Der IS und das Wasser
Im Irak und in Syrien kontrollieren die Dschihadisten strategisch wichtige Staudämme – und besitzen damit eine mächtige Waffe
von Tobias von Lossow
Am 7. August 2014 eroberte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tigris-Talsperre bei Mossul, die größte und wichtigste Wasserkraftanlage des Irak. Damals wurde befürchtet, die zu allem entschlossene Miliz könnte den ohnehin maroden Damm sprengen oder bersten lassen. Das hätte eine bis zu 20 Meter hohe Flutwelle ausgelöst, die Mossul buchstäblich fortgespült und das 200 Kilometer flussabwärts liegende Bagdad immer noch fünf Meter unter Wasser gesetzt hätte. Für die Bevölkerung der beiden Städte und entlang des Flusses, aber auch für den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortbestand des Irak wäre dies eine unvorstellbare Katastrophe gewesen.1
Damals konnten kurdische Kämpfer, mit massiver Luftunterstützung der USA, die Anlage nach einer Woche zurückerobern. Dennoch blieb dieses Ereignis der bedrohliche Höhepunkt einer dramatischen Entwicklung: Der IS kontrolliert wichtige Wasservorkommen und Teile der Wasserinfrastruktur in Syrien und im Irak und setzt diese systematisch als strategische Waffe ein.2
Die Einnahme der großen Dämme und Staubecken an Euphrat und Tigris (siehe Karte) war und ist für den IS ein wesentlicher Teil seiner Expansionsstrategie, weil er damit die wichtigsten Süßwasserressourcen der Region wirksam steuern und zudem die Stromversorgung und Nahrungsmittelsituation beeinflussen kann.
Insbesondere ab 2014 hat die Miliz immer wieder auf die „Waffe“ Wasser gesetzt, um politische und militärische Ziele zu erreichen. Wer die Talsperren unter Kontrolle hat, ist in der Lage, auch entfernte Gebiete am Unterlauf der beiden Flüsse gezielt zu schädigen, ohne sie erobern oder besetzen zu müssen. Der IS hat durch Aufstauen und Zurückhalten von Wasser wiederholt versucht, den landwirtschaftlich wichtigen Südosten des Irak zu schädigen und damit die Nahrungssicherheit des Landes zu gefährden.
Doch in erster Linie wird Wasser als Waffe gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen eingesetzt, die entweder vertrieben oder der IS-Herrschaft unterworfen werden sollen. Das gilt vor allem für schiitisch dominierte Gebiete, aber auch für Regionen, deren sunnitische Bewohner den Kampf der Regierung in Bagdad gegen den IS unterstützen. Zudem kann Wasser auch als militärtaktisches Mittel dienen, etwa um die Truppen der Gegenseite von der Wasserzufuhr abzuschneiden.
Der IS instrumentalisiert Wasser ganz konkret auf dreierlei Art und Weise: durch Unterbrechung der Wasserzufuhr, die Überflutung von Landstrichen und die Verunreinigung von Wasserquellen. Die Dschihadisten haben bereits zahlreiche Dörfer und Gemeinden, aber auch Städte und ganze Provinzen „trockengelegt“, indem sie die Wasserversorgung gekappt und Wasser aufgestaut oder umgeleitet haben. So wurde im Sommer 2014 die mehrheitlich von Christen bewohnte irakische Stadt Karakosch nahe Mossul tagelang von der Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten, zusätzlich wurden die Handelswege nach außen blockiert. Zehntausende wurden damals gezwungen, die Stadt zu verlassen.
Nach der Eroberung der Talsperre bei Ramadi reduzierten die IS-Kämpfer den Wasserabfluss des Euphrat Anfang Juni 2015 phasenweise um bis zu 50 Prozent, wodurch die Wasserversorgung in den Provinzen Babel, Kerbela, Nadschaf, Kadisiya und vor allem Anbar drastisch eingeschränkt wurde. Diese Maßnahme brachte der Miliz aber auch einen militärischen Vorteil: Bei Niedrigwasser konnten die IS-Einheiten den Fluss unterhalb der Staumauer leicht überqueren und irakische Stellungen am gegenüberliegenden Euphrat-Ufer angreifen.3
Was man mit einer Überflutung anrichten kann, demonstrierte der IS im April 2014 nach der Eroberung des Falludscha-Damms. Die Dschihadisten machten alle Schleusen dicht, erhöhten damit den Pegel oberhalb der Staumauer und leiteten das aufgestaute Wasser über einen Seitenkanal ins Umland. Damals wurden weite Flächen in bis zu 100 Kilometer Entfernung überflutet; die Stadt Abu Ghraib stand stellenweise vier Meter unter Wasser. Insgesamt wurden 10 000 Häuser zerstört, 200 Quadratkilometer Ackerland überschwemmt, ein Großteil der Ernte und des Viehbestands vernichtet. Schätzungen zufolge verloren 60 000 Menschen ihre Existenzgrundlage. Zugleich diente die gezielte Überflutung dem militärischen Zweck, Stellungen der irakischen Armee an den Ufern unter Wasser zu setzen und den Vormarsch nachrückender feindlicher Einheiten zu stoppen.4
Gezielte Überflutungen und vergiftete Brunnen
Zu den IS-Methoden gehört auch die Vergiftung von Wasser. Die Organisation hat mehrfach – etwa in Aleppo, Deir al-Sor und Rakka sowie in weiteren kleineren Städten und Gemeinden in Syrien und im Irak – Wasserquellen kontaminiert; in den meisten Fällen mit Rohöl. Diese vergleichsweise einfache Methode, Wasser als Waffe einzusetzen, lässt sich zudem leicht exportieren und auch außerhalb der umkämpften Gebiete im Irak und in Syrien einsetzen. So wurde im Juli 2015 ein Versuch des IS, den wichtigsten Wasserspeicher in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina zu verseuchen, erst im letzten Moment verhindert.
Dass Wasser in Konflikten aus taktischen und strategischen Gesichtspunkten als Waffe eingesetzt wird, ist nicht neu. Im Ersten Weltkrieg flutete Belgien die Yser-Ebene, um die mit schwerem Kriegsgerät ausgestatteten deutschen Angreifer am Vorrücken zu hindern. Auch im heutigen Syrien ist der IS nicht der einzige Akteur, der Wasser für seine Zwecke instrumentalisiert. So haben in Aleppo verschiedene Bürgerkriegsparteien mehrfach „gegnerische Viertel“ von der Wasserversorgung abgeschnitten. Dies führte im Sommer 2014 dazu, dass viele Menschen verdrecktes Wasser aus Pfützen und verseuchten Brunnen trinken mussten.5
Was den IS allerdings von anderen Gruppen in Syrien und historischen Vorläufern unterscheidet, ist der konsequente, systematische und zugleich flexible Einsatz von Wasser als Waffe, wofür die oben geschilderte Praxis am Falludscha-Damm im April 2014 das beste Beispiel ist. Die Dschihadisten haben eine Kombination aus Überflutungen und Verknappungen auf wirksame und einschüchternde Weise genutzt, um ihren politischen und militärischen Machtwillen zu demonstrieren.
Allerdings steht der IS spätestens seit der Ausrufung des Kalifats im Juni 2014 vor einem strategischen Dilemma. Denn der Aufbau eines Quasistaats erfordert eine Grundversorgung der Bevölkerung und der Kämpfer mit staatlichen Dienstleistungen, einschließlich der Versorgung mit Wasser und Strom. Solche Leistungen machen es auch leichter, neue Kämpfer zu rekrutieren und eine Bevölkerung für sich einzunehmen, die häufig seit Jahren nicht verlässlich mit Wasser und Strom versorgt wurde.
Durch eine solche Grundversorgung kann die Organisation zudem Einnahmen erzielen. So kassiert die IS-Obrigkeit in ihrer „Hauptstadt“ Rakka von den Geschäftsleuten Wasser- und Stromgebühren.6 Und einigen Dörfern, die zunächst durch die Miliz von der Versorgung abgeschnitten wurden, hat sie angeboten, die Wasserversorgung gegen Bezahlung wieder aufzunehmen.
Dem erklärten Ziel, auf dem eroberten Territorium staatsähnliche Strukturen zu errichten, würden eine massive und anhaltende Zerstörung der ohnehin rudimentären Infrastruktur zuwiderlaufen. Deshalb ist die Waffe Wasser für den IS nur noch begrenzt einsetzbar. Dennoch stellt seine Kontrolle über die wichtigsten Wasserressourcen der Region – also ihr potenzieller Einsatz als Waffe – nach wie vor ein enormes Drohpotenzial dar. Das lässt sich mit der Abschreckungsfunktion von Atomwaffen vergleichen, die bekanntlich weit wichtiger ist als eine „reale“ Einsatzoption.
Die Kontrolle über die Wasserressourcen ist für den IS folglich von herausragender Bedeutung. Das erklärt auch, warum die Anti-IS-Koalition von Anfang an enorme Anstrengungen unternommen hat, um die Kontrolle über die „strategischen“ Großdämme in Syrien und im Irak zurückzugewinnen. Neben dem im August 2014 zurückeroberten Mossul-Damm ist auch die Euphrat-Talsperre bei Haditha – die zweitwichtigste im Irak – stark umkämpft. Seit fast zwei Jahren wird die Anlage vom IS belagert. Nur mithilfe intensiver Bombardierungen der Anti-IS-Koalition konnte die irakische Armee mehrere Offensiven und eine Reihe von Selbstmordanschlägen der Dschihadisten abwehren. Und Ende Dezember gelang es kurdischen Verbänden zusammen mit oppositionellen Kräften in Syrien und mit US-amerikanischer Luftunterstützung, den Tischrin-Staudamm im Norden des Landes zurückzuerobern.
Dieser Erfolg war strategisch in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Erstens lief über die Dammkrone eine wichtige Versorgungsroute des IS, die deren Kommandozentrale in Rakka mit dem wichtigen Außenposten Dscharabulus verband. Zweitens ist der Tischrin-Damm der nördlichste, also am weitesten flussaufwärts gelegene Staudamm am Euphrat. Und drittens ist die Anlage für Syrien besonders bedeutsam, weil sie einen Großteil der Wasser- und Stromversorgung von Aleppo reguliert.7
Neben seinen Bemühungen, den Tischrin-Damm zurückzuerobern und die Haditha-Talsperre einzunehmen, hat der IS in letzter Zeit Angriffe auf weitere Anlagen gestartet, etwa auf das Tigris-Stauwehr bei Samarra, knapp 300 Kilometer südlich des Mossul-Damms. Auch das macht deutlich, welchen Stellenwert die Anlagen für den IS nach wie vor haben. Häufig werden dabei ganze Staffeln von Selbstmordattentätern eingesetzt, die sich den Weg von den Außenposten bis zum Zentrum der Anlagen regelrecht freisprengen.
Da es gegen solche Anschläge kaum ein Mittel gibt, stellt sich die Frage, wie die Anlagen nach ihrer Rückeroberung langfristig besser gesichert werden können. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi verkündete Mitte Dezember, Italien werde auf Bitten der USA 450 Soldaten zur Bewachung des Mossul-Damms entsenden, die auch die notwendigen umfangreichen Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten an der Talsperre absichern sollten. Ein Auftrag über erste Notfallreparaturmaßnahmen im Wert von mindestens 200 Millionen US-Dollar ging an die italienische Trevi-Gruppe, die an die 600 Arbeiter in den Irak schicken wird.8
Die Entsendung von Soldaten zur Sicherung der Staudämme erhöht allerdings auch das Anschlagsrisiko, da das ausländische Militärpersonal aus IS-Sicht ein höchst attraktives Ziel darstellt. Es wird daher weiterhin nötig sein, die Logistik und die Operationsbasis des IS in der Umgebung der Dämme aus der Luft zu zerstören, um schon die Vorbereitung von Anschlägen und Offensiven zu unterbinden.
Die nach den Anschlägen von Paris intensivierten Militärschläge der Anti-IS-Koalition zeigen erste Wirkung. Seit Januar 2016 soll der IS bis zu 30 Prozent seines Territoriums in Syrien und im Irak verloren haben. Besonders die Rückeroberung der Stadt Ramadi durch die irakische Armee Ende Dezember war ein strategisch und symbolisch wichtiger Erfolg.
Sollte der IS einmal so weit zurückgedrängt werden, dass er das Kalifat nicht aufrechterhalten kann, würde gemäß seiner eigenen Ideologie die Apokalypse unmittelbar bevorstehen. Im Rahmen einer solchen finalen Schlacht würde jedoch auch das Risiko steigen, dass die Miliz vermehrt auf die Waffe Wasser setzt. Sie könnte dann womöglich – wie im April 2014 am Falludscha-Damm – großflächige Überflutungen auslösen, weil sie eine dauerhafte zivile Nutzung der Wasserressourcen für ihr Staatsbildungsprojekt dann gar nicht mehr anstrebt.
Sollte der IS einen Damm sprengen oder alle Schleusen gleichzeitig öffnen, würde einigen Regionen eine veritable Sintflut drohen. Ein solches Szenario hatte der IS bereits im Juli 2014 in seiner Propagandapostille Dabiq angedroht.9 Auf der Titelseite war dort zu lesen: „It’s either the Islamic State or the flood.“
1 Siehe „Mosul Dam: Why the battle for water matters in Iraq“, BBC News, 18. August 2014.
5 Siehe „‚Water war’ threatens Syria lifeline“,al-Dschasira, 7. Juli 2014.
7 Siehe „Syrian Kurds take strategic dam from ‚Islamic State‘“, Deutsche Welle, 26. Dezember 2015.
8 Siehe „Neglect May Do What ISIS Didn’t: Breach Iraqi Dam“, New York Times, 10. Januar 2016.
Tobias von Lossow arbeitet in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
© Le Monde diplomatique, Berlin