10.12.2015

Falsche Verbündete

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Falsche Verbündete

von Pierre Conesa

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Das militärische Engagement Russlands und des Westens verkompliziert die Auseinandersetzungen in einer Region, in der sich bereits vier Konfliktdimensionen überlagern und gegenseitig verstärken. Die erste Dimension begann mit der iranischen Revolution von 1979. Es kam ein „islamisches“ Regime an die Macht, das allerdings ein rein schiitisches war. Damit war der uralte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu neuem Leben erweckt. Und Ajatollah Chomeini forderte bereits kurz nach seiner Machtübernahme, die Schiiten an der Verwaltung der heiligen Stätten des Islams zu beteiligen – eine deutliche Kampfansage an Saudi-Arabien.

„Die Schia haben die Juden erfunden, um den Islam zu spalten“, behauptete der junge Dschihadist Khaled Kelkal.1 Bei den saudischen Wahhabiten hat die Verfolgung und Tötung von Schiiten eine gewisse Tradition: 1802 wurde Kerbala (im heutigen Irak) geplündert, Heiligtümer und Grabstätten, darunter die des schiitischen Märtyrers Imam Hussein, wurden zerstört und viele Einwohner getötet. Der „Religionskrieg“ tobt heute in sieben Ländern: Afghanistan, Irak, Syrien, Pakistan, Libanon, Jemen und Bahrain. Auch in Saudi-Arabien und Kuwait gibt es gelegentlich Zusammenstöße. In Malaysia ist die Schia sogar offiziell verboten. Weltweit kommen in diesem Konflikt durch Attentate (zum Beispiel auf Pilger) zehnmal mehr Muslime als Nichtmuslime zu Tode, die meisten in Afghanistan, in Pakistan und im Irak. In diesem Kontext wird verständlich, dass Riad seine Truppen und Kampfflugzeuge gegen die zur Schia gerechneten Huthis im Jemen einsetzt, nicht aber zur Unterstützung des proschiitischen Regimes in Bagdad.

Ebenfalls eine lange Vorgeschichte hat ein zweiter Konflikt: der Kampf der Kurden um Selbstbestimmung. Er begann 1923, als auf den Trümmern des Osmanischen Reichs ein türkischer Nationalstaat entstand. Dessen Gründungsurkunde war der Vertrag von Lausanne, in dem Kurdistan zwischen der Türkei, Syrien, dem Irak und Iran aufgeteilt wurde. Alle kurdischen Rebellionen in der Türkei, im Irak oder im Iran wurden blutig erstickt. Seit 1984 starben in diesen Kämpfen allein in der Türkei 40 000 Menschen; 3000 kurdische Dörfer wurden zerstört, der materielle Schaden wird auf 84 Milliarden Dollar geschätzt.2

Dass Ankara potenzielle Dschihadisten über die Türkei nach Syrien gelangen ließ, überrascht nicht: Die meisten schlossen sich der Al-Nusra-Front oder dem IS an, die gegen die irakischen Kurden und vor allem gegen die der PKK nahestehenden Kurden in Syrien kämpfen. Die PKK gilt Ankara als der Hauptfeind; in den USA und der EU steht sie nach wie vor auf der Liste der Terrororganisationen, weshalb sie keine westliche Militärhilfe beziehen kann. Die Türkei ist das einzige Nato-Mitglied in der Region und auch die einzige Macht, die die militärische Situation dort verändern kann. Sie hat sich am Ende der von den USA geführten Anti-IS-Koalition angeschlossen, doch ihr Hauptziel bleibt die Bekämpfung der PKK. Entsprechend ist die größte Sorge der türkischen Führung ein Zugewinn an faktischer Unabhängigkeit für die Kurden im Irak und in Syrien.

Der dritte Konflikt spielt sich innerhalb des islamistischen Lagers ab. Er datiert vom zweiten Golfkrieg (1990/1991) und hat sich mit dem Arabischen Frühling von 2011 noch intensiviert. Am sichtbarsten ist dabei die Rivalität zwischen der von Katar geförderten Muslimbruderschaft und den Salafisten in Tunesien, Ägypten und Libyen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Neueren Datums ist die Konfrontation zwischen al-Qaida und seinen Ablegern auf der einen und den Anhängern des IS auf der anderen Seite. Letztere verdrängten Anfang 2014 den Al-Qaida-Ableger in Syrien, die Al-Nusra-Front, in harten Kämpfen, bei denen 6000 Menschen starben.3 Seit der Proklamation des „Kalifats“ hat der IS viele Kämpfer gewonnen, darunter Ausländer aus 100 Staaten.

Der vierte und blutigste Konflikt ist der Kampf zwischen dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seinen verschiedenen Widersachern. Er hat bis heute etwa 250 000 Menschenleben gekostet und Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht.

Der Westen zieht nun in einen Kampf, der aus regionaler Perspektive aussieht wie die neueste Episode in einem viel älteren Krieg. Man erinnert sich an das Sykes-Picot-Abkommen, mit dem Großbritannien und Frankreich die arabischen Gebiete des Osmanischen Reichs unter sich aufgeteilt haben; an Winston Churchill, der als britischer Kolonialminister 1921 den Einsatz von Gasbomben auf kurdische Dörfer und Städte autorisierte (die zum Glück nicht zum Einsatz kamen); an die Bombardierung der kurdischen Stadt Sulaimania durch die Royal Air Force (1923/1924); und an die britische Unterdrückung der Schiiten (1921 bis 1925). Vergessen ist auch nicht, dass der Westen und die Sowjets im Irak-Iran-Krieg (1980 bis 1988) den irakischen Aggressor unterstützten und ein Embargo gegen den Iran verhängten.

Barack Obama ist der vierte US-Präsident, der im Irak bombardieren lässt.4 Während der US-Okkupation zwischen 2003 und 2011 wurden 120 000 Zivilisten getötet.5 Das medizinische Fachblatt The Lancet zählte bereits 2006 in diesem Krieg 655 000 Tote. Zudem hat das internationale Embargo zwischen 1991 und 2002 schätzungsweise eine halbe Million Menschenleben gekostet – was die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright mit dem Satz kommentierte: „Wir denken, es war diesen Preis wert.“6

Warum bekämpft der Westen heute den IS? Dass es um humanistische Prinzipien geht, ist zu bezweifeln: Auch in drei Ländern der Anti-IS-Koalition werden Menschen enthauptet oder gesteinigt, werden Hände abgehackt, in Saudi-Arabien deutlich häufiger als in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Erst jüngst wurde der 21-jährige schiitische Demonstrant Ali al-Nimr zum Tode verurteilt: Er soll enthauptet und danach gekreuzigt werden.7 Um Religionsfreiheit kann es aus ähnlichen Gründen nicht gehen. Wegen „Abfalls vom Glauben“ hat ein saudisches Gericht am 17. November den palästinensischen Dichter Aschraf Fajadh ebenfalls zum Tode verurteilt.8

Dass der Grund für das Eingreifen darin liegt, weitere Massaker zu verhindern, ist ebenso wenig plausibel. Auf die fast 2000 Opfer der israelischen Luftangriffe auf Gaza im Sommer 2014 hat man in den westlichen Hauptstädten befremdlich schwach reagiert. Drei Monate später wurden – nach der Enthauptung von drei westlichen Geiseln – Luftangriffe im Nordirak geflogen. „Bei tausend toten Palästinensern tut man gar nichts. Bei drei geköpften Westlern schickt man die Armee!“, hieß es auf einer französischen Salafisten-Website.

Oder geht es etwa um Öl? Ein Großteil der Öllieferungen aus Nahost geht in asiatische Länder, die nicht Teil der Anti-IS-Koalition sind. Oder will man den Zustrom von Flüchtlingen stoppen? Aber man lässt den reichen Golfstaaten durchgehen, dass sie gar keine Flüchtlinge aufnehmen.

Noch offensichtlicher sind die Widersprüche im militärischen Bereich. Heute sind es praktisch ausnahmslos westliche Kampfflugzeuge, die den IS bombardieren. Die USA haben fast 400 Maschinen im Einsatz, Frankreich kommt auf 38 (im Rahmen seiner „Operation Chammal“ mit dem Einsatz des Flugzeugträgers „Charles de Gaulle“).9 Saudi-Arabien verfügt über rund 400 Kampfflugzeuge, aber nur 15 operieren im Irak; auf dieselbe Zahl kommen Dänemark und Holland zusammen. Im Jemen dagegen sind im Rahmen der von Riad angeführten Koalition gegen die schiitischen Huthis fast 100 saudische Maschinen im Einsatz.

Zehn arabische Staaten gegen die Schiiten im Jemen und fünf gegen den IS – das ist ein seltsames Ungleichgewicht. Gegen die Huthis mobilisieren die Saudis beinahe ihr ganzes militärisches Potenzial, nicht aber gegen al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), auf den sich der Charlie-Hebdo-Attentäter Chérif Kouachi berufen hat. Nach Ansicht des ehemaligen CIA-Chefs David Petraeus ist diese Organisation „der gefährlichste Ableger“ des Al-Qaida-Netzwerks; heute kontrolliert die AQAP Aden, die zweitgrößte Stadt im Jemen.

Der IS hat mittlerweile drei seiner strategischen Ziele erreicht. Erstens wird er vor Ort von vielen als Verteidiger der unterdrückten Sunniten in Syrien und im Irak betrachtet. Zweitens hat er es geschafft, al-Qaida und ihren Ableger in Syrien, die Al-Nusra-Front, zu diskreditieren. Die Aufforderung des Bin-Laden-Nachfolgers Aiman al-Sawahiri an Abu Bakr al-Baghdadi, sich seiner ­Autorität zu unterwerfen, ist lediglich ein Ohnmachtszeugnis. Die hohe Zahl der Überläufer aus verschiedenen anderen dschihadistischen Organisationen zum IS bestätigt die neuen Kräftverhältnisse.

Drittens ist es dem IS gelungen, vom Westen als Feind Nummer 1 wahrgenommen zu werden. So können die Propagandisten des Dschihads ihren Anhängern heute leicht einreden, dass ein „Kreuzzug“ gegen sie geführt wird. An der Militäroperation „Inherent Resolve“ beteiligen sich unter Führung der USA 12 Nato-Staaten (plus Australien); auch das neue Bündnis mit Russland kann den Eindruck einer „christlichen Front“ nur noch verstärken. Das weiß die Internetpropaganda des IS zu nutzen. So heißt es in einer Onlinepetition, die von 53 saudischen Geistlichen unterzeichnet wurde, die russischen Luftangriffe zielten auf die „Kämpfer des Heiligen Kriegs in Syrien“, die in Wahrheit „die gesamte muslimische Nation verteidigen“, denn sollten sie verlieren, würden „die Staaten des sunnitischen Islams der Reihe nach fallen“.10

Die militärische Strategie der Saudis konzentriert sich eindeutig auf den Kampf gegen die Schiiten. Riad wie seine Verbündeten im Golfkooperationsrat (GCC) müssten, wenn sie den IS als größte Bedrohung bezeichnen, Widerstand im eigenen Land zu befürchten. Als die Saudis 2012 militärisch in Bahrain intervenierten, ging es darum, die überwiegend schiitische Rebellion niederzuschlagen, die mit ihrem republikanischen Programm die sunnitische Al-Chalifa-Monarchie bedrohte. Ähnlich im Jemen: Hier soll die im März 2015 begonnene Militäroperation „Sturm der Entschlossenheit“ Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi wieder an die Macht bringen, den die Huthi-Rebellen im Januar 2015 vertrieben hatten. Da die Saudis 150 000 Soldaten an der Grenze zum Jemen stationiert haben, hätten sie ohnehin keine Truppen für einen Einsatz im Irak und in Syrien übrig.

Der IS ist heute vor allem darauf aus, die religiöse Legitimität seines „Kalifen“ zu festigen.11 Das läuft auf einen direkten Konkurrenzkampf mit der anderen Macht hinaus, die die Führerschaft der Umma und die Vertretung des Islam beansprucht: Saudi Arabien. Um diesen Kampf zu gewinnen, muss al-Baghdadi die „Verteidiger der Heiligen Stätten“ herausfordern. Es ist also denkbar, dass der „Kalif“ am Ende auch die wahhabitische Monarchie ins Visier nehmen wird.

Was sind die wahrscheinlichen Konsequenzen für Europa? Nach den Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Irak und Syrien werden irgendwann auch die ersten Jemeniten in Europa Schutz suchen. Der Jemen hat mehr Einwohner als Syrien und seine Bewohner können sich nicht in die Nachbarstaaten flüchten, die alle an den Luftangriffen im Jemen beteiligt sind. Seit 2004 sind etwa 340 000 Menschen vor den Kämpfen geflohen. 15 Prozent von ihnen leben nach UN-Angaben in Lagern. Zudem hat der Jemen selbst 246 000 Flüchtlinge aufgenommen, vorwiegend aus Somalia. Dagegen haben die GCC-Staaten keinem einzigen Flüchtling aus dem Jemen Zuflucht gewährt.

Dass die Anti-IS-Koalition einen Krieg führt, ohne sich auf ein gemeinsames strategisches Ziel einigen zu können, ist angesichts der Konflikte zwischen deren Mitgliedern nicht weiter verwunderlich. Die Interventionen in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder in Mali sind gegen die Folgen des Salafismus der Golfstaaten gerichtet – und ausgerechnet die genießen den Schutz des Westens.

Ob der IS besiegt werden kann, ohne dadurch andere dschihadistische Bewegungen, das Assad-Regime oder Teheran zu stärken, weiß man nicht. Der Krieg wird sich hinziehen. Und er ist nicht zu gewinnen, denn keiner der regionalen Koalitionspartner wird Bodentruppen entsenden, um nicht die eigenen Interessen zu gefährden. Die westliche Strategie, die auf Luftangriffe und die Ausbildung einheimischer Truppen setzt, ist bereits in Syrien, im Irak und in Afghanistan gescheitert, weil die USA wie die Europäer ihre Ziele verfolgen, ohne die tatsächlichen Gegebenheiten und Krisenpotenziale der Großregion zu berücksichtigen. Und je stärker das militärische Engagement, desto größer das Risiko terroristischer Anschläge. Am Ende droht eine verheerende Konfrontation zwischen dem IS und Saudi-Arabien. Ist das wirklich „unser“ Krieg?

1 In: Le Monde, 7. Oktober 1995. Kelkal war als Kind aus Algerien nach Frankreich gekommen und gehörte seit 1993 der algerischen Islamistengruppe Groupe Islamique Armé (GIA) an. Nach der Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag auf einen TGV bei Lyon tauchte Kelkal unter und wurde 1995 von der Polizei getötet.

2 Siehe Allan Kaval, „Die Kurden. Eine neue Ordnungsmacht“, Le Monde diplomatique, November 2014.

3 Laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, zitiert in: Le Monde, 25. Juni 2014.

4 Nach Bush (1992), Clinton (1998) und George W. Bush (2003).

5 www.iraqbodycount.org.

6 Wörtlich: „the price, we think is worth it“, CBS-Interview, 12. Mai 1996.

7 Amnesty International, 25. September 2015.

8 www.hrw.org/news/2015/11/23/saudi-arabia-poet-sentenced-death-apostasy.

9 Nach Angaben des französischen Verteidigungsministeriums vom 17. November.

10 Zitiert nach: L’Orient Le Jour, Beirut, 6. Oktober 2015.

11 Dem dient auch sein selbst gewählter Name: Ibrahim (Abraham) al-Muminin („Befehlshaber der Gläubigen“, ein alter Abbasiden-Titel), Abu Bakr (der Name des ersten Kalifen) al-Baghdadi al-Husseini al-Qurashi (Name des Stamms des Propheten Mohammed).

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Pierre Conesa ist Lehrbeauftragter an der Science Po, Paris, und bekleidete früher eine hohe Position im französischen Verteidigungsministerium. Sein Buch „Guide du petit djihadiste“ erscheint im Januar 2016 bei Fayard, Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2015, von Pierre Conesa