Die neue Rechte in Lateinamerika
von José Natanson
Betrachten wir zunächst den ökonomischen Kontext. Im Gefolge der globalen Wirtschaftskrise, die den Höhenflug der Rohstoffpreise beendet hat, ist die Lage in ganz Lateinamerika gekennzeichnet durch ein schwaches Wirtschaftswachstum, einen wachsenden Druck auf die nationalen Währungen und erneute, von außen auferlegte Restriktionen.
Nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) ist das BIP der Gesamtregion 2015 um lediglich 0,5 Prozent gewachsen. Die ökonomische Stagnation wirkt sich auch auf die sozialen Indikatoren aus. Dass sich diese nicht verbessert oder gar verschlechtert haben, zeigt an, dass der Spielraum für soziale Umverteilung ausgereizt ist. Das erklärt zum Teil die schlechten Wahlergebnisse für die linken Regierungen in Venezuela und Argentinien, wie zuvor bereits in Brasilien.
Die Stimmenverluste der Linken gehen mit dem Aufstieg einer neuen Rechten einher, die sich in dreifacher Hinsicht grundlegend von der alten Rechten unterscheidet: Sie ist demokratisch, postliberal und sogar bemüht, sich ein soziales Antlitz zu geben. Letzteres könnte man auch populistisch nennen, wenn dieser Begriff nicht so abgenutzt wäre, und zwar in seiner abwertenden wie in seiner einst positiven erkenntnistheoretischen Idealisierung, die aber bereits etwas verschlissen ist.
Sehen wir also genauer hin. Der Hang der Rechten zur Demokratie ist für Lateinamerika etwas absolut Neues. Historisch gesehen haben die konservativen Kräfte selten der Versuchung widerstanden, bei der Armee anzuklopfen, wenn sie ihre Interessen nicht über Wahlen durchzusetzen vermochten. So war es 1955, 1966 und 1976 in Argentinien, 1964 in Brasilien, 1973 in Uruguay und in den 1980ern in ganz Zentralamerika.
Dasselbe taten die Konservativen, wenn sie die Radikalität einer linken Regierung nicht länger hinnehmbar fand – etwa im Chile Allendes oder im Guatemala von Arbenz. In diesem insgesamt militarisierten Kontext gehörte der Rückgriff auf die Armee zum politischen Spiel, das zuweilen auch die Linke mitspielte: so 1968 in Peru und im Jahr 2000 in Ecuador.
Das ist heute nicht mehr so. Auch die lateinamerikanische Rechte hat die Demokratie als einzig mögliches System anerkannt (die schlechteste aller Regierungsformen abgesehen von allen anderen, die bisher ausprobiert wurden, wie es in Churchills berühmtem Aphorismus heißt). Das bedeutet natürlich nicht, dass Putsch- oder Destabilisierungsversuche und andere autoritäre Ausrutscher ihr völlig fremd geworden wären, wie jüngere Ereignisse in Honduras, Paraguay, Ecuador und Bolivien zeigen. Manchmal verlegt sie sich auch auf eine Methode, die erst im 21. Jahrhunderts aufgekommen ist, nämlich ungeachtet institutioneller Verfahren eine klare Wahlniederlagen zu leugnen. Diese Unsitte ist allerdings nicht auf die Rechte beschränkt – man erinnere sich an die mexikanischen Wahlen von 2006, als López Obrador seine Niederlage mit Wahlbetrug erklärte.
Ungeachtet solcher Differenzierungen lautet der entscheidende Befund: Inzwischen stellen die echten Reaktionäre eine Minderheit innerhalb der neuen Rechten dar, die insgesamt komplexer und widersprüchlicher ist, als es eine vereinfachende Sichtweise wahrhaben will. Die meisten heutigen Parteien sind in der Endphase der autoritären Regime entstanden, in manchen Fällen sogar in Konfrontation mit ihnen. Das gilt etwa für die brasilianische PSDB, eine modern orientierte Partei von nebenberuflichen Politikern und Intellektuellen, die bei den Protesten gegen die Militärregierung in den 1980er Jahren mitmachte; oder für Expräsident Piñera in Chile und sein berühmtes Nein, mit dem er im Plebiszit von 1988 gegen die Verlängerung von Pinochets Amtszeit stimmte.
Der demokratische Charakter der neuen Rechten – jenseits ihrer Überzeugungen, die wir nicht näher untersuchen wollen, da wir keine Psychologen sind – erklärt sich also aus ihren Anfängen. Das hat freilich einige ihrer Protagonisten nicht gehindert, sich später mit Parteien zu verbünden, die den Diktaturen nahestanden.
Die neue Rechte ist auch postneoliberal. Ihre Wirtschaftsprogramme enthalten zwar altbekannte marktfreundliche Rezepte, aber nur selten explizite Vorschläge zur Deregulierung, Privatisierung oder zum Freihandel, die der Washington Consensus von 1990 als Kernforderungen enthält.
Diese Strategie hat weniger mit schlauem politischem Marketing zu tun als mit dem aktuellen Stand der Dinge: All diese Reformen wurden bereits umgesetzt und sind, trotz unterschiedlich großer Korrekturen und Gegenreformen, großenteils noch immer in Kraft. Zum Beispiel liegt der durchschnittliche Zolltarif in Lateinamerika – ein Indikator für Freihandel – derzeit bei 14 Prozent, gegenüber 42,5 Prozent im Jahr 1985; die Arbeitskosten – Indikator für Flexibilisierung – sanken um 40 Prozent. Mit anderen Worten: Die konservativen Wirtschaftsprogramme verzichten auf explizit neoliberale Inhalte nicht etwa, weil diese nicht salonfähig wären, sondern weil sie längst umgesetzt sind. Interessant ist dabei allerdings, dass die Staatsausgaben – Indikator für staatlichen Interventionismus – von 20,5 auf 35 Prozent des BIPs angestiegen sind.1
Wenn die neue Rechte keine besonders neoliberalen Wirtschaftsstrategien vorschlägt, ist sie deshalb also noch längst nicht „links“. Denn eine Rechte ohne Linke ist ein Ding der Unmöglichkeit, ja eine politische Absurdität. Und natürlich gibt es Unterschiede, die man freilich in den richtigen Proportionen sehen muss.
Ein Beispiel ist die Freihandelspolitik. Der Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien bedeutet keine Wiederaufnahme des Projekts der Amerikanischen Freihandelszone. Und in Brasilien hätte auch ein rechter Präsident keine andere Handelspolitik verfolgt – das hätten schon die Unternehmer von São Paulo verhindert. Abgesehen davon zielt die Politik der Vereinigten Staaten vor allem auf bilaterale Freihandelsabkommen.
Ein mögliches Szenario ist dagegen die „Flexibilisierung“ des Mercosur2 mit dem Ziel, die Zollunion zur Freihandelszone umzubauen. Das erfordert nur die Aufhebung der berühmten Klausel 31, die es den Mitgliedstaaten untersagt, unabhängige Handelsabkommen mit Drittstaaten zu schließen.
Eine solche Reform nach dem Vorbild der Nafta würde nicht nur das einheitliche Zollsystem beseitigen, sondern auch die vagen Ansätze zu gemeinsamen Wirtschaftsstrukturen. Der Mercosur würde damit nicht aufgegeben, sondern zu seiner Gründungsidee zurückkehren: nämlich den besonders dynamischen Unternehmenszweigen jedes Landes den Handel zu erleichtern.
Demokratisch, postliberal und ein bisschen sozial
Und schließlich hat die neue Rechte auch eine soziale Seite. Ihre Politiker versprechen, die im letzten Jahrzehnt eingeführten Sozialprogramme beizubehalten, und sie machen sich sogar die von der Linken benutzte Symbolik zu eigen. Der venezolanische Präsidentschaftskandidat Capriles versicherte 2013, er werde die von Hugo Chávez gegründeten Basisorganisationen („Bolivarianischen Missionen“) nicht antasten, zudem taufte er sein Wahlkampfteam „Simón Bolívar“ und gewandete sich bei seinen Auftritten in den Nationalfarben Gelb, Blau und Rot.
Die Tatsache, dass Kandidaten in anderen Ländern auf ähnliche Strategien zurückgegriffen haben – weshalb manche von „Caprilisierung“ sprechen – bestätigt im Übrigen die erstaunliche Vorreiterrolle Venezuelas: Es war Hugo Chávez, der als erster Anführer der neuen Linken zum Präsidenten gewählt wurde.
Ob echt oder vorgetäuscht, das soziale Gesicht der neuen Rechten macht sie politisch konkurrenzfähiger: In den großen Städten kann sie durch neue Wähler ihre traditionelle Klientel erweitern, die sie in einigen Fällen (UDI in Chile oder DEM in Brasilien) von den gefallenen Diktaturen geerbt hat, aber in anderen Fällen (Macri in Argentinien) von den alten populistischen Parteien.
Auch das Profil ihres Führungspersonals unterscheidet die neue Rechte deutlich von der viel mehr ideologisch geprägten klassischen Rechten. Ihre neuen Gesichter sind – im Gegensatz zu den alten Dinosauriern – Unternehmer, Geschäftsführer oder Sportgrößen: Männer der Tat, meist jung oder bemüht, jung zu wirken. Im Stil Berlusconis vereinen sie liberale und konservative Traditionen; dazu kommt eine programmatische Agilität und ein taktischer Opportunismus, der ihren pedantischen Vorgängern völlig abging.
Der Erfolg dieser neuen Rechten spiegelt sich in zwei großen Veränderungen des Wählerverhaltens. Die Linke hat einen Teil ihrer Stammwählerschaft in der Mittelklasse verloren. Sie findet ihre Anhänger zunehmend unter den Armen und den Bauern. So hat sich die Wählerbasis der brasilianische PT vom reichen Süden in den armen Nordosten verlagert. Auch in Uruguay findet die Frente Amplio ihre größte Unterstützung im armen Landesinneren. Sogar Evo Morales, haushoher Sieger der bolivianischen Präsidentschaftswahlen, bekam in den urbanen Zentren weniger Stimmen als früher.
Eine zweite neuere Entwicklung ist die Tatsache, dass die Linke Schwierigkeiten hat, die jungen Wähler zu gewinnen. Das könnte daran liegen, dass die traumatische Erfahrung des Neoliberalismus in Lateinamerika für diese Generation nur eine nebulöse Erinnerung ist. Aus all diesen Gründen ist die neue Rechte, auch wenn sie noch nicht viele Machtpositionen erobert hat, ein ernstzunehmender neuer Akteur in der lateinamerikanischen Politik.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
José Natanson leitet die argentinische Ausgabe von Le Monde diplomatique.