Lust auf eine gemeinsame Welt
Ein futuristischer Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit
von Ulrike Guérot, Robert Menasse
Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen wirklich? In der politischen Psychologie ist sogar die Schizophrenie normal: Ist der Bürger zu Hause, will er die Grenzen seines Staates bestens geschützt und schärfstens kontrolliert wissen. Begibt er sich aber auf Reisen, sollen die Grenzen möglichst durchlässig, ja am besten unsichtbar sein. Er will an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber er will, dass andere, die in sein Land kommen, an Grenzen aufgehalten und möglichst zurückgewiesen werden. Das Fremde will er am Zielort seiner Reise als „interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause empfindet er das Andere als Bedrohung „seiner Kultur“.
Der Bürger kann euphorisch werden, wenn Grenzen plötzlich verschwinden, wie es etwa beim Fall der Berliner Mauer war, überhaupt beim Fall des Eisernen Vorhangs, aber er will die Grenze wieder zurück, wenn Menschen von „drüben“ womöglich herüberwollen, auf seinen Arbeitsmarkt. Er selbst fährt „hinüber“, wenn er drüben billiger konsumieren kann, aber er versteht nicht, dass Menschen „herüber“wollen, um hier besser zu verdienen. Der besorgte Bürger kann, wenn es um seine Menschenrechte geht, fehlerfrei zitieren, dass sie „universal“ seien, gegenüber anderen aber will er sie als bloßes nationales Recht verteidigen.
Das ist gegenwärtige „Normalität“.
Historisch allerdings sind politische Grenzen alles andere als normal. Im Gegenteil: Das System der politischen Grenzen, die heute mehrheitlich als normal angesehen und wieder errichtet und verteidigt werden, ist die historische Ausnahme und wird in absehbarer Zeit auch wieder als kurzer historischer Sonderfall gesehen werden.
Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit sowie Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind die größte Errungenschaft des europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung historischer Normalität: Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
Selbst in den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei: Da gab es in der Regel Zollgrenzen, aber keine Reisegrenzen. In seinem Stück „Leonce und Lena“ machte sich Georg Büchner darüber lustig, wie viele Grenzen man in deutschen Landen bei einem Nachmittagsspaziergang überqueren konnte, ohne es zu merken.
Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg bis Prag, die heute nicht alle unbedingt innerhalb der Grenzen der heutigen Bundesrepublik liegen. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-, Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen waren in Europa wichtig und augenfällig, aber diese kulturellen Grenzen trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa.
Selbst topografische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht, einheitliche Kulturräume zu trennen: Die Basken leben südlich und nördlich der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners. Der Rhein wiederum entwickelte sich nie zur nationalen Grenze Frankreichs. Sprach- und Religionsgrenzen teilten und teilen Deutschland, ohne je zu politischen Grenzen zu werden. Gleichzeitig konnte man auf Schienen, die Hunderte von Kilometer lang grenzenlos waren, vom Habsburger Herzland durch Böhmen und Mähren nach Galizien fahren.
Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn man die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.
Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider vergessen) ist die Präambel, die der Völkerbund der Definition eines international anerkannten Passes voranstellte, nämlich dass die Einführung des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to pre-war conditions which the conference hopes to see gradually re-established in the near future“.1
Globales Nomadentum nicht nur für Konzerne
Die heutige grenzenlose „Schengen-Zone“ als historische Einmaligkeit, als geradezu revolutionäre Errungenschaft der jüngeren europäischen Integrationsgeschichte zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil: Die Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben.
Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie dieser europäische Raum mit der Flüchtlingsfrage umgehen kann – und sollte.
Würden die Europäer die europäische Geschichte kennen und nicht bloß das, was sie kennen, für normal halten, dann hätten sie selbstverständlich diesen Wunsch: den jahrhundertelangen historischen Normalzustand von Grenzenlosigkeit in Europa wieder zu errichten, der erst durch die zwei Weltkriege, den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ Europas, im 20. Jahrhundert brutal und blutig zerstört wurde. Genau davon aber entfernt sich die EU heute in rasantem Tempo, und zwar nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise, die zum Anlass genommen wird, wieder an das finsterste Kapitel der Geschichte der europäischen Neuzeit anzuschließen: durch Grenzkontrollen, Grenzsperren, gar durch Bau von Zäunen und Mauern innerhalb Europas.
Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war, Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden. Das hat viele Gründe: Die gegenwärtigen politischen Eliten sind zu jung, um die Gründungsabsicht des europäischen Projekts mitbekommen zu haben, aber sie sind zu alt, um sich etwas anderes vorstellen zu können als das Gewohnte, das nationale System, in dem sie ihre Karrieren gemacht haben. Irgendwie wissen sie oder wird ihnen gesagt, dass ein vollständiges Scheitern der Union zu schwerem ökonomischem Schaden führen würde – für ihre jeweilige Nationalökonomie. Bei allem anderen aber könne und müsse man bei Bedarf wieder Abstriche machen. Und was sie definitiv wissen, ist, dass sie nur in nationalen Wahlen gewählt werden, weshalb sie die Fiktion nationaler Interessen aufrechterhalten müssen, um Zustimmung der Wähler zu ihren Ämtern, allerdings nicht zum europäischen Projekt, zu organisieren.
„So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“, so eröffnete der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans zu Beginn des Jahres die niederländische Ratspräsidentschaft. Das spricht für nicht viel Ehrgeiz bei der nationalen Grenzüberwindung, gar vom Fernziel einer Auflösung nationaler Grenzen, von dem die Gründungsväter der EWG, Jean Monnet oder Walter Hallstein, noch geträumt hatten.
Die Flüchtlinge nun verschärfen auf eigentümliche Art diese nationale Regression. Wo eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in Sicht ist – weder bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa noch, wenigstens, bei der gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen, wie jetzt vielfach gefordert – und wo auch eine gemeinsame und kohärente europäische Außenpolitik auf sich warten lässt, bleibt nur die Flucht in den nationalen Rückzug, die aber de facto nur denjenigen europäischen Staaten möglich ist, die keine EU-Außengrenze haben, also zum Beispiel Dänemark.
Aber Griechenland, Italien oder die Länder auf der Balkanroute – ob EU oder nicht – haben keine Wahl: Sie werden von Flüchtlingen überrannt, ganz egal, was sie tun, um das zu verhindern – denn solange die EU sich nicht entschließt, Stacheldraht auf Mittelmeerstränden zu verlegen oder Flüchtlingsboote mit Waffengewalt abzuwehren, kann ihre Wassergrenze nach Süden gar nicht „geschützt“ werden: Die EU kann sich nicht vom Mittelmeer abschneiden, das übrigens als mare nostrum kulturgeschichtlich das europäische Meer schlechthin ist – und von dessen Handelsrouten sich die EU keinesfalls abschneiden will.
Die Frage ist heute also, wie man in Zukunft organisatorisch damit umgehen will, dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber nicht für Menschen. Die Tatsache, dass durch die bereits stattgefundenen und weiter zu erwartenden Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt zum Beispiel auch der Lkw-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen (und bedroht) sein könnten und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, weiter, dass Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn Lkws eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles dämmert inzwischen den Wirtschaftsministern der Nationalstaaten.
Aber eine Grenze, die für Lkws offen, für Flüchtlinge indes geschlossen ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen, mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen.
Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Misere. Die USA, Australien oder Kanada, die jeweils nur rund 10 000 Flüchtlingen pro Jahr Asyl gewähren wollen, haben de facto die Genfer Flüchtlingskonvention aufgekündigt: nämlich dass sich die Staatenwelt gemeinsam um die Flüchtlinge kümmert und dass jeder Flüchtling einen Anspruch auf Asyl hat.
Gleichzeitig wird deutlich, dass Asyl- und Bürgerrechte in Zukunft immer mehr miteinander verschmelzen werden: Aus Bürgerrechten ergeben sich soziale Anspruchsrechte für Staatsbürger; aus dem Asylrecht menschliche Grundrechte auf Aufnahme und Versorgung jenseits von Staatsbürgerschaft, und beides fällt immer mehr zusammen: Jeder hat ein Recht auf Heimat und Sicherheit. In Zeiten des globalen Nomadentums und der notwendigen Suche nach einer neuen Heimat für viele heißt die entscheidende Frage daher: Wie kann man diesen Prozess friedlich und für alle menschengerecht organisieren?
Die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray prägte den Begriff „Welt teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen „Weltgastrechts“, das davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen.2 Gegenüber diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale Daseinsberechtigung für Menschen definieren. In der Zukunft wird es darum gehen müssen, exterritoriale Demokratie zu organisieren und den Anspruch der Menschenrechtsdeklaration einzulösen: dass die Anerkennung der Menschenrechte nicht abhängig von bestimmter „Staatsbürgerschaft“ ist.
Die angekündigte Klimakatastrophe, mit allen Folgen der globalen Bodenverknappung, wird die Nationalstaaten noch stärker unter Druck setzen: Das Insistieren auf territorialer Staatlichkeit, als Privileg, innerhalb von staatlichen Grenzen Grund und Boden für die eigenen Staatsbürger (und für Millionäre, die sich einkaufen) zu reservieren, wird nicht durchzuhalten sein. Das gilt auch für den europäischen Raum. Es geht also um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von permanenter Migration.
Jeder Mensch muss also in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will, zumal die globalisierte Welt ohnehin für alles andere außer für Menschen schon ein einziges System der Vernetzung, der Durchlässigkeit und der Grenzenlosigkeit ist: von Pipelines über Breitband, vom Highspeed-Handel der Finanzmärkte bis hin zu den supply chaines der Warenprodukte funktioniert alles de facto schon längst unbehindert von nationalen Grenzen. Diese Tatsache in einem neuen politisch-institutionellen System abzubilden, ist jetzt die Herausforderung. Es geht also darum, die vielfältige und vielschichtige globale Vernetzung politisch auszugestalten, anstatt nationale Reviere abzugrenzen, die sich mit der Kant’schen Logik nicht begründen lassen.
Es geht um einen Verbund von Heimaten: Im Verbund inbegriffen sind Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung; normative Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder hat teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine ein. Es geht um die freie Organisation von Otherness in verbindlichem Rechtszustand, in den Worten von Luce Irigaray, das heißt, um die neuartige Ausgestaltung eines direkten Konnexes zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits von Staaten und mithin um eine Verschmelzung von Asyl- und Menschenrechten. Dabei entsteht ein grenzenloser Transitraum.
Europäisch wäre künftig nicht die Rettung völkischer Homogenität durch homogene Völker, sondern europäisch wäre die Auflösung der Grenze als Grenze des Homogenen. Geschaffen wird damit ein gigantischer Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen. Ein solches Nebeneinander wäre indes ein Konzept, das nicht auf Integration, sondern zunächst auf Segregation beruht.
Warum nicht Neu-Kundus, so wie Little Italy oder Chinatown
Segregation ist auch eine Form von Toleranz, lehrt uns die Soziologie. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir gegenwärtig machen, müssen wir die Frage stellen, ob die derzeit auf Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik der EU, die das Risiko großer gesellschaftlicher Unruhe in Europa birgt, die richtige Strategie ist.
Werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: Was haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche ...? Sie haben dort ihre Städte neu gebaut.
Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hampshire, New Hamburg und so weiter. Die Italiener haben in Little Italy in New York ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen Sprachkurs oder gar eine „Leitkultur“ verpflichtet. Die europäischen Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort ihre alte Heimat nachgebaut. Daraus können wir lernen.
Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt. Damit würde man einen Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen schaffen. So entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die afghanischen Flüchtlinge oder Neu-Enugu oder Neu-Ondo für die nigerianischen Flüchtlinge.
Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr für Neuankömmlinge aufzubauen. Wir stressen uns nicht mit Integration. Wir pferchen die Flüchtlinge nicht in unsere – teilweise heruntergekommenen – Vororte oder in unsere – teilweise zersiedelten und verödeten – Landschaften im ländlichen Niemandsland. Wir konzentrieren sie nicht da und dort in Heimen, die abzufackeln das Herz nationaler Patrioten wärmt. Wir spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer eigenen Gesellschaft aus. Wir reiben uns nicht aneinander und nicht gegeneinander auf. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit allein.
Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle.
Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also angebunden an Infrastruktur – Energie, ICT, Transport –, das aber ansonsten frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den Flüchtlingen als Starthilfe. Da Städtebau nicht so schnell geht, hilft Europa, unterstützt durch den UNHCR, zunächst mit Behelfsbehausungen, also genau solchen Wohncontainern, die auch jetzt bereitgestellt werden.
Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt.
Wer einmal ein neues Zuhause hat, will bleiben. Die Sorge, man hätte dann streunende Horden von Flüchtlingen auf europäischen Straßen, vor denen man (beziehungsweise eher frau) sich permanent schützen müsste, dürfte dann mehr eine fehlgeleitete Annahme sein. Kurz: Es geht um ein buntes Europa, ein respektvolles Nebeneinander, einen Verbund von Andersartigkeit unter gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt.
Im Laufe der Zeit würden sich die Bewohner der verschiedenen Städte auf ganz natürliche Art und Weise mischen. Die Neuankömmlinge würden in die nahe gelegenen „europäischen“ Städte zur Arbeit pilgern. Oder sie machen dort ihre Boutiquen auf, treiben Handel mit dem, was sie herstellen. Niemand bräuchte Asylgeld. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten. Dann kommen die ersten Lieben, danach die ersten Kinder. Dann die ersten Elternbesuche. Drei Generationen später – so lange dauert es meistens – haben die Kindeskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist. 2089 könnte das schon ganz schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen Welt kamen.
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab (EDL) Berlin. Im Mai 2016 erscheint ihr Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!: Eine politische Utopie“, Berlin (Dietz Verlag) 2016.
Robert Menasse ist Romancier und Essayist. Zuletzt erschien von ihm „Heimat ist die schönste Utopie: Reden (wir) über Europa“, Berlin (edition suhrkamp) 2014.
© Ulrike Guérot; Robert Menasse. Der Text erscheint demnächst auf Englisch im Green European Journal.