Unterwegs im Darknet
von Stefan Mey
Am Anfang war das Militär. Ebenso wie das normale Internet ist auch die digitale Unterwelt des Darknets ein Kind der militärischen Forschung. Die Defense Advanced Research Projects Agency, eine Behörde des US-Verteidigungsministeriums, finanzierte Ende der 1990er Jahre die Entwicklung einer Software, die es den US-Geheimagenten in aller Welt ermöglichen sollte, unerkannt mit Zuhause zu kommunizieren. Das Ergebnis war die Verschlüsselungssoftware Tor, ein digitaler Tarnmantel, den inzwischen die linke NGO The Tor Project betreut.
Die Software leitet Anfragen nach Webseiten verschlüsselt über zufällig ausgewählte Internetknoten weiter, die über die ganze Welt verteilt sind. So lässt sich am Ende nicht mehr rekonstruieren, wer die Anfrage gestellt hat. Ein Browser auf Basis von Tor ermöglicht es, incognito im normalen Netz zu surfen – und er eröffnet den Zugang zu einer versteckten Welt: zu den sonst unauffindbaren Inhalten mit der Darknet-Endung .onion. Hier wird standardmäßig anonym gesurft; .onion-Webseiten lassen sich weder kontrollieren noch zensieren.
Theoretisch gibt es verschiedene Möglichkeiten, ein technisch abgeschirmtes, paralleles Internet aufzubauen. Da sich in der Praxis jedoch der Ansatz von Tor durchgesetzt hat, sind, wenn vom Darknet die Rede ist, meist die Inhalte unter .onion gemeint. In den Schlagzeilen liest man davon, wenn wieder einmal ein Darknet-Händler festgenommen wurde. Oft ist dann von den zwei Gesichtern der Technologie die Rede. Das Darknet werde auf der einen Seite von üblen Kriminellen missbraucht, heißt es, auf der anderen Seite biete es politischen Aktivisten und Whistleblowern einen Schutzraum. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es deswegen ein mythischer Ort, emanzipatorisch und verbrecherisch, faszinierend und abstoßend.
Tatsächlich findet unter .onion viel Hässliches statt. Es wird Software gehandelt, mit der sich fremde Rechner kapern und fernsteuern lassen; wer will, kann hier auch ganz reale Waffen kaufen; und in Darknet-Foren kursiert Kinderpornografie. Polizeibeamte, denen der Zugriff auf solche Foren gelang, stießen auf Millionen Bilder, die den brutalen Missbrauch von Kindern zeigten.
Ende November 2015 lieferte die Bild-Zeitung den scheinbar ultimativen Beleg für die Verkommenheit des Darknets. Sie titelte, dass die Attentäter von Paris ihre Waffen wohl von einem Mann aus Baden-Württemberg bezogen hätten – eine Skandalmeldung, die sich bald als Ente herausstellen sollte. Die von Bild zitierte Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte vorschnell eine Verbindung zwischen den Terroristen und einem deutschen Waffenhändler vermutet, der Schreckschusspistolen mit selbst gebauten Teilen zu scharfen Waffen umgebaut hatte. Die für Terrorbekämpfung zuständige Bundesanwaltschaft prüfte den Fall – und winkte ab. Auch die Polizei glaubt, dass das Darknet für den Waffenhandel keine besonders wichtige Rolle spielt: „Uns sind zum jetzigen Zeitpunkt lediglich Einzelfälle mit Deutschlandbezug bekannt, in denen Waffen über illegale Marktplätze gehandelt wurden“, sagt Dirk Büchner, Darknet-Experte des Bundeskriminalamts (BKA).
Drogen aus dem digitalen Regal
Kinderpornografische Inhalte kursieren bekanntlich auch im normalen, offenen Netz. „Im öffentlich zugänglichen Bereich gibt es vorwiegend bereits bekanntes, älteres kinderpornografisches Material. Tor-Boards1 im Darknet suchen Pädophile auf, wenn sie Interesse an neuem Bild- und Videomaterial haben,“ berichtet Büchners Kollege Thomas Hofmann, Mitarbeiter des Referats Kinderpornografie beim BKA. Die Szene wird im Übrigen nicht nur von der Polizei, sondern auch von anderen Darknet-Nutzern bekämpft. Auf den großen illegalen Marktplätzen ist solches Material tabu. Aktivisten von Anonymous legen immer wieder Pädoforen lahm oder hacken sogar deren Nutzerdaten. Die Vorstellung vom Darknet als einem Hort des Bösen ist also vor allem eines: ein Mythos.
Am ehesten lässt sich das Darknet des Jahres 2016 als fast schon banale Einkaufsmeile bezeichnen, und zwar nicht für Terroristen, Cybererpresser oder Pädophile. Die Kräfte des Kapitalismus haben dafür gesorgt, dass in der digitalen Unterwelt ein hochprofessioneller Umschlagplatz für illegale Waren entstanden ist. So muss das Gras für den gemütlichen Joint oder die Aufputschpille für die nächtliche Party nicht mehr im Park gekauft werden. Die Läden der digitalen Unterwelt heißen nicht Amazon oder Zalando, sondern Alphabay, Doctor D oder Darknet Heroes League. 20 bis 25 für Deutschland relevante Marktplätze beobachte man, heißt es beim BKA. In den digitalen Regalen liegen Drogen, verschreibungspflichtige Medikamente, Falschgeld und gefälschte Pässe, gehackte Kreditkartendaten sowie Ratgeber für Cyberkriminelle, manchmal auch Waffen, vom Pfefferspray bis zur vollautomatischen Pistole. Das meiste ist illegal. Zu haben sind auch Drogenzubehör wie Glas- und Metallpfeifen, Listen mit Darknet-Seiten und Einführungen in die Anonymisierungssoftware.
Auf die Frage, warum es so viele Leute zu den illegalen Webshops zieht, verweist der Betreiber von Hansa Market selbstbewusst auf den „Komfort“ im Vergleich mit dem Straßenhandel von Drogen: „Die Leute suchen nach einem möglichst anonymen und einem 24-Stunden-Zugang zu Substanzen mit hoher Qualität, dabei müssen sie sich nicht in zwielichtige Milieus begeben und noch nicht einmal das Haus verlassen.“ Und der Betreiber des derzeit größten Darknet-Shops Alphabay erklärt mit der größten Selbstverständlichkeit: „Alphabay ist ein Onlinemarktplatz wie jeder andere auch. Der einzige Unterschied ist, dass bei uns auch illegale Güter verkauft werden können.“
Das profitable Geschäft hat viele Gemeinsamkeiten mit dem klassischen E-Commerce von Amazon & Co. Filter grenzen die Angebotsvielfalt ein; es gibt Treue- und Rabattaktionen, Freunde-werben-Freunde-Programme, verbindliche Marktplatzregeln oder eine Produktsuchmaschine, auf der Händler Textanzeigen schalten können. Und wie von den großen legalen Marktplätzen bekannt, kann ein Produkt nach dem Kauf bewertet werden. Erfahrene Nutzer können so schwarze Schafe unter den Händlern identifizieren. Wer öfters nicht liefert, wer minderwertige oder verunreinigte Substanzen verschickt, wird kaum neue Abnehmer finden.
Einer Studie der Carnegie Mellon University zufolge geht es in erster Linie um Drogen. Ein Viertel des Umsatzes im Darknet werde mit Cannabisprodukten, ein weiteres Viertel mit Ecstasy und 20 Prozent mit Stimulanzien wie Speed oder Kokain gemacht. Auf kleinere Anteile kommen verschreibungspflichtige Medikamente und andere Drogen. Für die Kategorie „Sonstiges“, zu der die Wissenschaftler unter anderem Waffen zählten, ermittelten sie einen Anteil von unter 2 Prozent. Den Umsatz auf den größeren Marktplätzen schätzten sie auf täglich 300 000 bis 600 000 Dollar.
Bezahlt wird in der Hackerwährung Bitcoin. Damit die Spürhunde der Ermittler nicht anschlagen, werden die Drogen mehrfach geruchssicher verpackt. Im Februar 2015 konnte die Polizei in Leipzig einen 20-jährigen Drogenhändler festnehmen, der von der elterlichen Wohnung aus innerhalb eines Jahres knapp eine Tonne Drogen gehandelt hatte. Fällt ein Händler oder Marktplatz aus, geht das Geschäft ohne nennenswerte Verzögerung bei Wettbewerbern weiter. Das System ist erstaunlich resistent gegenüber äußeren Faktoren. Beobachten lässt sich nur eines: Es wächst.
Aktuell schätzen die Betreiber von Tor, dass es etwa 35 000 aktive Webseiten unter der Endung .onion gibt. Sucht man in Überblickslisten, was für Inhalte jenseits der großen und kleinen Marktplätze darunter sind, ist man schnell ernüchtert. Die Seite „Anonymous Cat Facts“ sammelt unnützes Wissen über Katzen, auf „Confess your Secrets“ kann man Geheimnisse beichten und kommentieren lassen, „Sumo Gays“ bietet Bilder von nackten Sumoringern. Es gibt ein Portal für Raubkopien wissenschaftlicher Papers, ein deutschnationales Pöbelforum und ein Forum mit Elektrotechnikklausuren einer norddeutschen Universität.
Schutzraum für Whistleblower
Positive Ausnahmen sind ein paar Medienhäuser, die im Darknet anonyme Postfächer installiert haben, um Whistleblower vor Enttarnung zu schützen. Der Guardian macht das, die Washington Post, auch die taz. Einige linke Projekte haben parallel zu ihren offiziellen Websites auch eine Darknet-Präsenz, das kollaborative Nachrichtenportal Indymedia etwa und der linke E-Mail-Anbieter Riseup. Diese Darknet-Pendants fungieren als alternativer Zugang, der sicherstellt, dass Nutzer stets unerkannt auf die Seiten zugreifen. Seit Ende 2014 hat auch Facebook einen .onion-Auftritt, über den in Diktaturen trotz Internetzensur auf das soziale Netzwerk zugegriffen werden kann.
Aber spielt die Technologie wirklich die Rolle für Dissidenten, die ihr der Mythos über das Darknet zuschreibt? Dass Aktivisten in Diktaturen dort Schutz suchen, komme durchaus vor, meint Dirk Engling, Sprecher des Chaos Computer Clubs. Aktivisten in Ägypten und Syrien hätten in der Vergangenheit über versteckte Darknet-Foren und -Wikis sensible Informationen ausgetauscht. Vieles sei aber Legende, die nur den ursprünglich militärischen Zweck der zugrundeliegenden Software überdecken solle. „Das ist auch ein Label, das draufgeklebt wurde, um die Entwicklung zu rechtfertigen: Ja, ja, es geht darum, Dissidenten ein Tool zur Verfügung zu stellen.“
Wer sich durch die Inhalte unter .onion klicke, langweile sich meist zu Tode, auch wenn es durchaus interessante Entwicklungen gebe, meint Marek Tuszynski vom Tactical Technology Collective, das sich für die Verbreitung sicherer Kommunikationstechnologie einsetzt. Tuszynski spricht wie einige andere IT-Aktivisten lieber vom „Darkweb“ und erklärt: „Das Darkweb, wie es zurzeit aussieht, ist ein Witz.“ Allerdings zähle für ihn nicht so sehr, was aktuell auf .onion geschieht, sondern was möglich sei. Dass dieser geschützte digitale Ort bislang weniger von Aktivisten als von Drogenkonsumenten frequentiert wird, zeige nur eines: dass ihn noch nicht genügend Leute für die wirklich spannenden und politischen Zwecke entdeckt haben. Auch das Internet der frühen 1990er Jahre sei ein „idiotischer Ort“ gewesen.
Entscheidend sei doch, in welcher Gesellschaft und mit welchem Internet wir leben wollen: „Wollen wir ein Internet voll Überwachung und Kontrolle durch Regierungen und Konzerne? Oder wollen wir ein Netz, das frei davon ist und es uns ermöglicht, unsere grundlegenden Freiheiten auch auszuüben?“ Tuszynski empfiehlt, selbst aktiv zu werden und bessere Inhalte zu schaffen. Die Hoffnung, dass aus dem abgeschirmten, mythischen Ort eines Tages doch das bessere Internet werden könnte, will er sich nicht nehmen lassen.
1 Das sind Foren unter .onion, deren Adresse nur einem kleinen Kreis von Nutzern bekannt ist.
Stefan Mey ist freier Journalist in Berlin. Sein Schwerpunkt: politische Ökonomie des Internets; @OmyDot.
© Le Monde diplomatique, Berlin