahlrecht gewährt, ist die Erfahrung der sogenannten Versöhnung eigentlich nur wenigen zuteil geworden. Freiheit ist nur Freiheit, wenn man sie sich leisten kann; und in Johannesburg wie in ganz Südafrika sind die meisten Schwarzen immer noch zu arm, um an den Vorteilen der Post-Apartheid-Ära teilhaben zu können.“

Oft heißt es, was eine Stadt ausmacht, seien die Menschen, die in ihr wohnen. Recht besehen gilt das aber auch umgekehrt, dass nämlich die Stadt mit ihrer Architektur und ihrer ganzen Struktur ihre Bewohner ebenso beeinflusst und prägt.

Johannesburg ist dafür ein perfektes Anschauungsobjekt. Obwohl Makgato in einem neuerdings angesagten Viertel arbeitet, wohnt er der Miete wegen in einem der Townships und pendelt täglich zu seinem Atelier. Dabei hat er im Lauf der Jahre Veränderungen beobachtet: „Es ist interessant, wie die Architekten in ihrer Gesamtheit dabei sind, ein neues Südafrika für alle zu definieren. Zum Beispiel am Constitution Hill, wo die architektonische Struktur aufgrund einer ganz konkreten Zusammenarbeit zwischen den Communitys die traditionelle afrikanische Atmosphäre verkörpert.“

Maboneng, die teure Regenbogenidylle

Die Stadtentwicklung in Johannesburg wurde in den letzten 30 Jahren von dramatischen Verschiebungen geprägt. Als am Ende der Apartheid die Gesetze annulliert wurden, die der schwarzen Mehrheit den Zuzug in die Innenstädte verwehrten, löste das nicht nur eine Migrationswelle in die Städte, sondern auch innerhalb der Städte aus. Auch in Johannesburg führte die ökonomische Befreiung der schwarzen Bevölkerung – stimuliert durch das Förderungsprogramm BEE (Black Economic Em­power­ment) – zu drastischen Veränderungen: Arme schwarze Gruppen zogen aus den Townships und vom flachen Land ins Geschäftszentrum (CBD), während sich die Weißen umgekehrt in die Vororte verzogen.

Die Folge war ein dramatischer Abstieg des vormals schicken CBD, der mit Einsparungen für kommunale Dienstleistungen und steigender Kriminalität einherging. Ein Großteil der Bausubstanz, darunter ehemalige Fa­bri­ken und Bürogebäude, wurden in provisorische Wohnquartiere umgewandelt. Offiziellen Schätzungen zufolge gibt es heute allein im CBD von Johannesburg mehr als 1000 solcher „Slumgebäude“ mit etwa 25 000 Bewohnern. Im krassem Kontrast zum maroden Stadtzentrum mit den entkernten Bürokomplexen sind in den weißen Vorstädten etliche große Einkaufszentren entstanden, zum Beispiel das em­ble­matische, mit luxuriösen Marmorfußböden ausgestattete Sandton City.

Seit etwa zehn Jahren hat in einigen Distrikten des CBD allerdings ein neuer Aufschwung eingesetzt. Immobilienfirmen kaufen verlassene Gebäude auf, die sie renovieren und als schicke Einkaufs- und Freizeitquartiere für besser verdienenden Kreise vermarkten. Dieser Prozess, anderswo „Gentrifizierung“ genannt, hat zu einer grundlegenden Neuordnung der sozialen und ökonomischen Strukturen dieser Gegenden geführt.

Eine Vorreiterrolle spielte dabei, wie so oft, die aufblühende Künstlerszene mit ihren Galerien, in deren Gefolge zunächst Cafés und Bars und später auch Wochenendmärkte entstanden. Zu den bekanntesten dieser neuen Zentren gehört das Arts on Main. Es zieht die weißen und schwarzen Eliten gleichermaßen an, allerdings ist es nach Auskunft des Künstlers Makgato extrem teuer, „auch nur einen Kaffee hier zu trinken“.

Der samstägliche Maboneng-Markt, den regelmäßig über 6000 Leute besuchen, erscheint auf den ersten Blick dem „Regenbogen“-Ideal auf perfekte Weise zu entsprechen. Das Gewimmel aus einheimischen „Joburgers“ und Touristen, die ungezwungen miteinander umgehen, ist ein wunderbarer Anblick, der noch vor 30 Jahren völlig unvorstellbar gewesen wäre. Doch das multi­ethnische Regenbogen-Projekt ist hier nur an der Oberfläche durchgesetzt. Bevan de Wet, Künstler und Drucker aus Johannesburg, empfindet solche isolierten Orte der Diversität als höchst problematisch, weil sie ein weit komplexeres Erscheinungsbild verdecken: „Für mich ist Maboneng eine kleine Oase, die von den nördlichen Vororten ins Herz der Stadt verpflanzt wurde. Das ist einerseits gut, weil es der Stadt neues Leben einhauchen soll, andererseits ein Problem, weil damit ein sehr exklusives Quartier entstanden ist.“

In früheren Zeiten war die ethnische Zugehörigkeit stets das wichtigste soziale Kriterium; heute dagegen haben viele Südafrikaner den Eindruck, dass das Kriterium der Ethnie in den städtischen Zentren durch das der Klasse abgelöst wurde. Die Schwarzen, die sich in diesen Oasen bewegen, gehören zur Mittelklasse oder zu den Neureichen der schwarzen Oberschicht; damit erzeugen sie – gemeinsam mit den immer noch ökonomisch herrschenden Weißen – die Illusion einer offenen Gesellschaft. Tatsächlich handelt sich aber um streng kontrollierte und sehr speziell ausgestaltete städtische Räume, die lediglich den Eindruck vermitteln, dass sie offen, frei und für alle zugänglich seien.

Dass dieser Eindruck falsch sein kann, wird jeder Besucher bemerken, der sich ein paar Straßen von diesen Oasen wegbewegt. Dann findet man sich in einem völlig anderen Johannesburg wieder, schildert Bevan de Wet: „Zwei, drei Blocks weiter sieht man arme Leute, die auf der Straße kochen; für diese Menschen, die in unmittelbarer Nachbarschaft leben, werden Zentren wie das Maboneng niemals zugänglich sein, und sie wollen es auch gar nicht.“

Gentrifizierte Stadtgebiete, die mit dem falschen Etikett des „Rainbowism“ versehen werden, reproduzieren das alte Problem, die erzwungene Segregation, in einer modernen Variante. Die ökonomische Realität sieht so aus, dass diese durch private Investoren ­finanzierten Wohlstandsinseln die Mieten auch in der Umgebung in die Höhe treiben und die Armen zum Wegziehen zwingen. Und obwohl dieser Prozess nicht auf Johannesburg – oder Südafrika – beschränkt ist, spielt sich angesichts der komplexen und schwierigen Geschichte des Landes die urbane Gentrifizierung hier in einem besonders heiklen Umfeld ab.

Bevan de Wet bringt diese Ambivalenz auf den Begriff, wenn er diesen Gebieten eine Doppelfunktion zuschreibt: „Sie schaffen neue Räume, schaffen aber gleichzeitig andere ab.“ Damit benennt er das Potenzial, das durch die Transformation und die demografischen Verschiebungen in Johannesburg erschlossen wird, aber auch die Fallen, die sich dabei auftun.

In welche Richtung sich Südafrika entwickeln wird, dürfte sich an Orten wie dem CBD von Johannesburg entscheiden und abzulesen sein: genau in jenen neuen Räumen, in denen die einst einander entfremdeten Gruppen aufeinandertreffen. Deshalb brauchen wir unbedingt eine ehrliche Einschätzung der Auswirkungen, die diese Art Gentrifizierung für die große Mehrheit der Menschen hat. Das Regenbogen-Ideal darf eben nicht nur für diejenigen gelten, die es sich leisten können, die Annehmlichkeiten von Wohlstandsreservaten zu genießen. Sonst wird an diesen Orten die Apartheid fortgesetzt, nur mit anderen Mitteln.

1 Noch heute ist HIV/Aids die Todesursache in über 70 Prozent der Sterbefälle in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Naniso Tswai ist Politologe und Autor.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Naniso Tswai