11.02.2016

Vorname Luana

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Vorname Luana

Argentinien erkennt das Recht jedes Menschen an, sich als Mann oder Frau zu definieren – unabhängig davon, was in der Geburtsurkunde steht

von Angeline Montoya

Luana, früher Manuel, posiert vor der Presse NATACHA PISARENKO/ap
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Der 2. Juli 2012 war ein großer Tag für die argentinische Trans*community. „Heute ist ein Tag der Wiedergutmachung. [...] Es tut mir leid, dass wir so lange gewartet haben“, erklärte Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, als sie den ersten Personalausweis überreichte, in dem eine Geschlechtsumwandlung festgehalten wurde. Die bei der Geburt als männlich definierte Inhaberin wollte nun als Frau eingetragen werden. Möglich wurde dies durch das Gesetz zur Geschlechtsidentität, das am 9. Mai 2012 mit 55 Ja-Stimmen und einer Enthaltung verabschiedet wurde.

In Argentinien, wo knapp 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, hatte sich die Kirche kaum in die Debatte eingemischt. Es gab auch keinerlei Proteste auf den Straßen. Die international bekannte Transsexuellen-Aktivistin Diana Sacayán,1 auf deren Initiative das neue Gesetz zurückging und die im Oktober 2015 ermordet wurde, sagte uns im Rückblick auf die Zeremonie im Januar 2015: „Vorher hatte uns der Staat verfolgt. An jenem Tag bat er uns um Verzeihung.“

Das Gesetz erkennt das Recht jedes Menschen an, sich selbst als Mann oder Frau zu definieren, unabhängig davon, welches Geschlecht ihm oder ihr bei der Geburt „zugeschrieben“ wurde. Seitdem können alle, die das wollen, Vornamen, Geschlecht, Passfoto und Geburtsurkunde durch eine einfache Erklärung bei den Meldestellen ändern lassen. Dafür müssen sie weder einen Grund angeben noch vor einem Psychiater erscheinen oder sich unters Messer einer Chirurgin begeben, wie in Frankreich oder auch in Deutschland vorgeschrieben. Laut WHO gilt „Transsexualismus“ immer noch als psychische Erkrankung und wird entsprechend behandelt.2

Viele haben sich dafür entschieden, ihre angeborenen Geschlechtsorgane zu behalten. Sie definieren sich weder als Mann oder Frau, sondern als Trans*. Laut Gesetz sind sie aber dazu verpflichtet, sich für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden. Das findet die 46-jährige Trans*aktivistin Marlene Wayar inakzeptabel. „Ich möchte mich nicht als Frau bezeichnen“, erklärt sie. „Ich werde meinen Ausweis erst ändern, wenn ich das Kästchen ‚Trans‘ oder irgendeine andere Option ankreuzen kann, die meine Lebenswirklichkeit widerspiegelt.“ Im Großen und Ganzen ist Argentiniens Trans*community jedoch sehr angetan von dem Gesetz. Es sorgt nämlich auch dafür, dass der Staat die Kosten für eine Hormonbehandlung oder eine operative Geschlechtsumwandlung übernimmt; sogar Minderjährige dürfen mit Zustimmung ihrer Eltern ihren Personenstand ändern. Die sechsjährige Luana war das erste Kind, das am 9. Oktober 2013 einen neuen Ausweis bekam.

Seit der Verabschiedung des Gesetzes vor drei Jahren gab es erhebliche Fortschritte. „Es war jedes Mal ein Drama, wenn man ein Handy kaufen, ins Krankenhaus gehen oder einen Behördengang erledigen wollte und dann laut mit Vornamen aufgerufen wurde, obwohl die äußere Erscheinung gar nicht mehr damit übereinstimmte. Jetzt zeigen wir einfach unseren Personalausweis vor“, erzählt Lohana Berkins vom Aktionsbündnis für transsexuelle und transvestitische Identitäten (Asocia­ción de Lucha por la Identidad Travesti y Transexual, Alitt). „Dieses kleine Detail macht enorm viel aus. Demokratie und Staatsbürgerschaft sind für uns ­keine abstrakten Begriffe mehr.“

Berkins freut sich, dass sich jüngere Trans* inzwischen offen auf die Straße wagen. „Wir haben früher praktisch noch Burka getragen, wenn wir ausgehen wollten, und es war schon ein Triumph, wenn wir wohlbehalten nach Hause kamen!“ Seit 2012 haben 6 000 Argentinier*innen ihre Papiere ändern lassen.

Wird das Gesetz ausreichen, um die Lebensbedingungen von Trans*personen zu ändern? Nach einer Studie der Alitt von 2006 liegt die Lebenserwartung einer Trans* bei nur 35 Jahren. Die häufigste Todesursache ist Aids, die zweithäufigste unsachgemäße Behandlungen mit Silikon. Über 80 Prozent der Trans* leben der Studie zufolge von Prostitution. Der Anteil sinkt mit steigendem Bildungsniveau. Von den Trans* mit abgeschlossenem Studium (2 Prozent der gesamten Community) arbeiten 33 Prozent als Prostituierte. Und nur knapp 15 Prozent machen überhaupt Abitur. 76 Prozent aller Trans*personen haben schon einmal Polizeigewalt erlebt – das ist die dritthäufigste Todesursache.

Die Großmütter von der Plaza de Mayo

„Ich bin mit meinen 40 Jahren eine Überlebende“, erzählte uns Sacayán vor einem Jahr. „Von den 15 Jahren, in denen ich mich prostituieren musste, seit ich mit 13 von zu Hause abgehauen bin, habe ich mindestens 5 im Gefängnis verbracht. Manchmal haben sie uns für zwei Wochen eingesperrt, dann entlassen und am nächsten Tag wieder festgenommen. Sie haben sich dabei auf inzwischen abgeschaffte polizeiliche Verordnungen berufen, denen zufolge Transvestitismus verboten war.“

Von der schlechten Behandlung, den Schlägen und Vergewaltigungen im Gefängnis sprach sie nur in Andeutungen. Sie wollte lieber darüber reden, was sich für sie durch das neue Gesetz verändert hat: „Ich habe das Gefühl, endlich eine Heimat zu haben. Die argentinische Flagge hüllt mich ein und beschützt mich.“ Am 13. Oktober 2015 wurde Diana Sacayán in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Sie wurde erstochen.

Mit dem neuen Gesetz sind auch institutionelle Veränderungen verbunden: In jedem Ministerium gibt es jetzt eine Abteilung zu Genderfragen und sexueller Vielfalt sowie einen „Best Practice“-Leitfaden zum Umgang mit LGBTIQ (lesbisch, schwul, bi, trans, inter, queer). Das Arbeitsministerium hat beispielsweise Vereinbarungen mit Ausbildungseinrichtungen zur Inklusion von Trans*personen abgeschlossen; es unterstützt Weiterbildungen und kommt eine Zeit lang für einen Teil des Gehalts oder Sozialabgaben auf, falls Firmen Trans* einstellen. In Zusammenarbeit mit einem großen Gewerkschaftsverband entwickelt das Ministerium darüber hinaus Antidiskriminierungsklauseln, die im Arbeitsrecht verankert werden sollen. Im September 2015 beschloss das Parlament der Provinz Buenos Aires ein Gesetz, das eine Quote von 1 Prozent Trans* im öffentlichen Dienst vorschreibt.

Nur etwa jede sechste Trans*person hat eine weiterführende Schule abgeschlossen. Deshalb wurde 2012 auf Betreiben einer Bürgerinitiative eine Schule zur Abiturvorbereitung gegründet, die Mocha-Celis-Schule. „Wir wollten einen Raum für Trans*personen schaffen, die kein Abitur machen konnten, weil sie sich in der Schule diskriminiert fühlten“, sagt Direktor Francisco Quiñones und weist zugleich darauf hin, dass nur 40 Prozent seiner Schüler trans* seien.

Die ersten 20 Mocha-Celis-Schüler konnten am 5. Dezember 2014 ihr Abi­turzeugnis in Empfang nehmen, darunter auch Pablo Gasol. „Diese Schule hat mir erlaubt, ich selbst zu sein“, erklärt der 30-jährige Schriftsteller und Regisseur. Weitere Initiativen folgten, wie ein Sonderprogramm an der Universität Avellaneda, mit dem Trans* einen Schulabschluss machen und ein Studium aufnehmen können.

Wie kommt es, dass ein überwiegend katholisches Land ohne größere Diskussionen in kurzer Zeit die gleichgeschlechtliche Ehe (2010), das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung (2012) und die künstliche Befruchtung (2013) gesetzlich verankert hat?

Emiliano Litardo, Anwalt und Mitglied der Nationalen Front für Geschlechtsidentität, versucht eine Erklärung: „In Argentinien haben die Großmütter von der Plaza de Mayo sich in den letzten 30 Jahren dafür eingesetzt, dass Identität als Menschenrecht gilt“, sagt er. „Die Bewegung für sexuelle Vielfalt hat den Gedanken aufgegriffen und ihm eine andere Stoßrichtung gegeben: Für die Großmütter war Identität noch biologisch und essenzialistisch definiert, während die Trans* sie als soziale Konstruktion und persönliche Entscheidung betrachten.“

Nach der Militärdiktatur (1976 bis 1983) machten sich die „Abuelas de Plaza de Mayo“, die Großmütter der Plaza de Mayo, auf die Suche nach den etwa 500 Kindern, die von Offizieren entführt worden sind und in Unkenntnis ihrer wahren Identität aufwuchsen. Anfangs bekamen die Großmütter kaum Unterstützung.

Argentinien als Vorbild für den Norden

Den Präsidenten Argentiniens war zunächst mehr daran gelegen, Amnestiegesetze zu verabschieden, als die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären. Während die Kinder heranwuchsen, vollzog sich ein politischer Wandel.

Anfang der 1990er Jahre war es dann so weit. Die Regierung wandte sich mit Plakaten und Fernsehspots direkt an die nunmehr Erwachsenen: „Hast du Zweifel an deiner Identität? Dann sprich uns an.“ 1992 wurde eine Kommission für das Recht auf die eigene Identität ins Leben gerufen. Mehrere Interessengruppen, wie etwa die der Indigenen, griffen die Idee auf.

Als Néstor Kirchner 2003 Präsident wurde, stand die Bestrafung der während der Diktatur begangenen Verbrechen ganz oben auf seiner Agenda: Die Amnestiegesetze wurden abgeschafft, und Hunderte Militärs mussten sich vor Gericht verantworten. Später erkannte seine Nachfolgerin Cristina Fer­nán­dez de Kirchner die Verantwortung des Staats für die verbreitete Transphobie an und knüpfte damit an die Politik ihres früh verstorbenen Mannes an, der für die bleierne Zeit der Diktatur um Verzeihung gebeten hatte. Bei den Abgeordneten im Parlament rannte sie offene Türen ein.

„Die Großmütter haben dafür gesorgt, dass in Argentinien das Recht auf die eigene Identität ins Zentrum des rechtlichen und moralischen Empfindens gerückt ist“, sagt auch Mauro Cabral, Kodirektor der Global Action for Trans* Equality (GATE) in New York. Dass sich die argentinische Erfahrung nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen lässt, führt er auf Unterschiede in der Rechtsauffassung zurück. „Norwegen oder die Niederlande gelten als Weltmeister der LGBT-Rechte, aber in fast 20 europäischen Ländern ist die Sterilisierung eine Vorbedingung für die Geschlechtsumwandlung“, fügt Cabral hinzu. „Es wäre schön, wenn wir die Idee des Rechts auf eigene Identität exportieren könnten, aber diese Länder sind es nicht gewohnt, Ideen von anderen anzunehmen. Sie zeigen immer schnell mit dem Finger auf die Länder des Südens, haben aber große Schwierigkeiten, anzuerkennen, dass ihre eigene Politik nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist.“

Die Fortschritte auf dem Gebiet der Rechte für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten stießen auch deshalb auf geringeren Widerstand, weil sie die männliche Vorherrschaft nicht infrage stellten – im Gegensatz zur nach wie vor strafbaren Abtreibung, deren Legalisierung mehr Selbstbestimmung für die Frauen bedeuten würde. „Den argentinischen Macho gibt es nach wie vor. Er hat sich nur in seine Höhle verkrochen, aber sobald es um Frauenrechte geht, vor allem um Abtreibung, kommt er heraus und zeigt seine Krallen“, meinte Sacayán.

Kein Wunder, dass die Regierung bei jedem Gesetzesvorhaben für die Rechte von sexuellen Minderheiten sich bemüßigt fühlt, hinzuzufügen, dass das strikte Abtreibungsgesetz3 auf keinen Fall angetastet werde. Die Politikerinnen und Politiker scheuen sich, für eine straflose Abtreibung einzutreten, weil sie damit den Verlust von Wählerstimmen riskieren, während sie sich beim Thema Rechte sexueller Minderheiten mit ihrer offenen Einstellung überbieten.

Die Trans* werden noch lange dafür kämpfen müssen, ein normales Leben zu führen. Denn Transphobie und Gewalt gegen LGTB bestehen weiter. Es müssen noch viele Gesetze geändert werden. „Kann ein offiziell als Mann anerkannter Trans* Mutterschaftsurlaub bekommen?“, fragt sich Berkins. Tatsächlich erhielt ein Trans*, der seine weiblichen Geschlechtsorgane behalten hatte, im Februar Schwangerschaftsgeld, obwohl er seinem neuen Ausweis zufolge ein Mann war. Ein weiteres Gesetzesvorhaben sieht vor, dass Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität Opfer von polizeilicher Gewalt wurden, eine Rente erhalten. Auch in diesem Fall haben sich die Trans*aktivisten an den Entschädigungsrenten für ehemalige politische Gefangene während der Diktatur orientiert.

Die Trans* schreiten auf ihrem Weg zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe weiter voran. „Aber wir vergessen nicht, dass die Legalisierung der Abtreibung der nächste große Kampf in Argenti­nien sein wird“, unterstrich Sacayán im Januar 2015. „Die Feministinnen haben uns unterstützt; es wird Zeit, dass wir ihren Kampf nun ebenfalls unterstützen.“

1 Alle Personen sind mit der von ihnen selbst gewählten Geschlechtsidentität genannt.

2 Eine Änderung wäre 2017 möglich; die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat eine entsprechende Resolution bereits verabschiedet.

3 Es sei denn, die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren ist Gefahr oder die Schwangerschaft ist Folge einer Vergewaltigung.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Angeline Montoya ist Journalistin in Buenos Aires.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2016, von Angeline Montoya