Die britische Erpressung
von Bernard Cassen
Die Botschaft sollte lauten: Haltet mich fest, oder es passiert ein Unglück! Es war eine dieser typischen Brüsseler Marathonsitzungen, als der britische Premierminister David Cameron am 17. Dezember 2015 erklärte, er werde „die ganze Nacht kämpfen“, um seinen Kollegen die Zustimmung zu Nachverhandlungen über die Konditionen der britischen EU-Mitgliedschaft abzuringen. Ohne eine zufriedenstellende Lösung wäre er gezwungen, seinen Landsleuten beim Brexit-Referendum ein Ja zu empfehlen.
Bekanntlich endete die Sitzung ohne Ergebnis. Um Cameron einen Gesichtsverlust zu ersparen, vertagten die EU-Partner die Entscheidung auf den 18. Februar. Als erstes Verhandlungsangebot hat der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, am 2. Februar ein 16-seitiges Papier vorgelegt, das eine Vereinbarung mit den Briten ermöglichen soll.
Camerons Forderungen betreffen vier Themenfelder. Im Hinblick auf den ersten Bereich „Economic Governance“ will er die Verträge durch die Aufnahme eines Passus ändern, wonach der Euro nicht als einzige Währung der Europäischen Union anzusehen sei und EU-Länder außerhalb des Euroraums nicht diskriminiert werden dürfen: Mit anderen Worten: Cameron will die Interessen der Londoner City wahren.
Im zweiten Bereich „Wettbewerbsfähigkeit“ streben die Briten an, den Binnenmarkt noch stärker zu deregulieren und vor allem das Arbeitsrecht nach unten zu nivellieren.
Für das dritte Thema „Souveränität“ stellt Cameron drei präzise Forderungen: Jeder Verweis auf das Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ ist aus den Verträgen zu tilgen; die nationalen Parlamente sollen das Recht haben, jeden aus ihrer Sicht unerwünschten EU-Gesetzgebungsvorschlag zu blockieren; das Subsidiaritätsprinzip nach dem Motto „Europa, wenn nötig – national, wo möglich“ muss strikt eingehalten werden.
Was das vierte Thema „Immigration“ betrifft, möchte Cameron die Regel durchsetzen, dass Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten mindestens vier Jahre lang in Großbritannien gewohnt und Beiträge gezahlt haben müssen, ehe sie dieselben Sozialleistungen beziehen können wie ihre britischen Kollegen.
Auf diese letzte Forderung ist Tusk in seinem Entwurf bereits eingegangen. Unter bestimmten Voraussetzungen (wie der nachweislichen Überlastung des britischen Sozialsystems durch hohe Zuwanderungszahlen) sollen die Briten den gewünschten „Schutzmechanismus“ einführen dürfen. Aber nicht als Dauereinrichtung, wie von Cameron gefordert, sondern nur im Ausnahmefall und für einen begrenzten Zeitraum, der von der EU-Kommission und nicht von London festzulegen ist.
Trotz dieser Einschränkungen ist Tusks Angebot ein großes Zugeständnis, wenn man bedenkt, dass Cameron das in den Verträgen verankerte Diskriminierungsverbot attackiert. Dem zufolge haben die Bürger der 28 Mitgliedstaaten – in einigen Fällen erst nach einer Übergangsfrist – das Recht, sich in jedem EU-Land niederzulassen und dort zu arbeiten. Mit anderen Worten: Die Initiative richtet sich gegen die Freizügigkeit von Personen und damit gegen eine der vier „Grundfreiheiten“ der Europäischen Union.
Was hat Cameron veranlasst, seine EU-Reformvorschläge, die für das britische Publikum wenig Neues enthalten, zu diesem Zeitpunkt so energisch vorzubringen? Die Antwort lautet: Der Premier hatte keine andere Wahl, weil er einer Dynamik ausgeliefert ist, die er selbst erzeugt hat – aus parteipolitischen Gründen. Im Frühjahr 2015 fürchtete Cameron um den Sieg der Konservativen bei der anstehenden Parlamentswahl, als die europafeindliche Ukip (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) den Konservativen einen Teil ihrer Stammwähler streitig machte.1 Damals entschloss er sich, die Ukip durch „euroskeptische“ Zugeständnisse zu neutralisieren, um nicht aus Haus 10 Downing Street vertrieben zu werden.
Schon in seiner ersten Amtszeit hatte Cameron 2011 ein folgenschweres Referendumsgesetz im Parlament durchgebracht: Danach darf das Volk über die Ratifizierung von Verträgen abstimmen, durch die weitere wichtige Kompetenzen von Großbritannien an die europäischen Institutionen übertragen werden. In diesem Fall reicht also ein einfaches Votum im Parlament nicht mehr aus.
In Brüssel reagierte man geschockt, denn dort fürchtet man alle Bestrebungen, in den Einzelstaaten direkt über EU-Themen abstimmen zu lassen. Im Januar 2013 ging Cameron noch einen Schritt weiter. Er verpflichtete sich, spätestens Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union abzuhalten. Zugleich erklärte er, falls der Europäische Rat in den Verhandlungen mit London genügend Zugeständnisse machen würde, werde er sein Volk aufrufen, die Frage „Soll das Vereinigte Königreich weiterhin der Europäischen Union angehören?“ mit Ja zu beantworten. Andernfalls werde er den Brexit empfehlen.
Im Mai 2015 gewann die Konservative Partei entgegen den Prognosen die absolute Mehrheit im Unterhaus und konnte ohne die Liberaldemokraten weiter reagieren. Cameron muss sein Wahlversprechen also einlösen, obwohl er sich dies in der aktuellen Situation, in der rechtsextreme Parteien in den meisten EU-Ländern von den Themen Flüchtlinge und islamistischer Terror profitieren, wohl gern erspart hätte.
Da das Referendum nun unvermeidlich geworden ist, setzt der Premier auf einen möglichst frühen Termin. Dadurch will er verhindern, dass die EU-Debatte in Großbritannien und vor allem in seiner eigenen Partei entgleist, was unkalkulierbare Folgen auch in den Partnerländern haben könnte. Nach Camerons Wunschfahrplan nimmt der Europäische Rat die Vorschläge im Februar einstimmig an, und im Juni oder im September 2016 gehen die Briten zur Urne.
Opportunistische und prinzipielle Euroskeptiker
David Cameron pflegt eine Euroskepsis, die sich nach den jeweiligen Umständen richtet. Es ist eine Skepsis, die kulturell und geschichtlich bedingt ist und nicht in einer prinzipiellen Ablehnung wurzelt, die vielen konservativen Abgeordneten, einigen Ministern, dem Großteil der Londoner Presse und vor allem der Ukip und ihrem Vorsitzenden Nigel Farage zu eigen ist.
Cameron sieht sich indes in der Tradition Winston Churchills, der sich in seiner berühmten Zürcher Rede 1946 für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ ausgesprochen hat. Churchill dachte dabei an ein föderales Europa, das dem Commonwealth wohlwollende Hilfe leisten würde – aber von außen. „We are with Europe, but not of it“, lautete Churchills Formel.
1973 korrigierte London diese strategische Festlegung durch den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), bestand aber weiterhin auf nationale Eigenständigkeit. So forderte das Vereinigte Königreich von Beginn an und immer wieder Ausnahmen (Opt-out-Klauseln) von der Gemeinschaftspolitik, wenn auch anfangs ohne Erfolg. Heute gehört das Land weder der Eurozone noch dem Schengen-Raum an, zwei Institutionen, die für die Verfechter der europäischen Idee von zentraler Bedeutung sind.
1984 setzte London erstmals eine Sonderbehandlung durch, und zwar hinsichtlich der Gemeinschaftsbeiträge der damaligen EWG-Mitgliedstaaten. Damit verschaffte sich das Land einen erheblichen Beitragsrabatt, den berühmten „Britenscheck“. Heute gehört das Vereinigte Königreich mit Kroatien und Tschechien zu den drei EU-Staaten, die 2012 dem Europäischem Fiskalpakt (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion oder VSKS) ihre Unterschrift verweigert haben.
Keine britische Regierung ist in der Vergangenheit so weit gegangen, sich gegenüber Brüssel als völlig Außenstehender zu gebärden – als „Offshore-Staat“, wie manche sagen würden. In London hat man es vielmehr stets vorgezogen, mit dem einen Bein innerhalb und dem anderen außerhalb Europas zu stehen – mit Ausnahmen, die den Briten besonders am Herzen liegen: Vollendung des europäischen Binnenmarkts und freier Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr.
Mit seinem jüngsten Vorstoß, der EU neue Ausnahmeregelungen abzuringen oder gar zu erreichen, dass diese für die gesamte Union gelten, hat der britische Premier ein Pokerspiel eröffnet, bei dem er einen nicht zu unterschätzenden Trumpf auf der Hand hat: Keine andere Regierung wünscht sich einen Brexit – aus unterschiedlichen Gründen. Die deutschen, niederländischen, skandinavischen und mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten wären zwar zu erheblichen Zugeständnissen bereit, um den neoliberalen Kurs der EU abzusichern – denn sie befürchten, dass dieser Kurs durch einen relativen Machtzuwachs Frankreichs und der Länder des Mittelmeerraums, die sie als politisch unzuverlässig einschätzen, infrage gestellt werden könnte.
Berlin und Frankfurt wollen kein Veto der Londoner City
Doch selbst für Londons treueste Verbündete gibt es rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Für Deutschland etwa hat die Konsolidierung der EU absoluten Vorrang. Dieses Ziel soll durch eine immer stärkere Integration der Euro-Mitgliedstaaten erreicht werden, wobei die Einheitswährung als Mittel dient, um die eigene Dominanz zu behaupten und die Austeritätspolitik durchzusetzen. Weder die Regierung in Berlin noch die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt könnten zulassen, dass dieser Prozess durch Vetorechte behindert wird, die London unter dem Stichwort der Economic Governance fordert.
Die osteuropäischen Staaten wiederum sind vehement gegen die vorgesehenen Maßnahmen gegen EU-Immigranten, weil sie sich direkt gegen ihre nach Großbritannien ausgewanderten Staatsangehörigen richten. Dies ist vor allem für die Europäische Kommission und das Europäische Parlament der heikelste Punkt, weil London mit seinen Forderungen eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Projekts untergräbt. Sollten die Briten damit durchkommen, wäre dies ein Präzedenzfall, sodass andere Mitgliedsländer auch die drei übrigen Grundfreiheiten infrage stellen könnten. Spätestens dann ginge wieder das Gespenst des Protektionismus um.
Zur Vermeidung des Brexit gibt es offensichtlich nur zwei Lösungen: Entweder handeln die Mitgliedstaaten einen neuen Vertrag aus, oder sie einigen sich auf Klauseln zur Auslegung der bestehenden Verträge, ohne diese anzutasten. Letzteres ginge nur mithilfe eines geeigneten Rechtsinstruments, denkbar wäre zum Beispiel eine gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs.
Beide Lösungen setzen die Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten voraus. Der zweite Lösungsweg hätte allerdings den Vorteil, dass die einzelnen Staaten kein aufwendiges Revisions- und Ratifizierungsverfahren riskieren müssen. Darauf würden sich weder Bundeskanzlerin Merkel noch Frankreichs Staatspräsident Hollande einlassen, die beide 2017 wichtige Wahlen überstehen müssen.
Für Cameron wiederum würde eine Lösung innerhalb des geltenden institutionellen Rahmens bedeuten, dass er seine wichtigsten Forderungen aufgeben müsste. Zudem müssten die in Schönfärberei geübten Brüsseler Juristen für den Europäischen Rat einen wachsweichen Text zurechtzubasteln, der den britischen Premier einigermaßen bei der Stange hält, ohne gegen den Rechtsrahmen der Union zu verstoßen.
Dieser Lösungsweg wäre eine schwierige Gratwanderung. Ein Kompromiss würde Befürworter des Brexit wie Daniel Hannan, der für die Konservativen im Europäischen Parlament sitzt, mit Sicherheit zur Weißglut bringen. Nach Hannans Auffassung hat Cameron seinen Forderungskatalog schon vor Beginn der Verhandlungen viel zu sehr entschärft: „Das Vereinigte Königreich gibt vor, Änderungen zu fordern. Und die Union gibt vor, die Forderungen zu prüfen.“ Für Hannan handelt es sich um „eine inszenierte Konfrontation“, die es Cameron ermöglichen soll, einen Verhandlungserfolg zu reklamieren.
Als der britische Premier 2013 das Referendum zusagte, versprach er sich davon einen Befreiungsschlag. Drei Jahre später sieht es eher danach aus, als habe er die Konservative Partei und vielleicht sogar seine Regierung vor eine Zerreißprobe gestellt. Seinen Ministern, von denen ein halbes Dutzend überzeugte Euroskeptiker sind, musste er bereits Abstimmungsfreiheit zugestehen. Am Ende könnte er paradoxerweise auf die Labour-Wähler setzen. Denn für die ist das europäische Sozialrecht – trotz all seiner Schwächen – ein Bollwerk gegen die ungezügelte Deregulierung, die von allen Flügeln der Konservativen Partei befürwortet wird.
David Cameron hat bereits ausgeschlossen, bei den spätestens im Mai 2020 stattfindenden Parlamentswahlen für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Aus heutiger Sicht ist keinesfalls sicher, ob er sein Land so lange führen wird. Der Premier hat sich selbst in eine prekäre Zwangslage mit vielen Unbekannten manövriert. Am Ende könnte ein Brexit stehen, mit dem sich dann sein Nachfolger herumschlagen müsste.
1 Siehe Owen Jones, „Eine Partei zum Fürchten“, Le Monde diplomatique, November 2014.
2 Le Figaro, Paris, 17. Dezember 2015.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Bernard Cassen ist Professor emeritus am Institut d’Etudes Européennes der Université Paris VIII, Ehrenpräsident von Attac und Vorsitzender des Vereins Mémoire des luttes (MDL).