Die Mutigen von Guatemala
Bürgeraufstand für den Rechtsstaat
von Sandra Weiss
San Pedro Ayampuc. Es geschah 2012, an einem dieser heißen Frühlingstage im März, die die Feldwege im Trockenkorridor Guatemalas in knochenharte Pisten verwandeln. In eine Staubwolke gehüllt, bahnte sich der tonnenschwere Vorderlader seinen Weg über die enge, steinige Holperstrecke zwischen San Pedro Ayampuc und San José del Golfo, eine Stunde nördlich der Hauptstadt. Auf der Höhe von La Puya, fast schon am Ziel, stellte sich ein Kleinwagen quer über die Straße. Eine Frau stieg aus und breitete ihre Arme aus. Der Chauffeur hupte, ließ den Motor drohend aufheulen, doch es half nichts. Die Frau gab den Weg nicht frei.
Und plötzlich tauchten immer mehr Menschen auf: Bauern mit wettergegerbter, runzliger Haut, Frauen in abgewetzten Schürzen, Jugendliche und Kinder. Menschen, die zu der in ihrer Nachbarschaft geplanten Goldmine nie befragt worden waren. Bauern, die um ihre Gesundheit, um die knappen Wasservorkommen und um die Zukunft ihrer Kinder fürchteten. Bürger, die genug hatten von einem Staat, der die Ressourcen des Landes verscherbelt, während fast zwei Drittel aller Kinder der Region unterernährt sind und 30 von 1000 sterben, bevor sie das erste Lebensjahr erreicht haben.
Sie sind nie wieder fortgegangen seither. Aus der Blockade wurde eine Mahnwache, aus der Mahnwache ein organisierter, friedlicher Widerstand. Das war ein Affront für die Regierung von Präsident und Exgeneral Otto Pérez Molina und die Kamarilla der Militärs und Unternehmer, die seit Ende des Bürgerkriegs 1996 die Pfründen des mittelamerikanischen Landes untereinander aufteilen. Mehrfach versuchten die Sicherheitskräfte, die Demonstranten zu Gewaltakten zu provozieren, um unter diesem Vorwand die Blockade zu räumen. Als das nicht funktionierte, verkaufte der kanadische Konzern Radius Explorations, der die Konzession zusammen mit der guatemaltekischen Bergbaufirma Exmingua (einem Unternehmen von Exmilitärs) hielt, seinen Anteil an die US-Firma KCA. Diese setzte im Mai 2014 durch, dass Sicherheitskräfte in einem achtstündigen Angriff mit Tränengas und Gummigeschossen den Weg freiräumten. Die Mine nahm ihre Arbeit auf. Doch am nächsten Tag waren die Demonstranten wieder da und blockierten erneut Maschinen, die ins Schürfgebiet gebracht werden sollten. Seither geht der Kampf in La Puya und vor Gericht weiter.
Es war ein erstes Signal des Aufbegehrens. La Puya wurde zum Symbol des Widerstands jenseits von Parteien und Ideologien. Doch das nahm die Elite in Guatemala-Stadt, absorbiert von politischen Ränkespielen und Geschäftemacherei, nicht wahr. „Es war ihnen unbegreiflich, dass sich Bauern und Indigene, die sie für irrational, manipulierbar und dumm hielten, selbst organisieren können“, sagt der Soziologe Camilo Salvado. „Sie waren unfähig, den Hauch von Demokratie und Widerstand zu spüren, der ihnen entgegenwehte.“ Dabei war es nicht nur La Puya. In Huehuetenango protestierten Bauern gegen einen Staudamm, in San Juan Sacatepequez gegen eine Zementfabrik, in Candelaria gegen Palmölmonokulturen. Die Antwort der Regierung war stets die gleiche. „Es werden Auseinandersetzungen provoziert, der Ausnahmezustand wird verhängt und dann schüchtern die Sicherheitskräfte die Bevölkerung ein“, sagt der Aktivist Domingo Hernández Ixcoy, Gründer und Mitglied verschiedener Maya-und Bauernorganisationen. „Ich habe 76 Gemeinden beraten und dort Volksbefragungen zu Großprojekten durchgeführt. Fast überall stimmten sie dagegen. Die Ergebnisse überreichten wir dem Bergbauministerium und dem Kongress. Aber nur ein einziges Mal wurde der Beschluss der Bevölkerung akzeptiert.“
Die Marschroute der Friedensverträge von 1996 sah eigentlich ganz anders aus: Demokratisierung, soziale Investitionen, Abbau der militärischen und paramilitärischen Strukturen und das Ende von Diskriminierung und Rassismus waren unter anderem darin vorgesehen. Doch die Zugeständnisse der Elite an die internationale Gemeinschaft – die linke Guerrilla war zu dem Zeitpunkt militärisch nahezu besiegt – erwiesen sich als Lippenbekenntnisse, der Friedensvertrag als Papiertiger, obwohl die UN-Überwachungsmission Minugua noch bis 2004 die Umsetzung des komplexen Friedensvertrags begleitete. In dem fast vier Jahrzehnte langen Bürgerkrieg, den der Staat gegen das eigene Volk und die linke Guerilla URNG führe, töteten Militärs und Todesschwadronen zwischen 1960 und 1996 insgesamt fast 200 000 Menschen, in der großen Mehrzahl Mayas und andere Ureinwohner. 45 000 Linke oder Oppositionelle wurden verschleppt, 5000 Kinder entführt.1
Erfolgreich war die UNO bei den klassischen Schritten zur Befriedung eines Landes wie Waffenübergabe und Eingliederung der Exkämpfer in die Gesellschaft. Es habe auch Fortschritte gegeben bei der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechtsinstitutionen, bei den Antidiskriminierungsgesetzen und bei den Gesetzen zum Schutz der Kinder, sagte der deutsche Missionsleiter Tom Koenigs beim Abzug der Minugua. Doch der Rechtsstaat stehe auf sehr wackligen Beinen, die Steuerquote sei die niedrigste der Welt (10 Prozent des BIPs), und ein multikultureller, mehrsprachiger und pluriethnischer Staat sei Guatemala nur auf dem Papier.
Aufbegehren in La Puya
Etwa 40 Prozent der 15 Millionen Einwohner des mittelamerikanischen Landes sind Indigene, doch in den staatlichen Organen sie sind kaum vertreten. Drei Viertel der Guatemalteken, davon wiederum 80 Prozent Ureinwohner, leben unterhalb der Armutsgrenze. Korruption ist allgegenwärtig. Die Militärs haben zu viel Macht für eine Demokratie – und sind zugleich nicht in der Lage, Sicherheit zu garantieren. Drogenhandel und Maras, marodierende Jugendbanden, wurden in den vergangenen zehn Jahren ein Riesenproblem, mit mehr Toten als zu Bürgerkriegszeiten. Auf die Frage, warum kein Funke des Aufbegehrens in Sicht sei, kam stets eine ähnliche Antwort: Der Bürgerkrieg habe eine ganze Generation möglicher intellektueller Führungsfiguren ausgelöscht, und in der Bevölkerung herrsche nach langem Terror nur Angst, Resignation und Unterwürfigkeit.
La Puya, Huehuetenango, Sacatepequez waren erste Anzeichen des Aufbegehrens. Doch nichts ließ vermuten, dass es sich zu einem Flächenbrand ausweiten könnten. Dass es dazu kam, ist der UNO zu verdanken und vor allem einer Institution, die vorgemacht hat, dass der Kampf gegen Korruption und Straffreiheit möglich ist. Sie hört auf den bürokratischen Namen Internationale Kommission für den Kampf gegen Straffreiheit in Guatemala. Ihre Abkürzung Cicig wurde zu einem Fanal, und ihr Vorsitzender, der Richter Iván Velásquez, im Frühjahr 2015 zum Nationalhelden. Doch angefangen hatte es alles andere als vielversprechend.
Eine der Vorgaben des Friedensvertrags lautete, die paramilitärischen Mafiastrukturen, die sich während des Bürgerkriegs gebildet hatten, zu zerschlagen. Aber kein Präsident hatte genug Mut, Macht und Willen dazu. Die Mafia hatte Gewalt als Mittel zur wirtschaftlichen Akkumulierung eingesetzt und nutzte ihre finanziellen Ressourcen als Mittel der politischen Kontrolle. Sie hatte ihre Tentakel überall: in der Polizei ebenso wie in der Justiz, der Armee, im Kongress, in der Migrations-, Gefängnis- und Zollbehörde. Diese Netzwerke waren derart erfolgreich, dass der Justiz- und Sicherheitsapparat des Landes praktisch lahmgelegt war: Zu Beginn des Jahrtausends blieben 98 Prozent aller Verbrechen straffrei.
Guatemalas Justiz litt wie fast alle Judikativen Lateinamerikas unter Bürokratie, Korruption, Politisierung, Unterfinanzierung und unfähigen Ermittlungsstrukturen. Viele Kommissariate hatten nicht einmal Computer, ausreichend Geld für Benzin und einsatzfähige Fahrzeuge. Die Prozesse waren lang und bürokratisch, die Gesetzeslücken eklatant. Ein Freibrief für die Mafia.
Im Dezember 2006 unterzeichnete der konservative Präsident Óscar Berger das Abkommen mit der UNO zur Schaffung der Cicig. Es war ein Zeitfenster, in dem die richtigen Voraussetzungen gegeben waren: Die USA hatten die Kokainschmuggelroute durch die Karibik praktisch blockiert, und Mittelamerika wurde plötzlich zum blutigen Hauptumschlagplatz der Drogenmafia. Die Sicherheitslage geriet außer Kontrolle, die Zahl der Gewaltverbrechen und die Mordrate schnellten in die Höhe. Die USA machten Druck, und die Bevölkerung forderte Ergebnisse. So öffneten sich die Türen für ein in der Welt völlig neues Pilotprojekt. Die Leitung der Kommission wurde zunächst dem spanischen Ermittler Carlos Castresana übertragen, der sich in seiner Heimat als unabhängiger Antikorruptionsstaatsanwalt und in Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwa gegen Chiles ehemaligen Diktator Pinochet hervorgetan hatte.
Vier Jahre blieb er an der Spitze der Cicig, trotz Morddrohungen und Verleumdungskampagnen. Er und seine Nachfolger, Francisco Dall’Anese aus Costa Rica und Iván Velásquez aus Kolumbien, begannen ein Großreinemachen, das bis heute die politische Elite in Atem hält. Die Cicig enttarnte Drogenkartelle (die Familien Lorenzana und Mendoza), brachte Minister hinter Gitter, verhinderte die Ernennung korrupter Staatsanwälte und Richter, brachte Polizeichefs auf die Anklagebank, modernisierte die Strafprozessordnung, regte neue Gesetze über Waffenbesitz, Zeugenschutz und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen an, richtete ein modernes Abhör- und Ermittlungszentrum ein und beförderte die Karriere mutiger Richter und Staatsanwälte.
Die Fälle, die die von der Cicig unterstützten Ermittler in die Hand nahmen, schlugen immer höhere Wellen. Gleich zwei Expräsidenten landeten auf der Anklagebank: Alfonso Portillo wegen Korruption und Efraín Ríos Montt wegen Völkermords. „Der Kampf gegen die Straffreiheit beginnt mit den Unberührbaren“, erklärte Dall’Anese.2 Das Gefühl der plötzlichen Verwundbarkeit beunruhigte die politische Elite, die alles unternahm, um die unerwünschte Institution wieder loszuwerden.
Sie hatte eine wirksame Waffe: die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. Präsident Álvaro Colom ernannte im Mai 2010 Conrado Reyes zum Generalstaatsanwalt, der von der Cicig als Verbindungsmann der Mafia eingestuft worden war. Innerhalb weniger Tage entließ dieser Dutzende fähiger Ermittler und löste funktionierende Strukturen auf, die die Cicig in mühevoller Arbeit aufgebaut hatte. Castresana trat zurück. Das Verfassungsgericht setzte Reyes ab, und Colom machte unter internationalem Druck die angesehene Menschenrechtsexpertin Claudia Paz zur Nachfolgerin.
Die Kongressmehrheit rächte sich und verweigerte die Ernennung des Expertenkomitees, ohne dessen Zustimmung Paz korrupte Amtsträger nicht entlassen konnte. Über 300 standen auf ihrer Liste, 286 waren suspendiert, unter Fortzahlung ihres Gehalts. Andere waren wegen ihrer gewerkschaftlichen Funktion unantastbar, wie die beiden auffallend ineffizient arbeitenden Staatsanwälte, die für Schmuggel und Umweltdelikte zuständig waren.
Im UN-Auftrag gegen die Mafia
Mit dem Prozess gegen Exdiktator Ríos Montt 2013 brach der alte Konflikt wieder auf. Auf das Haus von Richterin Yasmin Barrios wurden Granaten abgefeuert; das Mandat der Staatsanwältin Paz wurde im Mai 2014 vorzeitig beendet. Präsident Pérez Molina, dem selbst Gräueltaten während des Bürgerkriegs nachgesagt wurden, kritisierte den Prozess öffentlich. Die Unternehmer, die bis dahin die Cicig als Verbündete im Kampf gegen die Korruption betrachtet hatten, schlossen sich ihm an. Auf die Verurteilung von Ríos Montt zu 80 Jahren Haft folgte die sofortige Annullierung des Urteils durch das Verfassungsgericht aus formalen Gründen.
Ende 2014 ernannte der Kongress 223 neue Richter für das oberste Gericht und die Berufungsgerichte, die oft weder die professionelle noch die ethische Eignung dafür hatten, wie Bürgerrechtsorganisationen bemängelten. Es war der Cicig nicht gelungen, das System zur Ernennung der Richter zu reformieren, das eines der Bollwerke der Straffreiheit ist. In Guatemala wählt der Kongress alle fünf Jahre die Richter aus einer Liste, die von einem Gremium vorgelegt wird. Wer auf dieser Liste steht, muss nicht Richter sein, nicht einmal Anwalt oder Beamter. Es zählt nicht die berufliche Eignung, sondern politisches Wohlverhalten.
Man sei an einem Punkt angelangt, an dem tiefgreifende Reformen nötig seien, erklärte die Cicig in ihrem Rechenschaftsbericht Anfang 2015 und kündigte eine öffentliche Debatte darüber an. Wenige Tage später musste sie ihren Vorschlag auf Druck des Präsidenten zurücknehmen. Pérez Molina hatte genug. Er werde eine Expertenkommission einsetzen, die über den Verbleib der Cicig im Land entscheiden solle, drohte er, während auf den sozialen Netzwerken eine Hetzkampagne gegen die Kommission anlief. Es war US-Vizepräsident Joe Biden, der im März 2015 Pérez drohte, Guatemala von der Liste der Hilfsempfänger der „Allianz für den Wohlstand“ zu streichen.3 „Alles Geld der Welt kann nichts tun gegen die strukturellen Probleme, die mit Korruption und Rechtsstaat oder mit mangelnder Regierungsfähigkeit zu tun haben“, sagte Biden. Die Arbeit der Cicig sei positiv, ihr Mandat müsse verlängert werden. Pérez gab zähneknirschend nach. Hätte er gewusst, was die Cicig und die Staatsanwaltschaft zu dem Zeitpunkt ausbrüteten, wäre seine Entscheidung wohl anders ausgefallen.
Acht Monate lang hatten die Ermittler unter der Leitung von Generalstaatsanwältin Thelma Aldana Telefongespräche abgehört, Mails gelesen und Bankkonten gecheckt. Am 16. April 2015 stellten die Cicig und die Staatsanwaltschaft in einer gemeinsamen Pressekonferenz das Ergebnis ihrer Recherchen zum Mafianetzwerk La Línea vor – benannt nach der Telefonleitung, über die Importeure korrupte Beamte kontaktierten, um den Wert ihrer Importe geringer anzusetzen und damit Steuern zu hinterziehen. Im Gegenzug wurden „Gebühren“ fällig. Schätzungen zufolge verdiente das Netzwerk wöchentlich 150 000 US-Dollar. Geleitet wurde es von dem ehemaligen Offizier Juan Carlos Monzón. Der wegen seines Vorlebens als Autoknacker einschlägig bekannte Monzón war zu diesem Zeitpunkt persönlicher Sekretär von Vizepräsidentin Roxana Baldetti und saß in einem Büro neben dem ihren.
An dem Abend postete die Immobilienmaklerin Lucía Mendizábal auf Facebook: „Mal sehen, ob wir diesmal etwas unternehmen.“ Am nächsten Morgen hatte sie ein halbes Dutzend Antworten. Man traf sich und verfasste ein kurzes Manifest unter dem Hashtag #RenunciaYa (Rücktritt sofort). Der Aufruf traf einen Nerv. Innerhalb weniger Tage hatte die Facebook-Seite 35 000 Freunde. Die Medien wurden aufmerksam, nur die Politiker verstanden nichts.
Am Samstag, den 25. April kamen mehr als zehntausend Menschen zur ersten Demonstration im Stadtzentrum von Guatemala. Mit Pfeifen, Rasseln und klappernden Kochtöpfen bekundeten sie ihre Missbilligung, sammelten danach ihren Müll wieder auf und gingen nach Hause. „Plötzlich kam Freude auf und Hoffnung“, erinnert sich die UN-Gesandte Valerie Julliand. Jeder Samstag wurde fortan zum Protesttag. Und die Zahl der Teilnehmer nahm nicht ab, wie die Regierung gehofft hatte. Im Gegenteil. „Wir entdeckten, dass ganz normale Bürger das Heft in die Hand nehmen und ihre Rechte einfordern können“, sagt Mendizábal. Das war der Wendepunkt für Pérez Molina.
Monzón befand sich am Tag der Enthüllungen zusammen mit seiner Chefin in Südkorea und tauchte unter. Baldetti kehrte zurück und beteuerte, von nichts gewusst zu haben. Doch die Beweise waren erdrückend: In Telefonmitschnitten wurde sie als „die Dame“ oder „Nummer zwei“ bezeichnet. Kirche und Unternehmer stellten sich gegen die Regierung und forderten lückenlose Aufklärung. Anfang Mai musste Baldetti zurücktreten.
Die Demonstranten, denen sich längst organisierte Bauern, Indigene, Studenten, Unternehmer und Menschenrechtler angeschlossen hatten, forderten nun den Kopf von Pérez Molina. Der hatte gehofft, die Gemüter zu beruhigen, indem er Baldetti opferte, und sich selbst bis zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst und der Amtsübergabe im Januar 2016 über Wasser zu halten. Danach wäre er automatisch Abgeordneter des Mittelamerikanischen Parlaments4 geworden – und hätte weiter Immunität genossen. Doch er hatte die Rechnung ohne die Justiz gemacht.
Am 21. August traten Aldana und Velásquez erneut vor die Presse. „Wir haben keine Zweifel, dass die in den Telefonmitschnitten genannten Alias ‚Nummer eins‘, ‚Der Gutsherr‘ und ‚Der Oberste‘ Decknamen für Pérez sind“, sagte Velásquez und kündigte an, einen Prozess einzuleiten. Die Menge der Demonstranten am folgenden Samstag war so groß wie nie zuvor, in den Medien war die Rede von über 100 000 im ganzen Land. Der Kongress berief für Dienstag eine Sondersitzung ein. Einziger Tagesordnungspunkt: die Aufhebung der Immunität des Staatschefs. Tausende kamen am Morgen vor das Kongressgebäude und halfen der Polizei, einen Korridor für die Abgeordneten freizuhalten, damit sie trotz der von Pérez Molinas Anhängern organisierten Blockade in den Sitzungssaal gelangten. Jeder Abgeordnete wurde jubelnd begrüßt. Wer fehlte, wurde in den sozialen Netzwerken gemobbt. Letztlich blieben nur 26 Abgeordnete der Regierungspartei und der zweitgrößten Partei (Líder) der Sitzung fern. Die 132 anwesenden Abgeordneten hoben die Immunität des Präsidenten einstimmig auf. Am folgenden Tag erging der Haftbefehl. Eine korrupte Regierung war gestürzt, doch die Aussichten waren nicht rosig.
Der Wahlkampf war vor dem Hintergrund der Proteste völlig in Vergessenheit geraten. Doch in wenigen Tagen mussten die Guatemalteken entscheiden, wer Pérez Molinas Erbe antreten sollte. Die drei aussichtsreichsten Präsidentenkandidaten waren eigentlich indiskutabel: Der zwielichtige Unternehmer Manuel Baldizón, gegen dessen designierten Vize wegen Geldwäsche ermittelt wurde; der politisch unbeleckte Komiker Jimmy Morales an der Spitze einer Partei ultrarechter, in Massaker verwickelter Exmilitärs; und die sozialdemokratische Expräsidentengattin Sandra Torres, deren Schwester wegen Korruption inhaftiert wurde. Auch gegen zahlreiche Kandidaten für das Parlament und die Rathäuser liefen Ermittlungen wegen Korruption. Der Wahlkampf war der Cicig zufolge zu 50 Prozent mit abgezweigten Bestechungsgeldern finanziert, zu 25 Prozent aus Drogengeldern und zu weiteren 25 Prozent aus Wahlkampfspenden von Unternehmen, die Regierungsaufträge erhielten.
„Legitimität war mit diesem Urnengang nicht zu bekommen“, sagte der Soziologe Bernardo Arévalo von der Bewegung Semilla, die für eine Aufschiebung der Wahlen plädierte und vorher eine Reform des Parteiensystems und der Wahlkampffinanzierung forderte. Doch es siegte die Realpolitik. Der US-Botschafter, besorgt um die Stabilität des Landes, drängte auf die Abhaltung der Wahlen und stützte Interimspräsident Alejandro Maldonado, der unternehmerfreundliche Maßnahmen wie die Aufhebung des Mindestlohns in der Maquila-Industrie verfügt hatte – ein Beschluss, den die UNO als „sozial rückschrittlich“ bezeichnete und der vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben wurde. Der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 331 US-Dollar monatlich.
Am Wahltag im September war die Beteiligung dann doch höher als erwartet. Die Stimmen verteilten sich auf zehn Kandidaten, wobei die beiden führenden, Torres und Morales, auf 20 beziehungsweise 24 Prozent kamen. Bei der Stichwahl im Oktober setzte sich schließlich der 46-jährige Komiker mit 68 Prozent klar durch. Dabei ging allerdings nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten an die Urnen. Morales’ Partei, die Nationale Konvergenz-Front (FCN), brachte es im Kongress nur zur fünftstärksten Kraft.
Jimmy Morales, der Komiker als Präsident
Jimmy Morales ist ein ehemaliger protestantischer Laienprediger, der Betriebswirtschaft studiert, aber als Fernsehkomiker Karriere gemacht hat. Er präsentierte sich als politischer Außenseiter mit sauberen Händen und als Patriot, der regelmäßig die Nationalhymne intoniert. Dass er nicht zur politischen Kaste gehörte, war sein Vorteil, auch wenn seine Reden gespickt waren mit Plattitüden wie dem Versprechen, ein „glückliches Land“ zu schaffen oder „null Toleranz gegen Korruption“ walten zu lassen. Noch vor seinem Amtsantritt am 14. Januar machte Morales erste bittere Erfahrungen mit der guatemaltekischen Realpolitik: Er musste mitansehen, wie die Mehrheit im Kongress den Haushalt für 2016 beschloss, ohne dass er Einfluss darauf nehmen konnte.
Das Budget sieht keine Steuererhöhungen vor und bietet wenig Spielraum für die von Morales versprochenen Investitionen in die kollabierten Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme. Die FCN konnte sich nicht einmal die Kontrolle über einen einzigen Ausschuss sichern. Dann verkündete Staatsanwältin Aldana wenige Tage vor Morales’ Vereidigung die Festnahme von 18 ranghohen Exmilitärs wegen Massakern und Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs. Aus dem gleichen Grund wurde ein Verfahren gegen einen engen Vertrauten von Morales, den FCN-Kongressabgeordneten Édgar Ovalle, eröffnet. Ein Schachzug, den viele Beobachter dem Einfluss der USA zuschreiben.
Washington ist nach Jahren der Vernachlässigung zu dem Schluss gekommen, dass es sich wieder stärker in der Region engagieren muss, um die eigenen Interessen – zumal die Kontrolle des Migrantenzustroms aus Guatemala, El Salvador und Honduras – zu sichern. Nach Schätzungen verschiedener NGOs verlassen 150 000 bis 400 000 Mittelamerikaner jährlich ihre Heimat Richtung USA. Die Gründe sind andere als nur wirtschaftliche: Die drei Staaten sind von Drogenkartellen und den kriminellen Maras unterwandert, die in weiten Landesteilen die Regeln diktieren. Ohne rechtsstaatliche Reformen und einem effizienten Sicherheits- und Justizapparat ist diese Abwanderung also nicht zu stoppen. Das ist inzwischen Konsens in Washington.5
Entsprechend groß ist das Interesse, politischen Einfluss in diesen drei Ländern auszuüben. Die USA, munkelt man, haben bei der Ernennung von Morales’ Innenminister ein Wörtchen mitgeredet. Gegen den ursprünglichen Kandidaten gab es ein Veto, denn er gehörte der alten Militärgarde an, die einst – unterstützt von Washington – den Bürgerkrieg führte und jetzt juristische Verfolgung fürchtet, ihre Privilegien verteidigt und nach Kräften demokratische und soziale Reformen blockiert. Den Zielen der USA ist sie inzwischen mehr hinderlich denn förderlich.
Mit der Schwächung der ultrakonservativen Militärs weitet sich das politische Spielfeld. Das Kabinett von Morales ist deutlich pluraler und kompetenter als das seines Vorgängers. Aber wohin die Reise geht und wer sich letztlich durchsetzt, ist offen. Morales hat zwar der Zivilgesellschaft einen Dialog angeboten, ließ aber weder in seiner Antrittsrede noch in den ersten Regierungswochen eine klare Linie erkennen. Ohne politische Agenda, ohne Vision und ohne parlamentarische Mehrheiten wird er es in jedem Fall schwer haben. Und die Zivilgesellschaft zeigt sich zwar weiterhin auf Demonstrationen wie im Januar 2016, als sie die Verhaftung der Militärs feierte; aber eine Führungsriege oder eine gemeinsame Agenda hat sie nicht.
Das Machtvakuum versuchen politisch versiertere Schwergewichte wie Kongresspräsident Mario Taracena zu füllen. Der Politiker der sozialdemokratischen Partei Nationale Union der Hoffnung (UNE) von Sandra Torres gab in seiner Antrittsrede eine klare Richtung vor, sprach von Reformen im politischen System und veröffentlichte kurz darauf eine Liste mit den Gehältern von Kongressmitarbeitern, die einen nationalen Aufschrei der Empörung auslöste. Staatsanwalt Castresana, der erste Chef der Cicig, sagte gegenüber CNN: „Gerechtigkeit macht süchtig. Du willst immer mehr davon. Es kann nicht sein, dass 1000 Verbrecher ein Volk von 14 Millionen in Geiselhaft halten. Deshalb habe ich in Guatemala immer wieder gesagt, dass die Angst die Seite wechseln muss. Nicht das Volk muss sich fürchten, sondern die Verbrecher müssen sich fürchten.“6
2 cicig.org/index.php?page=0041-20110818.
3 www.laprensa.hn/mundo/894440-410/eua-admite-que-condicion%C3%B3-ayuda-a-guatemala-por-la-cicig.
Sandra Weiss ist Journalistin und Politologin in Mexiko (sanweiss.wix.com/latamreporter).
© Le Monde diplomatique, Berlin