11.02.2016

Parteiische Schiedsrichter

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Parteiische Schiedsrichter

Das im TTIP vorgesehene Schlichtungsverfahren zugunsten privater Investoren wird nicht kommen. Das ist ein Erfolg der Protestbewegung

von Maude Barlow und Raoul Marc Jennar

Khvay Samnang, Preah Ream Thlang Sor, 2012, Digital C-Print, 120 x 180 cm
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Was ist Methylcyclopentadienyl-Mangantricarbonyl (MMT)? Eine Manganverbindung, die als bleifreier Zusatzstoff dem Benzin beigemischt wird, um die Motorleistung zu verbessern. Das US-Unternehmen Afton Chemical (früher Ethyl) produziert den Stoff in den USA und exportiert ihn zu seiner kanadischen Tochterfirma, wo er fertig gemischt und dann in alle Welt verkauft wird.

Obwohl MMT in den USA selbst von 1977 bis 1995 verboten war, wurde es in dieser Zeit in Kanada verwendet. 1997 wurde im Parlament von Ottawa eine Gesetzesinitiative mit dem Ziel erwogen, Einfuhr und Transport des Produkts zu untersagen, das auch in vielen anderen Ländern verboten ist. Experten zufolge kann sich Mangan nämlich im Gehirn ablagern und das Nervensystem schädigen.

Aus Angst vor einer rufschädigenden parlamentarischen Debatte kündigte Ethyl an, falls ein solches Gesetz durchkommen sollte, werde man den kanadischen Staat verklagen – und zwar unter Berufung auf das 1994 in Kraft getretene Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta). Dank dieses Vertrags können Investoren vor einem privaten Schiedsgericht gegen Staaten klagen, wenn deren Gesetze ihre Investitionen beeinträchtigen.

Das Parlament in Ottawa ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Im Juni 1997 wurde das MMT-Verbot verabschiedet. Wenige Tage später verlangte Ethyl von der Regierung 251 Millionen Dollar Entschädigung für die „indirekte Enteignung“. Im Juli 1998 schloss die kanadische Regierung einen Vergleich, zahlte 13 Millionen Dollar Entschädigung und annullierte das Gesetz mit der Begründung, die Schädlichkeit von MMT sei nicht erwiesen.

Internationale private Schiedsgerichte dienen der Streitschlichtung zwischen Privatpersonen außerhalb der staatlichen Rechtsprechung. In der Regel werden drei Schiedsrichter benannt: der erste auf Vorschlag der klagenden, der zweite auf Vorschlag der verklagten Partei; der dritte wird – im Einvernehmen mit beiden Parteien – von einer der nationalen oder internationalen Schiedsgerichtsinstanzen nominiert, die das gesamte Verfahren in der Hand haben. Das sind die Handelskammer Stockholm, das zur Weltbank gehörende Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) in Washington und die Internationale Handelskammer (ICC) in Paris. Dabei kann ein Schiedsrichter – in verschiedenen Verfahren – in allen drei Rollen auftreten. In der Regel ist gegen Schiedsgerichtsentscheidungen keine Berufung möglich.

In den „Leitlinien für die Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“, die der Rat der EU verabschiedet hat, um das TTIP voranzutreiben,1 heißt es unter Punkt 23: „Das Abkommen sollte für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten einen wirksamen Mechanismus vorsehen, der auf dem neuesten Stand ist und Transparenz, Unabhängigkeit der Schiedsrichter und die Berechenbarkeit des Abkommens gewährleistet, unter anderem durch die Möglichkeit einer verbindlichen Auslegung des Abkommens durch die Vertragsparteien.“

Unter Punkt 32 wird die Zuständigkeit dieses „Streitbeilegungsmechanismus“ ausdrücklich auf die „Anwendung und Durchsetzung interner Rechtsvorschriften zu Arbeit und Umwelt“ erweitert. Und in Punkt 27 heißt es: „Das Abkommen wird für alle Regulierungsinstanzen und sonstigen zuständigen Behörden der beiden Vertragsparteien verbindlich sein.“

Die Öffentlichkeit reagierte verstört auf diese Entschlossenheit, die staatliche Rechtsprechung privaten Interessen zu unterwerfen. Die Aussicht, dass künftig statt offizieller Gerichte die „Investor-Staat-Streitbeilegung“ (Investor-state-dispute-settlement, IDSD) Recht sprechen soll, löste in ganz Europa Proteste aus. Und selbst bei den bisherigen TTIP-Verfechtern mehren sich mittlerweile die Zweifel.

In einigen Ländern hat das Parlament die – rechtlich allerdings folgenlose – Forderung verabschiedet, die Schiedsgerichte ganz aus den TTIP-Verhandlungen herauszunehmen. Deshalb hat die EU-Kommission aus Angst, dass manche nationalen Parlamente eben deswegen die TTIP-Vereinbarung nicht ratifizieren könnten, im September 2015 ein neues Modell von Investitionsgerichtsbarkeit vorgeschlagen.2

Klagen gegen Mindestlöhne

Das revidierte Konzept sieht ein Gericht erster Instanz und ein Berufungsgericht vor, deren Beschlüsse nicht von Schiedsgerichten, sondern von besonders qualifizierten und spezialisierten Richterinnen und Richtern gefällt werden, ähnlich wie beim Internationalen Gerichtshof (IGH). Investoren sollen nur unter genau festgelegten Bedingungen die Möglichkeit haben, einen Streitfall vor das Gericht zu bringen. Auch bliebe das Regelungsrecht der Staaten erhalten. An dem prinzipiellen Machtgefälle würde sich damit jedoch nichts ändern: Klage können nur die Investoren erheben und nicht die staatlichen Institutionen.

Dennoch überrascht das späte Einlenken der EU-Kommission. Denn von ihr stammte ja der Vorschlag, die Bestimmungen über die Schiedsgerichtsbarkeit bei Investitionsstreitigkeiten in das europäische Verhandlungsmandat aufzunehmen. Und sie war von diesem Instrument so begeistert, dass sie es bereits in die Geheimverhandlungen3 zum Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats) eingebracht hatte und sogar noch nachträglich in die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta). Der plötzliche Sinneswandel zeigt, wie sehr die Proteste gegen TTIP und insbesondere gegen die geheimen Schiedsgerichte die europäischen Institutionen in Bedrängnis gebracht haben.

Um ihren neuen Vorschlag umzusetzen, braucht die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström allerdings die Zustimmung nicht nur der US-Unterhändler, sondern auch der am Prozess beteiligten Interessenvertreter. Das würde im Grunde eine internationale Konferenz erfordern, zu der sich die Schlüsselfiguren der Schiedsgerichtsbarkeit versammeln würden. Denn das Thema spielt nicht nur bei TTIP eine wichtige Rolle, sondern bei allen Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten – etwa beim inzwischen abgeschlossenen, aber noch nicht ratifizierten Ceta-Vertrag mit Kanada.

Das die Arbeit der privaten Schiedsgerichte der rechtlichen Überprüfung im nationalstaatlichen Rahmen entzogen bleiben sollte, war eine bewusste politische Entscheidung. Solche Schiedsverfahren erlauben den streitenden Parteien, so der juristische Experte Professor Emmanuel Gaillard, „anstelle der staatlichen Rechtsprechung eine private Form der Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zu wählen“. Diese dürfen also ihre Richter bestimmen und das von ihnen bevorzuge Verfahren auswählen, wobei die anzuwendenden Rechtsregeln, „von denen eines bestehenden Rechtssystems abweichen können“. Den Schiedsrichtern steht es also frei, „über ihre eigene Zuständigkeit zu befinden, den Gang des Verfahrens und im Zweifel auch die passenden Rechtsnormen festzulegen“.4

Für Privatunternehmen ist das Verfahren attraktiv, weil sie damit ihre Investitionen schützen können. Dieses Motiv lag schon den zwischenstaatlichen Vereinbarungen zugrunde, die auf das Genfer Protokoll von 1923 zurückgehen.5 Seitdem entstand eine Vielzahl ausgefeilter Regelwerke, entwickelt von privaten Institutionen wie dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag, dem Internationalen Schiedsgerichtshof in London und der Internationalen Handelskammer in Paris.

Diese private Gerichtsbarkeit wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kaum genutzt. Das änderte sich, als die westlichen Nationen in der Periode der Entkolonialisierung (1950 bis 1960) mit den Regierungen der unabhängig gewordenen Staaten Freihandelsabkommen schlossen. Von den insgesamt 568 Klagen, die von der Einrichtung des ersten Schiedsgerichts bis 2013 eingereicht wurden, gingen allein 300 von europäischen Ländern aus.6

Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) Ende 1994 veränderte die Spielregeln. Seither geht es nicht mehr nur um die Angleichung von Zöllen, sondern um die Beseitigung der „nichttarifären Handelshemmnisse“, das heißt aller staatlichen Gesetze und Regelungen, die man als „überflüssige Wettbewerbshindernisse“ bezeichnet.

Die WTO-Regeln, die in allen Freihandelsabkommen zur Anwendung kommen, verpflichten Staaten, ausländische Investoren stets nach der Meistbegünstigungsklausel zu behandeln, also zu garantieren, dass mit keinem anderen in- oder ausländischen Investor günstigere Bedingungen vereinbart wurden. Das läuft darauf hinaus, private Investoren mit öffentlichen Betrieben oder Dienstleistern auf dieselbe Stufe zu stellen. Private Unternehmen müssen dieselben Konditionen angeboten bekommen wie öffentliche Betriebe, die im Gesundheitswesen, in Schule, Bildung und Kultur, in der Landwirtschaft oder dem Umweltschutz tätig sind.

Streitigkeiten über solche Fragen werden der staatlichen Gerichtsbarkeit entzogen und an Schiedsgerichte verwiesen. Von den 3200 bilateralen Investitionsabkommen, die derzeit in Kraft sind, enthalten 93 Prozent ein Kapitel, das den Weg zum Schiedsgericht ebnet.7

Angeblich garantieren Schiedsgerichte ein unabhängiges, diskretes, zügiges, kostengünstiges und am Ende rechtskräftiges Verfahren. Im Übrigen soll ein wirksamer Investorenschutz die jeweilige Volkswirtschaft attraktiver machen. Statt dieser Vorzüge sind bislang jedoch eher die problematischen Seiten erkennbar: Interessenkonflikte der Schiedsrichter, Fehlen verbindlicher Ethikregeln und mangelnde Transparenz, zumal wenn das Allgemeinwohl gefährdet ist.8

Auch von einem zügigen Verfahren kann nicht die Rede sein: Die Klagen von Philip Morris gegen Australien (2011 in Sachen Nichtraucherschutz), von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland (2012 in Sachen Atomausstieg), von Lone Pine Resources gegen Kanada (2013 in Sachen Fracking-Moratorium) und von Veolia gegen den ägyptischen Staat (2012 wegen der Erhöhung des Mindestlohns) waren bis Anfang 2016 noch nicht entschieden.9 Und bei einem durchschnittlichen Stundensatz von 1000 Dollar pro Schiedsrichter sind die Verfahren auch keineswegs kostengünstig.

Am gravierendsten ist aber, dass gerade die rechtliche Verbindlichkeit der Schiedssprüche der Willkür Tür und Tor öffnen, denn diese können weder wegen Rechtsfehlern noch wegen falscher Tatsachenbehauptungen angefochten und korrigiert werden.

Was Wunder, dass 60 Prozent der ISDS-Verfahren mit einem Urteil zugunsten der Privatunternehmen enden. Die Logik ist einfach, erläutert Howard Mann: „Im Grunde gewinnen die Staaten nie – sie können bestenfalls nicht verlieren. Denn nur private Investoren erhalten Schadenersatz auf entgangene Gewinne; Staaten werden höchstens für entstandene Kosten entschädigt.“10

Auch mit der Attraktivität für ausländische Investitionen ist es nicht weit her: Nach Weltbank und Unctad-Statistiken führen die mit Schiedsgerichten bewehrten Freihandelsverträge nicht zu mehr Investitionen in den entsprechenden Ländern. Und von einer Abwanderung der Unternehmen aus Ländern ohne diesen speziellen Investorenschutz ist auch nicht viel zu spüren.11

1 Siehe dazu das TTIP-Dossier in Le Monde diplomatique, Juni 2014.

2 Siehe den Beitrag „Kommission schlägt Investitionsgerichtsbarkeit für TTIP und andere EU-Handels- und Investitionsabkommen vor“: europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5651_de.htm.

3 Siehe Raoul Marc Jennar, „Vorsicht, Tisa!“ Le Monde diplomatique, September 2014.

4 Emmanuel Gaillard, „Aspects philosophiques du droit de l’arbitrage international“, Académie de droit international, Den Haag 2008.

5 Zu nennen sind außerdem das Genfer Protokoll von 1923, die New Yorker Konvention von 1958 und die Genfer Konvention von 1961.

6 Elvire Fabry, Giorgio Garbasso, „ISDS in TTIP: the devil is in the details“, Policy Paper des Instituts Jacques Delors, Paris/Berlin, 16. Januar 2015, S. 10 und 15, www.institutdelors.eu/media/ttipisds-fabrygarbasso-nejdi-jan15.pdf?pdf=ok.

7 Siehe Anmerkung 6, S. 4, Fußnote 5.

8 Siehe auch „Investment policy framework for sustainable development“, Unctad (Genf) 2012, unctad.org/en/PublicationsLibrary/diaepcb2012d5_en.pdf.

9 Siehe auch Benoît Bréville und Martine Bulard, „Profit als höchstes Rechtsgut“, Le Monde diplomatique, Juni 2014.

10 Howard Mann, „ISDS : Who wins more, investors or states ?“ Investment Treaty News, June 2015, www.iisd.org/itn/wp-content/uploads/2015/06/itn-breaking-news-june-2015-isds-who-wins-more-investors-or-state.pdf.

11 Elvire Fabry, Giorgio Garbasso, „ISDS in TTIP: the devil is in the details“, Policy Paper des Instituts Jacques Delors, Paris/Berlin, 16. Januar 2015, S. 13–14.

Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke

Maude Barlow ist Präsidentin des Council of Canadiens (canadiens.org) und Verfasserin des Berichts „Fighting TTIP, CETA and ISDS: Lessons from Canada“. Raoul M. Jennar ist Publizist und Autor des Buchs „Le Grand Marché transatlantique. La menace sur les peuples d’Europe“, Perpignan (Cap Bear Editions) 2014.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2016, von Maude Barlow und Raoul Marc Jennar