Treibstoff für Benin
Hunderttausende leben vom Benzinschmuggel aus dem Nachbarland Nigeria
von Sabine Cessou
Die Straßen von Cotonou und Porto-Novo, den beiden größten Städten Benins, sind gesäumt mit Holztischen, auf denen grün schimmernde Ballonflaschen stehen. In ihnen wird Schmuggelbenzin aus dem Nachbarland Nigeria, das kpayo, verkauft. In Goungbe, einer der Nationalsprachen Benins, bedeutet kpayo „unecht“ oder „Ersatz“. Für tausende Bürger Benins bedeutet es die einzige Hoffnung, etwas Geld zu verdienen. Kpayo gelangt illegal über die 770 Kilometer lange, durchlässige Grenze zwischen dem kleinen Benin mit seinen 10 Millionen Einwohnern und Nigeria, dem Riesen Westafrikas, mit 177 Millionen Einwohnern.
Die Brüder Achille und Marcel, 21 und 17 Jahre alt, haben ihren Stand an einem Boulevard im Stadtviertel Dantokpa, gleich neben dem größten Markt von Cotonou, der sich über 20 Hektar ausbreitet. Mit Gartenschläuchen und Plastiktrichtern gießen sie das Benzin vorsichtig um und atmen dabei die giftigen Dämpfe ein. Langsam fließt die kupferbraune Flüssigkeit aus gelben Kanistern in große Glasballons oder leere Schnapsflaschen. Achille hat Abitur, Marcel geht noch zur Schule und hilft abends nach den Hausaufgaben mit. Ihre Mutter ist Krankenschwester und zieht allein vier Kinder groß. „Wir müssen der Familie helfen. Ein Uni-Abschluss nützt nichts“, erklärt Achille. „Arbeit findest du hier nur, wenn du die richtigen Beziehungen hast.“
An ihrem Stand verkaufen sie 1000 bis 2000 Liter im Monat. An einem Liter verdienen sie 100 CFA-Franc (0,15 Euro). Damit kommen sie auf 150 bis 300 Euro monatlich, deutlich mehr als das auf 60 Euro im Monat gedeckelte Einkommen eines Beamten. Wie die anderen vielleicht 200 000 Kpayo-Verkäufer – wie viele es genau sind, weiß niemand – nehmen auch die Brüder einige Risiken in Kauf.
Das erste Risiko sind die starken Preisschwankungen. Die Preise für Kpayo haben sich von Mai bis August 2015 auf 650 CFA-Franc pro Liter (1 Euro) nahezu verdoppelt. Grund war der Preisanstieg auf dem nigerianischen Markt wegen der hohen Schulden des Staates bei den Ölkonzernen und der unsicheren Lage nach den Präsidentschaftswahlen Ende März 2015. Mit diesem Preis war Kpayogegenüber dem legalen Benzin, das von einem halben Dutzend Ölkonzernen aus verschiedenen Ländern eingeführt und für 570 CFA-Franc an den Tankstellen verkauft wurde, plötzlich nicht mehr konkurrenzfähig. Der Straßenhandel ging trotzdem weiter, aber ohne Gewinn für die Händler.
Da in Benin der Schwarzmarkt mit Benzin blüht, ist das offizielle Tankstellennetz mit seinen 350 Zapfsäulen viel weniger entwickelt als in den benachbarten Ländern Togo, Ghana oder Elfenbeinküste. Nach Schätzungen der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) werden in Benin fast 80 Prozent des Treibstoffbedarfs über den Schwarzmarkt gedeckt.1 Im September 2015 ist der Preis für den Liter Kpayo wieder auf 300 bis 350 CFA-Franc (0,50 Euro) gesunken, das sind 30 bis 40 Prozent weniger als an der Zapfsäule.
Nigeria, elftgrößter Erdölproduzent der Welt, streitet mit Südafrika um den Titel der Wirtschaftslokomotive des Kontinents. 2012 hat die Regierung versucht, die Benzinsubventionen zu senken – und ist damit gescheitert. Nigeria liegt auf Platz 164 (von 198) beim Human Development Index (HDI) des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), seine Bevölkerung gehört immer noch zu den ärmsten der Welt. Sobald der Benzinpreis steigt, kommt es in der Wirtschaftshauptstadt Lagos zu Unruhen. Zur Verknappung kommt es auch, wenn die Unternehmen, wie im Mai letzten Jahres, ihre Vorräte zurückhalten, um die Regierung unter Druck zu setzen.
Kpayo kauft man flaschenweise
Jede Veränderung dieser Art wirkt sich sofort auf den Preis des Kpayo in Benin aus. Abgesehen vom Benzinschmuggel – mit dem angeblich mehr als 122 Millionen Euro Umsatz pro Jahr gemacht werden, weshalb dem Staat mindestens 30 Millionen Euro Steuern entgehen2 – beruht die Wirtschaft des Landes vor allem auf Baumwolle und Agrarprodukten (36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Die beiden ebenfalls wichtigen Wirtschaftszweige Handel (18 Prozent) und Transportwesen (11 Prozent) sind von ihrem Hauptpartner Nigeria abhängig. Für die 120 Kilometer entfernte Megacity Lagos ist der Hafen von Cotonou ein zweiter Zugang zum Meer.
Eine weitere, manchmal tödliche Gefahr für die Straßenverkäufer ist das Feuer. Am Ende einer Verfolgungsjagd zwischen der Polizei und einem mit Kpayo beladenen Laster gerieten am 31. Oktober Teile des Markts von Dantokpa in Brand. Die Stände am Straßenrand können jederzeit Feuer fangen, wenn ein Auto oder Motorrad bei laufendem Motor den Tank auffüllt. Es genügt, dass ein Tropfen Benzin auf eine Zündkerze fällt, und alles geht in Flammen auf. „Unsere schlecht ausgestatteten Ärzte müssen oft entsetzliche Verletzungen behandeln, Verbrennungen dritten Grades“, erklärt der frühere Gesundheitsminister Kessilé Tchala.
Die ganze Nacht hindurch bedienen die Verkäufer, zum Teil Kinder oder Frauen mit Baby auf dem Rücken, ihre Kunden. Die meisten davon sind Motorradfahrer, die bis zu vier Leute mitnehmen. Die 150 000 Motorradtaxis, zémidjans, die allein in Cotonou unterwegs sind, wo es keine öffentlichen Busse und Bahnen gibt, sind hier das praktischste Transportmittel. Sie bilden einen weiteren Sektor der informellen Ökonomie, ohne die man in Benin keinerlei Arbeit finden würde. Wie überall in Westafrika ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch: 60 Prozent der 25- bis 34-Jährigen sind ohne Job.
Aufgrund der demografischen Entwicklung kommen jedes Jahr immer noch mehr junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Sie fliehen vor dem Elend auf dem Land, wo fast 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, in den Städten sind es 31 Prozent. Deshalb hat sich die Einwohnerzahl im Großraum Cotonou innerhalb von dreißig Jahren vervierfacht, heute drängen sich 16 Prozent der Einwohner auf knapp 0,7 Prozent des Staatsgebiets.3
Nicéphore Soglo, Bürgermeister der Hauptstadt und Expräsident von Benin, vergleicht das große Kommen und Gehen in Cotonou mit der Regelmäßigkeit von Atemzügen: „Nachts hat Cotonou eine Million Einwohner. Tagsüber ist es das Doppelte oder Dreifache, sie kommen sogar aus Nigeria, um hier Geschäfte zu machen. Jeden Abend leert sich die Stadt wieder, dann füllen sich die Schlafstädte, bis nach Porto-Novo und Ouida, die rund 40 Kilometer entfernt sind.“
Über Mittag lebt die Stadt im go-slow, ursprünglich eine Bezeichnung für die ewigen Staus in der Nachbarmetropole Lagos. Zwar wurde mit diversen Maßnahmen versucht, den Verkehr der Motorradtaxis besser zu organisieren, und die Französische Entwicklungsagentur (AFD) hat sogar ein Programm zur Erneuerung der Fahrzeuge finanziert, um die Umweltbelastung zu vermindern. Doch an Kredite für die Fahrer, die sich kein neues Motorrad leisten können, hat niemand gedacht.
Die Regierung macht mit
Was das Kpayo angeht, kann Bürgermeister Soglo nur die Machtlosigkeit des Staats konstatieren: „Die Nähe zu Nigeria erschwert die Kontrolle des informellen Handels. Ohne einen regionalen Politikansatz werden wir keine Lösung finden.“
Tatsächlich profitieren nicht nur die Straßenverkäufer vom Schmuggel. Zu den Großhändlern, die sie beliefern, zählen auch bekannte Geschäftsleute oder Politiker. Sie haben das Geld, um Kpayo in großen Mengen zu kaufen und zu lagern. Nachdem sie ihre Prozente draufgeschlagen haben, verkaufen sie es an die Straßenhändler weiter. Auch die Zöllner an den Grenzposten sehen zu, dass sie auf ihre Kosten kommen, und verlangen für jeden 50-Liter-Kanister eine vergleichsweise bescheidene „Steuer“ von 100 CFA-Franc (0,15 Euro), die natürlich in ihrer Tasche verschwindet. Die offizielle Benzinsteuer liegt mit 25 Prozent deutlich höher.
Benin stellt sich gern als ein Musterland dar. Das einstige „Quartier Latin“ Afrikas galt in den 1990er Jahren als Vorreiter der Demokratisierung auf dem Kontinent. Seither gab es mehrere Machtwechsel. Doch hinter der demokratischen Fassade verbirgt sich ein schwacher Staat, dem es nicht gelingt, die Erdölversorgung des Landes zu reformieren. Nach der Beschlagnahme illegaler Benzinlager durch die Polizei kam es im Januar 2013 in der Stadt Sèmè-Kpodji zu Unruhen. Kpayo-Verkäufer kidnappten einen Polizisten, verprügelten seine Frau und leisteten der Armee gewaltsamen Widerstand. Über Nacht errichteten sie Barrikaden, und das Militär musste Verstärkung anfordern, um der Lage Herr zu werden. Seither hat die Regierung von Präsident Boni Yayi den Kampf gegen den illegalen Benzinhandel offenbar aufgegeben und toleriert den massiven, in aller Öffentlichkeit stattfindenden Schmuggel.
„Am Kpayo lässt sich ablesen, wie unser Land funktioniert“, erklärt der Beniner Politikwissenschaftler Gilles Olakounlé Yabi, Gründer des West African Citizen Think-Tank (Wathi) in Dakar. „Es illustriert die Beziehung zu Nigeria, die Bedeutung des informellen Sektors für die Wirtschaft, aber auch die paradoxe Rolle des Staats in einem demokratischen System.“
Im benachbarten Togo schaffte es die korrupte Militärdiktatur, den Kpayo-Schmuggel zu unterbinden. In Benin hat der Staat weder die finanziellen noch die Machtmittel für ein derartiges Durchgreifen. „Der Handel lässt sich einfach nicht reformieren“, weiß auch Yabi. „Wer will sich schon um die Tausenden Menschen kümmern, die direkt davon leben? Das eigentliche Problem besteht meiner Meinung nach darin, dass sich die Demokratie hier auf die Durchführung von Wahlen beschränkt. Davon abgesehen ist das System völlig verkommen und funktioniert ohne jeden Sinn für das Gemeinwohl.“
Der Schmuggel geht weiter, weil dabei alle auf ihre Kosten kommen und weil der informelle Sektor als Ventil unverzichtbar ist. Eine Austrocknung des Schwarzmarkts würde die politische und soziale Stabilität Benins gefährden. Wie in vielen anderen afrikanischen Staaten gelingt es auch in Benin nicht, den ökonomischen Zwängen zu begegnen und gleichzeitig die Auflagen der „guten Regierungsführung“ durch die internationalen Finanzinstitutionen zu erfüllen.
Eine Ursache für die Parallelwirtschaft liegt auch in bestimmten Vorstellungen vom Zusammenleben in der Gesellschaft: „Die Bereicherung mit allen Mitteln gilt weitgehend als legitim“, verrät ein Geschäftsmann, ohne seinen Namen zu nennen. Seit einigen Jahren berichten die Medien immer häufiger über Skandale. Zuletzt ging es um die Unterschlagung von 4 Millionen Euro, die als Hilfszahlung aus den Niederlanden eigentlich für Projekte der Wasserversorgung vorgesehen waren.
Die Korruption ist endemisch, viele dringende Projekte werden gar nicht erst in Angriff genommen. Alle bestehen darauf, ihren Anteil zu kassieren, bevor überhaupt ein Bau begonnen wird. Der neue internationale Flughafen von Cotonou wird seit zehn Jahren angekündigt. Gebaut wurde er nie, obwohl der gegenwärtige, mitten in der Stadt gelegene Flughafen extrem gefährlich ist. Auch die „Route des pêches“ entlang der Küste wurde bisher nicht asphaltiert, und auf die geplante Brücke, die den Verkehr in Porto-Novo entlasten soll, warten die Bürger vergeblich.
Gilles Yabi klagt über die ewige „Kpayo-Demokratie“, wie er sie nennt, also eine „Ersatzdemokratie“. In einem System, das keine klaren Grenzen zwischen staatlichem Handeln und informeller Ökonomie zieht, nehmen die Vertreter des Staats ihre eigentliche Aufgabe oft weniger ernst als ihre persönlichen Interessen.
Diese Verzerrung findet man auf allen Ebenen der Gesellschaft, sie ermuntert zur Umgehung von Regeln und der Jagd nach dem schnellen Profit. Die Straflosigkeit geht so weit, dass der Staat keinerlei Autorität mehr besitzt.
Im Juni 2015 ernannte Präsident Boni Yayi den als tatkräftig geltenden Lionel Zinsou zum Ministerpräsidenten, woraufhin Teile der städtischen Jugend Hoffnung schöpften. Denn dem ehemaligen französisch-beninischen Banker trauen sie zu, dass er neue Perspektiven für ihr Land entwickelt – und dass sie eines Tages vielleicht ihr Leben doch mit etwas anderem als Motorradtaxifahren oder Kpayo-Verkaufen bestreiten können.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Sabine Cessou ist freie Journalistin.