Die Welt aus der Sicht einer niedrig gelegenen Insel
Die Folgen des Klimawandels für Isle de Jean Charles, Louisiana
von Elizabeth Rush
Ende August verfärbt sich der Abendhimmel im Süden Louisianas oft violettblau. Heute zieht am Horizont ein Gewitter auf. Ein paar Meeräschen springen aus dem Wasser. Beim Wiedereintauchen machen die zwanzig Zentimeter langen zappelnden Leiber ein plätscherndes Geräusch: doip!, doip!, doip! Jake Billiot dreht bei, um seinen Garnelenkutter „Sitting Bull“ am Steg vor dem Anlegeplatz von Pointe-Aux-Chenes zu vertäuen. Pointe-Aux-Chenes ist das südlichste Ende eine langen Landzunge und nur durch eine einzige, zunehmend gefährdete Straße mit der gewaltigen Landmasse Nordamerikas verbunden. Auf der Fahrt zum Ende des Highway 665 weitet sich der Blick mehr und mehr über das Wasser, bis schließlich das Land rundherum aufhört und man ganz vom Meer umgeben ist.
Jenseits von Billiots Kahn gibt es nur noch zwei Farben – die fast schwarzen Bayous, die die schwer zugängliche Sumpflandschaft des Mississippi-Deltas prägen, und das Grün des Schlickgrases, das sich hier wie anderswo auch invasiv ausbreitet. Diese schwarz-grüne Unermesslichkeit war einst ein vielgestaltiges Mündungsmarschland, wo im Frühling die Garnelen laichten und die Schwarzkappen-Waldsänger auf ihrem Zug nach Südamerika Rast machten. Doch im Lauf der letzten fünfzig Jahre sind etwa 90 Prozent der drei Kilometer nördlich von Pointe-Aux-Chenes gelegenen Isle de Jean Charles und der umliegenden Feuchtgebiete verschwunden. Luftaufnahmen zeigen den dramatischen Unterschied zwischen damals und heute: Was früher grün war, ist jetzt blau. Dieses Gebiet, das einst zu den ausgedehntesten und fruchtbarsten Marschgebieten der Welt zählte, verliert in atemberaubender Geschwindigkeit Land – jede Stunde geht eine Fläche von der Größe eines Fußballfelds verloren.
Der Bayou von Louisiana geht unter – der Anstieg des Meeresspiegels, die Küstenerosion, das Absinken des Bodens und über 15 000 Kilometer neue, von Ölkonzernen ausgehobene Kanäle tragen zu seinem Verschwinden bei, und mit ihm stirbt eine ganze Lebensweise. Billiot ist 70 Jahre alt. Er ist im Bayou geboren und aufgewachsen. „Ich fische hier seit 55 Jahren“, erzählt er. „Anfangs habe ich im Sommer Krebse und Garnelen gefangen und im Winter auf dem Land Fallen aufgestellt. Es gab immer mehr als genug. Aber jetzt sind das Land und die Bisamratten verschwunden, und ich muss manchmal stundenlang durch die Gegend tuckern, bis mir irgendwas ins Netz geht.“ Seit einem halben Jahrhundert hat Louisianas Garnelenindustrie noch nie so schlechte Jahre gehabt wie 2010 und 2011.
Billiot, der wie die meisten Mitglieder der Gemeinde Terrebonne indianische und französische Vorfahren hat, ist ratlos und weiß nicht mehr, was er tun soll. „Versuchen wir ‚de Baya‘ weiter draußen“, sagt er, während er das Boot wendet. Hier unten sprechen die Leute das aspirierte „th“ wie ein hartes „d“ aus und das „Bayou“ wird zu einem breiten „Baya“. Den Prognosen zufolge wird sich Louisianas Baya in den kommenden Jahrzehnten noch weiter zur See hin „öffnen“, und gegen Ende des Jahrhunderts wird außer den Deichen alles unter Wasser stehen.1
Das Abschmelzen des Grönlandeises hat in den letzten 15 Jahren zu einem deutlichen Anstieg des Meeresspiegels geführt. Doch das Mississippi-Delta verliert schon seit den 1930er Jahren Land ans Meer, als Ingenieure der US-Armee den Fluss mit Dämmen gebändigt haben.
Der mächtige Mississippi, der drittlängste Fluss der Welt, entwässert sei 10 000 Jahren ein riesiges Gebiet, das von Wyoming bis nach Pennsylvania und von der kanadischen Grenze bis zum Golf von Mexiko reicht. Er hat der Küste Louisianas ihre Gestalt gegeben, indem er aus den fernsten Gegenden des Kontinents Geschiebe und Schwemmsand herantrug und an seiner Mündung ins Meer spülte.
Die indigenen, präkolumbianischen Gesellschaften im gesamten Mississippi-Tal wussten, dass ein gesunder Fluss Phasen der Überflutung und der Trockenheit durchläuft und dass dieser Kreislauf dem Strom und den Zivilisationen an seinen Gestaden ihre Gestalt verlieh. Die amerikanischen Ureinwohner errichteten ihre Dörfer nicht am Flussufer, sondern landeinwärts, um dem launischen Gewässer nicht zu nahe zu kommen. Ihre Siedlungen waren ohnehin meist Zeltstädte, die verlegt werden konnten, wenn das Wasser über die Ufer trat.
Schon 1543 wurde der spanische Eroberer Hernando de Soto auf seinem Zug nach Westen durch das heutige Tennessee von den Fluten des Mississippi aufgehalten. Sein Chronist Garcilaso de la Vega beschrieb in seinem Tagebuch ausführlich den überströmenden Fluss. Schon diese ältesten existierenden Aufzeichnungen über Hochwasserzyklen und Sedimentablagerungen beschreiben die Überschwemmungen vor allem als ein Hindernis für den menschlichen Fortschritt. Der zweite überlieferte Bericht über den „Zorn“ des Flusses stammt von 1734, als der Strom mehrere Monate lang das junge, in der Schwemmlandebene errichtete New Orleans unter Wasser setzte. Zu einem Problem wurde der Mississippi also erst, als seine Fluten den Europäern und ihren Unternehmungen in die Quere kamen.
1927 schwoll der Fluss infolge heftiger Niederschläge wie ein wassersüchtiges Bein an. Er überschwemmte Städte und Dörfer. In der ersten Jahreshälfte standen bis zu 70 000 Quadratkilometer unter Wasser. Das Ingenieurskorps der US-Armee versuchte daraufhin, den Fluss mit Dämmen zu bändigen – mit dem paradoxen Ergebnis, dass diese sogenannte Flusskontrolle, die die Städte am Unterlauf des Mississippi vor Überflutung schützen sollte, womöglich mehr zum Untergang dieser Ortschaften beigetragen hat, als das wilde Gewässer selbst es je vermocht hätte.
„Weil sich der Schwemmsand hinter den Dämmen staute, wurde der Strom reißender und führte nicht mehr so viel Sedimente mit sich. Das war der Moment, in dem das Land zu verschwinden begann“, erklärt Lora Ann Chaisson, die Vizepräsidentin der United Houma Nation. Plötzlich begannen sich die langen Schwemmlandzungen zurückzuziehen, die der Mississippi im Lauf der letzten 10 000 Jahre aufgehäuft hatte.
Lora Ann lebt nicht mehr draußen auf der Isle de Jean Charles, dem Land ihrer indianischen Gemeinde. Wie viele andere ist sie ein paar Kilometer landeinwärts gezogen. „Als ich hierher nach Pointe-Aux-Chenes kam, wollte ich nur eines wissen: ‚Wird dieser Ort auch überflutet?‘ “, erzählt sie. „ ‚Nein, hier gibt’s keine Überschwemmungen’, haben sie mir gesagt. Aber weißt du was? Das Wasser lässt sich nicht aufhalten. Inzwischen ist es auch hier angekommen. Und als sie im Baya Öl entdeckt haben, wurde alles natürlich nur noch schlimmer“, fügt sie hinzu und tippt mit dem Fuß auf den Boden.
Garnelenfischer und Öltanker
1948 wurde acht Kilometer von dem Haus entfernt, wo Lora Ann ihre Kindheit verbracht hat, die erste Bohrinsel errichtet. Mit den Bohrinseln kam die Kanalisierung. Durch Marsch und Sumpf wurden Schifffahrtswege ausgehoben, die die Ölfirmen nach dem Versiegen der Ölquelle eigentlich hätten wieder auffüllen und renaturieren müssen. „Aber nichts davon haben sie getan. Sie haben den Bayou nicht wie versprochen erhalten, und jetzt haben wir den Golf direkt vor unserer Haustür“, klagt Billiot.
Aus der Vogelperspektive durchziehen scharfe Einschnitte das feine Gewebe der Sumpfgebiete von Louisiana. Es sind die Kanäle, die Billiots Vater und viele andere angeheuerte Arbeiter für die Bohrinseln ausgebaggert haben. Wasserstraßen wie die, die wir gerade entlangschippern. Jeder dieser Tausenden Einschnitte bildet eine Schneise, durch die Salzwasser in die Sümpfe eindringt. Je mehr Wasser durch die Feuchtgebiete strömt, desto breiter werden die Schneisen und desto schneller verschwindet das Marschland. In diesen Sumpfgebieten liegt heute die Hälfte der Ölraffinerien der USA und ein Netz von Pipelines, das 20 Prozent der US-amerikanischen Rohöl- und über 33 Prozent der Erdgasproduktion transportiert. Auch deshalb verschwinden jedes Jahr rund 80 Quadratkilometer Sumpfgebiet.
Etwa die Hälfte aller US-amerikanischen Feuchtgebiete (Alaska ausgenommen) liegen in Louisiana. Diese Sümpfe sind der beste Schutz gegen die Zerstörungen, die die immer häufiger auftretenden Meeresstürme anrichten, wenn sie auf Land treffen.2 Das Marschland ist wie ein riesiger Schwamm, der die anstürmenden Meeresfluten aufsaugt und in die Sümpfe verteilt, die es danach allmählich wieder freigeben und so das Landesinnere vor Überschwemmungen schützen.
Mit den Sumpfgebieten verschwindet auch das einzigartige Säure-Basen-Gleichgewicht, das durch das Salz- und Süßwassergemisch entstanden ist und Lebensraum für zahllose typische Tier- und Pflanzenarten bot. Eine unheimliche Eintönigkeit hat sich über die Sümpfe gelegt. Am Herbsthimmel sieht man keine Zugvogelformationen mehr, und die Garnelen, mit denen die Fischer ihren Lebensunterhalt verdienten, sind rar geworden.
Billiot fragt seine Kollegen über Funk, ob einer von ihnen was gefangen hat. Die Antworten sind nicht ermutigend, aber Billiot will trotzdem noch nicht aufgeben. Er ist vergleichsweise wohlhabend, weil sich BP nach der Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ im April 2010, bei der 11 Menschen starben und 2000 Kilometer Küste verseucht wurden, zwei seiner Kutter ausgeliehen hat, um sie zur Bekämpfung der Ölpest einzusetzen. Nun kann er sich ausgerechnet dank der Ölkatastrophe den Sprit leisten, mit dem er nach den letzten verbliebenen Garnelen sucht.
Während der 87 Tage, die es dauerte, bis die leckgeschlagene Ölquelle wieder verschlossen war,3 ordnete die US-Lebens- und Arzneimittelbehörde FDA die Schließung aller örtlichen Fischereibetriebe an. Die Folge war jedoch nicht nur der vorübergehende Verlust von Arbeitsplätzen, sondern der Untergang einer ganzen Existenz- und Lebensform.
Die Garnelenfischerei – nach der Öl- und Gasproduktion der drittgrößte Erwerbszweig der Region – trägt in den ländlichen Küstengebieten Louisianas fast religiöse Züge. Viele Fischer interpretieren ihren Fang als Zeichen dafür, ob ihnen der Himmel gewogen ist oder nicht. In der letzten Zeit wird die Verantwortung für die leeren Netze allerdings nicht mehr nur beim lieben Gott gesucht.
Nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ rieten Wissenschaftler zunächst dringend vom Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten ab. Bis heute geht von der Louisiana Browns, der häufigsten Garnelensorte im Brackwasser von Südlouisiana, nur noch ein Zehntel der früheren Mengen ins Netz, von den verbliebenen Garnelen haben manche kleine Geschwüre, andere haben keine Augen.4
Durch das Leck in der Bohrinsel sind damals 800 Millionen Liter Rohöl in den Golf von Mexiko geflossen. Der britische Energiekonzern BP setzte gegen die Ölpest 7,2 Millionen Liter Corexit ein, um den Ölteppich an der Wasseroberfläche aufzulösen. Weil die Chemikalie sehr schwer ist, sinkt sie dann zusammen mit dem Öl auf den Meeresboden, wo das Gemisch die Laichgründe der Krustentiere vergiftet.5
Billiot und ich tuckern leise den teefarbenen Kanal hinter Pointe-Aux-Chenes hinauf. Hier kann man die Ölpest und die Schwermetalle und die Gendefekte der Meerestiere für kurze Zeit vergessen. Die Flut erzeugt eine starke Strömung, was gut ist, weil sie die gefangenen Garnelen ins Schleppnetz drückt.
Billiot legt einen Hebel um, woraufhin die Seilwinden ihre Stahlseile abspulen. Das kleine Schiff sieht mit einem Mal wie ein Kormoran aus, der die Flügel zum Trocknen ausbreitet. Die stählernen Ausleger, die wie zwei überlange Leitern anmuten, geben ächzende Geräusche von sich. Als wir uns dem Bayou nähern, wickelt Billiot mehrere Meter Netz ab, die mit leisem Plätschern seitlich des Boots ins Wasser gleiten, bis die Netze vollständig unter Wasser sind und die Ausleger in stumpfen Winkeln vom Boot abstehen.
„Als Kind habe ich immer gedacht, die Bäume würden sich über dem Bayou die Hand geben“, erinnert sich Billiot. Auf den Gedanken kann man heute nicht mehr kommen. Das Ufer ist zu beiden Seiten gut 30 Meter entfernt, und die Bäume, die zu sehen sind, wirken abgestorben. „Mein Großvater hat den Bayou für die Ölfirmen ausgebaggert, bis er knapp zehn Meter breit war. Aber nachdem er einmal ausgehoben war, wurde er immer breiter. Das hier ist eigentlich ein Kanal und kein Bayou, aber wir nennen es immer noch so.“
Wir kommen am Gerippe einer riesigen Eiche vorbei – die blattlosen Äste ragen wie eingefrorene Blitze in die Höhe. Dass dieser Baum tot ist, liegt nicht an der Luft, sondern an dem Boden, aus dem seine Wurzeln seit Jahrzehnten zunehmend Salzwasser statt Süßwasser aufgenommen haben. Etwa die Hälfte der Bäume sind inzwischen umgestürzt, und die übrigen halten sich mühsam aufrecht. Das Wasser, das früher gar nicht da war, scheint heute alles zu sich hinunterzuziehen.
Wo heute Wasser ist, stand einst ein Eichenwald. Wo heute Wasser ist, war einst ein ausgedehntes Sumpfgebiet mit vielen Wasservögeln. Wo heute Wasser ist, stand früher ein Kaufladen, ein Fischerhafen, ein Wohnhaus – damals, wie an einem anderen Ort, bevor das Meer den Boden verschluckt hatte.
Billiot fährt parallel zum Highway 665 den zum Kanal gewordenen Bayou ab, doch seine Netze bleiben leer. Er starrt ins Wasser wie ein Wahrsager, der am Boden einer Tasse aus dem Kaffeesatz liest.
„Das Wasser ist klar“, sagt er, „ein schlechtes Zeichen. Wenn die Garnelen nach oben kommen, wird es bräunlich-trüb, weil sie beim Hochkommen Schlamm aufwirbeln.“ Billiot pflügt mit dem Bug ins Riedgras und wartet. Auf der Rückseite eines Briefumschlags skizziert er eine Karte.
„Früher war das alles Brackwasser“, erklärt er, während er mit dem Finger über das Gespinst von Bayous und kleinen Seen fährt, das er aufgemalt hat. „Die weißen Garnelen kamen hier herein und legten ihre Eier ins Seegras. Wenn der Mond aufging, schwammen sie wieder weg, und du wusstest, dass du jetzt zuschlagen musstest. Aber dann öffnete sich das Land allmählich zum Meer hin.“
Billiot malt kleine Wellen an die Stellen, wo sich einst Sumpfgebiete und Inseln erstreckten. „Whiskey Pass, Cat Island Pass, Wine Island Pass, lauter kleine Wassersträßchen zum Golf, die allmählich breiter wurden, bis ihnen das Salzwasser entgegenströmte. Als dann das Meerwasser in die neuen, breiten Kanäle wie diesen hier hineinfloss, ging das Land unter und es verschwanden die Garnelen. Jetzt müssen wir eine Stunde und mehr fahren, bis wir irgendwo hinkommen, wo wir vielleicht was fangen. Das kostet viel Benzin, und am Ende hast du trotzdem keinen großen Fang. Aber wo soll ich sonst hin? Das ist meine Heimat, ich geh hier nicht weg.“
Das Marschland ist naturgemäß ein Zwischenreich, in dem eine hohe Artenvielfalt besteht. Aber davon ist nicht viel zu sehen. Vielleicht entsteht hier ein Ökosystem, für das wir noch keine Bezeichnung haben, ein Sumpfgebiet, das Meer wird, eine morastige Landschaft, die zu viel von der Nässe abbekommt, aus der sie entstanden ist – und in ihr ertrinkt.
Die USA rangieren auf der Liste der vom Anstieg des Meeresspiegels am stärksten bedrohten Länder auf Platz 11, hinter den Niederlanden, Bangladesch und den Philippinen – wir sollten uns also für unsere dicht besiedelten Küstenregionen schnell eine Lösung einfallen lassen. Derzeit leben 18 Millionen Menschen beziehungsweise knapp 6 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung in Regionen, in denen das Risiko für eine Jahrhundertflut als extrem hoch eingestuft wird – bis zum Ende des Jahrhunderts werden es voraussichtlich doppelt so viele sein.6
Ein Masterplan für den Klimaschutz
Der Weltklimarat (IPCC) prognostiziert bis 2100 einen Anstieg des Meeresspiegels von, je nach Szenario, bis zu 98 Zentimetern,7 weil der Klimawandel zu höheren Meerestemperaturen und einem immer schnelleren Abschmelzen des grönländischen Eisschilds führt (im Sommer 2014 schrumpfte es um durchschnittlich 100 000 Quadratkilometer pro Tag).
Wenn wir keine Lösung zum Schutz der betroffenen Küstengebiete finden, werden am Ende dieses Jahrhunderts viele niedrig liegende Landstriche unter Wasser stehen – darunter auch ein Großteil von Louisianas Bayou-Country.
Von den zehn schlimmsten Hurrikans, die es zwischen 1851 und 2010 in den USA gab, trafen neun die Küste vor dem Golf von Mexiko, sechs von ihnen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.8 Aus Angst vor dem zunehmend kostspieligen Wiederaufbau hat die Regierung von Louisiana 2012 einen Fünfzigjahresplan zum Küstenschutz verabschiedet. Es ist eine der ersten umfassenden Initiativen, die auf den steigenden Meeresspiegel reagiert und mögliche Anpassungsstrategien wissenschaftlich untersucht. Das Programm hat unterschiedliche Interessenvertreter an einen Tisch gebracht, von betroffenen Gemeinden über die Öl- und Gasindustrie bis hin zu Politikern und Vertretern von Indigenengruppen.
Die Umsetzung dieses „Masterplans“ würde 50 Milliarden Dollar kosten. Das wäre, wie Jordan Fischbach vom Gulf States Policy Institute der Rand Corporation vorrechnet, immer noch deutlich billiger, als wenn nichts unternommen würde: „Wenn wir diese Maßnahmen nicht ergreifen und der Meeresspiegel so stark ansteigt wie im Worst-case-Szenario angenommen, könnten sich die jährlichen Schäden bis 2050 auf 20 Milliarden Dollar und mehr belaufen. Mit dem Masterplan lassen sich diese Kosten auf schätzungsweise 4,8 Milliarden Dollar begrenzen.“
Von den 19 Milliarden Dollar, die BP als Entschädigung für die Ölpest zahlt – der höchste Schadenersatz, den ein Unternehmen in den USA je zahlen musste – soll ein beträchtlicher Teil in die Regeneration der Feuchtgebiete und den Küstenschutz fließen. Ähnliche Maßnahmen beinhaltet auch der Masterplan, der den Ausbau der Deichanlagen sowie Aufschüttungen und andere, teils aufwendige und durchaus riskante Sanierungsprojekte vorsieht. So gibt es Pläne, den aufgestauten Flussschlamm über dicke Rohrleitungen in die Bayous zu pumpen und zu verteilen – wodurch neben den vorhandenen Öl- und Gaspipelines ein weiteres kreuz und quer verlaufendes Leitungsnetz entstünde.
Eine Verringerung der Öl- und Gasförderung in der Region ist freilich nicht vorgesehen. Das US-Innenministerium hat zwar strengere Umweltauflagen für die Erschließung von Offshore-Ölfeldern vorgeschlagen, aber die sind noch nicht vom Gesetzgeber beschlossen. Solange jedoch die Ursachen für die Schädigung der Küstenregionen bestehen bleiben, ist die teure Verschiebung von Schlammmassen nichts als eine Symptombehandlung.
Albert Naquin, der Obmann der Isle de Jean Charles, hat versucht, die verbliebenen Bewohner der vom Untergang bedrohten Insel zur gemeinsamen Auswanderung zu bewegen. Denn nur wenn sich alle zusammen bereit erklären, von hier wegzuziehen, erhalten sie Umsiedlungsbeihilfen vom U.S. Army Corps of Engineers. Sein Dorf wurde bei der letzten großen Infrastrukturmaßnahme, dem Morganza to the Gulf Protection Plan, übergangen, und Naquin befürchtet, dass das nun wieder passieren könnte. „Die Weißen haben uns nach hier draußen weggedrängt“, sagt er mit Verweis auf die lange Geschichte der verfolgten Ureinwohner in der Region, „und jetzt treibt uns Mutter Natur wieder fort. Aber nicht alle wollen gehen.“ In der Zwischenzeit haben aber auch etliche wegen der ständigen Überschwemmungen ihre Häuser schon aufgegeben und sind auf eigene Kosten landeinwärts gezogen.
Edison Dadar denkt genau wie Jake Billiot nicht im Traum daran, seine Zelte demnächst abzubrechen. „Mein Vater hat 91 Jahre auf dieser Insel gelebt. Schon sein Vater wurde hier geboren, ist hier aufgewachsen und gestorben.“ Als Dadar jung war, zog er jede Nacht bis zu 400 Pfund Garnelen aus der kleinen Bucht hinter seinem Haus. Heute reicht der Fang gerade eben für das Abendessen seiner Familie. Zum Beweis zieht Dadar einen Zwanziglitereimer aus dem Kühlschrank. Auf dem Boden des Eimers liegen nicht mehr als 50 Garnelen. Zwei große weiße, der Rest braune, insgesamt wahrscheinlich nicht mehr als ein, zwei Pfund.
Dadar zeigt mir stolz seinen Garten, der aus einer Badewanne und mehreren Hochbeeten besteht, die das Salzwasser von den Wurzeln fernhalten. Ich sehe drei Flaschenkürbisse und ein paar Gurken. Davor stehen zwei Kakibäume, die Dadar nach dem Hurrikan „Andrew“ als Windschutz angepflanzt hat. „Jeder Baum, den du hast, ist ein Schutz“, erklärt er. „Und die Früchte schmecken auch nicht schlecht.“ Zum Abschied überreicht er mir ein Häufchen zusammengewachsener Austern. „Wenn eine Auster stirbt“, erläutert er, „setzt sich die nächste auf ihre Schale und darauf wieder die nächste. Ich habe auch vor, hier zu sterben, hier auf der Insel.“
Vielleicht sollte man sich doch, statt milliardenschwere Küstenschutzprogramme aufzulegen, lieber ein Beispiel an Dadar nehmen und versuchen, mit weniger zurechtzukommen. Statt höhere Deiche zu bauen, könnte man auch mit der Einübung ins Weniger beginnen. In Naomi Kleins jüngstem Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ heißt es dazu: „Ein Leben im Rahmen ökologisch vertretbarer Grenzen würde in Wahrheit lediglich die Rückkehr zum Lebensstil der 1970er Jahre erfordern, bevor der Konsum komplett aus dem Ruder lief.“
Noch ist es nicht zu spät, um die Klimakatastrophe abzuwenden, aber dafür müssten wir die Vorstellung vom vermeintlich grenzenlosen Wirtschaftswachstum aufgeben und mit der rücksichtslosen Ausbeutung der Rohstoffe aufhören. Wenn man sieht, wie Dadar darum kämpft, mit weniger zu überleben, dann wird einem klar, was das in manchen Kreisen angesagte Motto vom „leichteren Leben“ in Wirklichkeit bedeutet: Wer in unserer Konsumkultur mit weniger auskommen muss, erweckt schnell den Eindruck, arm zu sein.
Jake Billiot und ich schippern stundenlang durch den Bayou. Am Ende haben wir mehrere Kanister Benzin verbrannt und fast nichts gefangen. „Mit ein bisschen Glück wird’s morgen besser“, sagt Billiot. Er schaut zu mir hoch, und sein dünnes Lächeln verflüchtigt sich. Wir wissen beide, dass Glück in diesem Fall nicht helfen wird.
1 Siehe Bob Marshall, „Southeast Louisiana is Disappearing, Quickly“, in: Scientific American, 28. August 2014.
2 Siehe Brady R. Couvillion u. a., „Land area change in coastal Louisiana from 932 to 2010 – Scientific Investigations Map 3164“, U.S. Geological Survey, 2011.
3 Siehe Khadija Sherif, „BP, das Loch und die Machenschaften“, Le Monde diplomatique, Juli 2010.
4 Dahr Jamail, „Gulf Seafood Deformities Alarm Scientists“, al-Dschasira, 20. April 2012.
5 Siehe Julia Whitty, „Why is the Toxic Dispersant After BP’s Gulf Disaster Still the Cleanup Agent of Choice in the US?“, Mother Jones, 19. April 2013.
6 Mark Crowell u. a., „An Estimate of the US Population Living in the 100-year Coastal Flood Hazard Areas“, Journal of Coastal Research, März 2010.
7 Siehe Fünfter IPCC-Sachstandsbericht, 2013: www.de-ipcc.de/de/200.php.
8 Eric S. Blake, Christopher W. Landsea und Ethan J. Gibney, „The Deadliest, Costliest and Most Intense United States Tropical Cyclones from 1851 to 2010 (and Other Frequently Requested Hurricane Facts). Technical Memorandum NWS NHC-6. Miami, August 2011.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Elizabeth Rush ist Journalistin und Fotografin sowie Autorin von: „Still Lifes From a Vanishing City. Essays and Photographs from Yangon“, San Francisco (Global Directions/Things Asian Press) 2015.