Die Abdankung der Politik
Regierung und Parlament lassen Gesetze durch private Unternehmen machen. Ein Einfallstor für Lobbyisten von Mathilde Goanec
Die Evaluation der Staatsverwaltung – „Révision générale de la politique publique“ (RGPP) – aus der Amtszeit von Präsident Nikolas Sarkozy ist den Franzosen vor allem wegen einer Maßnahme noch gut im Gedächtnis: Ab 2009 wurde jeder zweite ausscheidende Beamte nicht mehr ersetzt. Doch kaum einer weiß, in welchem Ausmaß diese Evaluation den Einfluss von privaten Beratern auf die Politik in Frankreich gestärkt hat.
Worum ging es dabei eigentlich? „Das Prinzip“, erklärt der Verwaltungs- und Politikwissenschaftler Philippe Bezes, bestand darin „die Ziele, Finanzierung, Durchführung und Ergebnisse der einzelnen Ministerien von privaten Wirtschaftsprüfern untersuchen zu lassen“.1 Wie aus dem Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission von 2011 hervorgeht, wurden rund 102 Millionen Euro für externe Wirtschaftsprüfer ausgegeben – davon allein 20 Millionen nur in der Vorbereitungsphase.
Seither waren die großen internationalen Beratungsfirmen wie McKinsey, die Boston Consulting Group (BCG), Cap Gemini, Ernst & Young oder Mazars an den wesentlichen politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Diese Entwicklung, die vom französischen Wirtschafts- und Finanzministerium bereits zu Beginn der nuller Jahre in Gang gesetzt worden war, setzte sich in dem Maß immer stärker durch, in dem sich die Politik auf Ausgabenkürzungen konzentrierte.
Parallel sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten multinationale Beratungskonzerne entstanden, die nach und nach „eigene Abteilungen für öffentliche Aufträge aufgebaut haben“, wie Bezes in seiner Untersuchung über die RGPP festgestellt hat.
Seitdem ist der Einfluss der privaten Berater stetig gewachsen, wobei zwei weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielten: einerseits der Vormarsch neoliberaler Thinktanks und andererseits die immer mehr Raum in Anspruch nehmende Frage der Staatsverschuldung. Überdies hätten „die Wahl Nikolas Sarkozys zum französischen Präsidenten und die Berufung von Personen auf Schlüsselpositionen in der Regierung, die nicht aus dem staatlichen Verwaltungsapparat, sondern aus der Wirtschaft kamen, die Entwicklung systematisiert und radikalisiert“, schreiben die Soziologen Odile Henry und Frédéric Pierru.
So haben die ehemaligen Minister für Umwelt, Jean-Luis Borloo, und Arbeit, Eric Woerth, die Manageruniversität École des Hautes Études Commerciales durchlaufen und sich danach ihre Sporen als Wirtschaftsanwälte und Unternehmensberater verdient. Die ehemalige Finanzministerin und jetzige Chefin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde hat vor ihrer politischen Laufbahn eine Karriere als Wirtschaftsanwältin in der US-Filiale der Kanzlei Baker & McKenzie gemacht. Und Jean-François Copé, der Nachfolger Sarkozys als Parteivorsitzender der UMP, arbeitete in Teilzeit für die große Pariser Anwaltskanzlei Gide Loyrette Nouel. Die Politologin Julie Gervais nennt diese Politiker „Überläufer, die die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre aufweichen und die Logiken, Interessen, Deutungsmuster und Instrumente des Marktes in die öffentliche Verwaltung tragen“.3
Während die Beraterfirmen immer stärker in den öffentlichen Sektor vordrangen, ist der Sachverstand der öffentlichen Hand geschrumpft. Früher besaß jedes Ministerium seine eigene Abteilung für Forschung und Analyse. Durch die Restrukturierung sind davon heute nur einige wenige große Institutionen übrig geblieben, wie das dem Premierminister unterstellte Zentrum für strategische Analysen oder der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat (CESE), der Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und anderen Organisationen versammelt und die Regierung und das Parlament bei der „Ausarbeitung von Gesetzen“ beraten soll. In einem von Präsident Sarkozy 2009 in Auftrag gegebenen Bericht hieß es allerdings: „Die öffentlichen Meinung beachtet den CESE so gut wie nicht. Doch was viel beunruhigender ist: Das gilt auch für die Regierung.“
Der Einfluss der Beraterfirmen beschränkt sich aber nicht nur auf die Effizienz der Verwaltung. Laut Bezes hatte deren „Beteiligung an den Reformen des Staats natürlich starke Auswirkungen auf die Inhalte und Ausgestaltung der Politik“. Ein Beispiel ist die Übernahme der ursprünglich privatwirtschaftlichen Praxis des Lean Managements4 in die öffentliche Verwaltung. „Die privaten Beraterfirmen wurden dafür bezahlt zu untersuchen, wie sich die Prinzipien des Lean Managements auf den französischen Justizapparat anwenden lassen“, erzählt der Untersuchungsrichter Jean de Maillard. „Diese Managementlogik basiert auf einem ultraliberalen Ansatz, bei dem minutiös alle Entscheidungen bewertet werden. Dieser Ansatz funktioniert nicht, jeder weiß das. Aber kein hoher Beamter würde das zugeben.“
Der Banker, der Minister, seine Frau und eine Affäre
Die Affäre um Industrieminister Arnaud Montebourg, Wirtschafts- und Finanzminister Pierre Moscovici und die US-amerikanische Investmentbank Lazard hat den Einfluss der privaten Berater erst vor Kurzem gründlich entlarvt. Lazard war von Moscovicis Ministerium beauftragt worden, die Regierung beim Aufbau einer staatlichen Investitionsbank zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen zu beraten. Zunächst hätte man sich fragen können, ob eine Bank wie Lazard, die selbst noch in Zeiten der Krise exorbitante Boni an ihre Manager verteilt, der passende Ansprechpartner für einen solchen Auftrag ist. Doch die sozialistische Regierung schien daran keinen Zweifel gehabt zu haben. Allerdings geht die Geschichte noch weiter. Zusätzliche Brisanz bekam die Angelegenheit, als Audrey Pulvar, die damalige Lebensgefährtin von Industrieminister Montebourg, im Sommer 2012 zur Chefredakteurin des Kulturmagazins Les Inrockuptibles aufstieg, das zufälligerweise Matthieu Pigasse gehört, dem stellvertretenden Generaldirektor der Lazard-Bank in Frankreich.
Wie ihre Kollegen in Deutschland nehmen die französischen Minister bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen üblicherweise die Hilfe von Anwälten in Anspruch. Das frappierendste Beispiel ist die aktive Teilnahme großer Wirtschaftskanzleien bei der Privatisierung von Staatsunternehmen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Praxis, wie Michel Guenaire, Partner in der Anwaltskanzlei Gide Loyrette Nouel, bestätigt: „Meine Kanzlei ist während der ersten Amtszeit von François Mitterand groß geworden. Jean Loyrette, einer der drei Gründer, bereitete damals eine Reihe von Gesetzesänderungsanträgen für Abgeordnete der Rechten vor, die die Verstaatlichungsprojekte einschränken sollten. 1986 wurde Jacques Chirac Premierminister und legte ein Privatisierungsprogramm auf. Als Berater für den Staat waren wir damals die treibende Kraft hinter diesen Privatisierungen und haben auch die entsprechenden Verträge mit den Banken aufgesetzt.“
Mittlerweile ist Gide Loyrette Nouel zu einer internationalen Firma aufgestiegen. Sie ist eine der wenigen französischen Kanzleien, die mit den angloamerikanischen Riesen der Branche Allen & Overy, Hogan Lovells oder Baker & McKenzie mithalten können, die übrigens auch regelmäßig von der französischen Regierung beauftragt werden. Das Magazin Le Point schwärmte schon von der „Trikolore-Kanzlei“ Gide Loyrette Nouel und zählte deren Großtaten auf: Hilfe bei der Privatisierung der Autobahnen und beim Aufbau der französischen Postbank, Beratung von Total beim „Erika“-Prozess5 , Beratung der staatlichen Privatisierungsagentur bei der Fusion des ehemals staatlichen Energieversorgers Gaz de France (GDF) mit dem privaten Versorger Suez und die Beratung des monegassischen Fürstentums bei dessen Bemühungen um die Ausweitung seiner Hoheitsgewässer.6
Die Anwälte von Gide Loyrette Nouel arbeiten für den Staat, für Unternehmen und für Finanzinstitute. Die Kanzlei hütet sich vor politischen Präferenzen. Sie hat sowohl den sozialistischen Finanzminister Dominique Strauss-Kahn bei zahlreichen Privatisierungsprojekten beraten als auch Christine Lagarde von der UMP bei der Ausarbeitung eines Konjunkturprogramms für Präsident Sarkozy.
„Es sind nicht die Kanzleien, die die Richtung bestimmen“, sagt Romain Granjon von der Kanzlei Adamas, die auf öffentliches Recht spezialisiert ist. Ihr Einfluss liegt eher im Detail, was aber keinesfalls ihre Effizienz mindert. So hat Adamas an der Formulierung einer EU-Richtlinie zu „Verfahren bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge“ mitgearbeitet, die darauf abzielte, staatliche und teilstaatliche Unternehmen stärker dem privatwirtschaftlichen Wettbewerb auszusetzen.
Seine Kanzlei beriet auch den Stromversorger Électricité de France (EDF) und die Eisenbahngesellschaft SNCF im Rahmen der für dieses Jahr geplanten EU-Richtlinie zu Dienstleistungskonzessionen, die für mehr Wettbewerb sorgen will. „Wir bieten Ideen an, aber wir legen niemals einen Text vor, der dann genau so übernommen wird“, verteidigt sich der Adamas-Anwalt. Doch weder die französische Post – ebenfalls eine Anhängerin der teilweisen Auslagerung von juristischer Arbeit – noch der Stromversorger oder die Eisenbahn waren bereit, mit uns über ihre Beziehungen zu den Anwälten zu sprechen. Diese wiederum betonen ihre Verbundenheit mit dem „französischen Modell“. Sie reagierten schließlich nur auf offizielle Ausschreibungen, und die Aufgabenstellung sei klar definiert und begrenzt. „Unsere Klienten aus dem öffentlichen Sektor haben in der Regel kompetente eigene Rechtsabteilungen, aber der Mehrwert unserer Arbeit besteht darin, dass wir den Blick von außen haben“, sagt Granjon. „Was ich der staatlichen Verwaltung vorwerfe, ist ihr mangelnder ökonomischer Sachverstand.“
In Frankreich sei die Gesetzgebung weitgehend Sache der Regierung, erklärt Jean de Maillard. „Aber weil die Regierung kein Vertrauen zur Verwaltung hat, die im Ruf steht, von Verteidigern des Wohlfahrtsstaats infiltriert zu sein, wendet sie sich an den Privatsektor“, lautet seine Erklärung. „Das hat positive und negative Seiten. Auf der höchsten Verwaltungsebene hat es den positiven Effekt, dass man sich dort nicht mehr für allwissend hält. Doch das Problem besteht darin, dass man nicht weiß, welche Ideologie sich hinter der eingekauften Expertise verbirgt.“
Genau damit argumentiert auch die Organisation Anticor, die gegen Korruption und für politische Ethik kämpft. Die Anticor-Aktivisten kritisieren den Rückzug des öffentlichen Sektors zugunsten privater Dienstleister. „Es scheint sich hierbei geradezu um eine Strategie zu handeln: Die Erarbeitung von Gesetzestexten wird privaten Dienstleistern überlassen, während die entsprechenden Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut werden,“ mutmaßt die Anticor-Sprecherin Séverine Tessier.
Selbst Renaud Denoix de Saint-Marc, der seit 2007 Mitglied im Verfassungsrat ist, fand während seiner langen Laufbahn im öffentlichen Dienst keinen Zugang zu den Gesetzgebungsverfahren: „Die Frage ist, wie die von den Verwaltungsreformen direkt betroffenen Bürger und Unternehmen in der Politik Gehör finden können. Es gibt das offizielle Prozedere, das über die verschiedenen Beratungsgremien läuft, die die Interessen der Wirtschaft und anderer gesellschaftlicher Gruppen repräsentieren. Und dann gibt es die halboffiziellen Kanäle, die abendlichen Besucher, Leute, die mehr oder weniger direkte Verbindungen zu den Mächtigen pflegen.“
Da sind zum Beispiel die Anrufe einiger Mitglieder der erst kurz zuvor ernannten sozialistischen Regierung bei großen Pariser Anwaltskanzleien, zu deren Kunden die großen französischen Industriellen zählen. Einer Quelle zufolge, die anonym bleiben will, ging es dabei um Fragen wie die Wiedereinführung der Steuerbefreiung von Überstunden oder die Deckelung von Managerbezügen. „Natürlich ist der politische Initiator einer Gesetzesinitiative nicht verpflichtet, die Meinungen seiner Berater umzusetzen“, sagt Denoix de Saint-Marc. „Aber die gleichen Interessengruppen bearbeiten hinterher ja auch die Abgeordneten. Und im Parlament ist das Phänomen des Lobbyismus besonders ausgeprägt.“
Wie viele Anwälte gibt Michel Guénaire unumwunden zu, dass er regelmäßig im Auftrag privater Unternehmen die Anträge für die Abgeordneten verfasst. „Die Firmen kontaktieren uns und sagen: ‚Es gibt eine Parlamentsdebatte. Könnten Sie uns einen Änderungsantrag für dieses oder jenes Gesetz schreiben, das wir dann an einen Abgeordneten weitergeben?‘ “, erzählt Guénaire. „Ich habe kein Problem damit. Die Gesetze werden für einen ganz bestimmten Wirtschaftsbereich erlassen. Da ist es ganz natürlich, dass die betroffenen Akteure wünschen, dass das Gesetz ihren Interessen entspricht.“
In der französischen Nationalversammlung sind von der Privatwirtschaft vorgefertigte Änderungsanträge gang und gäbe. Catherine Lemorton, Abgeordnete aus Toulouse und von Beruf Pharmazeutin, hat das selbst erlebt. Während ihrer ersten Amtszeit verfasste die Sozialistin einen kritischen Bericht zur Entwicklung der Medikamentenpreise und trat damit der mächtigen Pharmaindustrie auf die Füße. „Das war 2008, ein Jahr vor der Mediator-Affäre.7 Ich war gerade gewählt worden und wusste noch nicht, worauf ich mich da eingelassen hatte. Jedenfalls kamen eines Tages die Lobbyistin und der Leiter der internationalen Abteilung des Pharmaunternehmens Servier in mein Büro. Sie lobten meine Arbeit und ließen gleichzeitig durchblicken, dass man so keine Gesetze machen könne. Sie haben mir Unterlagen dagelassen, um mir zu erklären, wie ihre Branche steuerlich entlastet werden könne. Manche Abgeordnete, die sich nicht so gut auskennen, lassen sich davon vielleicht beeindrucken“, meint Lemorton.
Auch bei der Rechten zeigen sich einige Abgeordnete schockiert über solche Praktiken. „Von den Lobbyisten der großen Konzerne wird oft schweres Geschütz aufgefahren“, berichtet der UMP-Abgeordnete Lionel Tardy. „Wenn man einen Änderungsantrag vorliegen hat, der von siebzig Abgeordneten auf einmal unterschrieben wurde, weiß man, woher das kommt.“ Tardy nimmt seine Parlamentskollegen aber zumindest teilweise in Schutz und erklärt die Ausbreitung der privaten Expertise durch die Komplexität der Gesetzesinitiativen: „Wir haben es mit sehr speziellen Themen zu tun, und unter den Abgeordneten gibt es nur sehr wenige Spezialisten. Das ist das Einfallstor für die Lobbyisten.“ Dies habe sich beispielsweise beim Urheberrechtsschutzgesetz gezeigt, durch das alle Verletzungen des Urheberrechts im Internet streng verfolgt werden.
Manche Änderungsanträge würden tatsächlich komplett übernommen, berichtet Olivier Rozenberg, der am Zentrum für Europastudien an der Hochschule Science Po forscht. Er erinnert die Abgeordneten an ihren eigentlichen Auftrag: „Viele von ihnen übernehmen immer mehr Ämter und haben immer weniger Zeit für Gesetzesinitiativen und für die Ausübung ihrer Kontrollfunktion.“ Die Lobbykritiker Lemorton und Tardy treten denn auch für eine Begrenzung der Ämterhäufung ein.
2009 wurde eine weitere Affäre im französischen Parlament bekannt, als herauskam, dass ein Gesetz zur Vereinfachung der Rechtsprechung verabschiedet worden war, für das eine private Anwaltskanzlei einen Abschnitt geschrieben hatte. Der sozialistische Abgeordnete Jean-Jacques Urvoas beschwerte sich daraufhin beim Vorsitzenden der Gesetzgebungskommission der Nationalversammlung Jean-Luc Warsmann (UMP). „Die behandelten Themen, die Komplexität der geänderten Bestimmungen wie auch diverse vorausgegangene Ereignisse, all dies legt einen Schatten des Argwohns über diesen Gesetzestext“, schrieb Urvoas damals.8
Warsmann verteidigte sich mit dem Verweis auf die Legalität des Verfahrens – eine Ausschreibung, die der auf juristische Fragen spezialisierte Informationsdienst LexisNexis gewonnen hatte – und einen Mangel an internen Ressourcen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie schmal der Grat ist zwischen einem akzeptablen Rückgriff auf externes Expertenwissen und dem Eindringen privater Interessen in die Gesetzgebung.
Für viele Beobachter ist die größere Durchlässigkeit zwischen privater und öffentlicher Sphäre auf einen generellen Wandel zurückzuführen. „Das Gesetzgebungsverfahren hat sich weitgehend ‚angloamerikanisiert‘ “, bestätigt der Untersuchungsrichter Maillard.9 „Die Vorstellung, dass nach einer demokratischen Debatte abgestimmt wird, in der sämtliche Standpunkte im Interesse des Gemeinwohls zur Sprache kommen, ist überholt.“
Vor diesem Hintergrund halten auch die Anwälte ihre Teilnahme an der Debatte für vollkommen legitim. Schließlich seien doch auch sie und ihre Klienten wichtige Akteure in der Gesellschaft. Doch dieses System hat einen Makel: Es bevorzugt diejenigen, die die wirtschaftliche und finanzielle Macht ausüben, die Meinungsbildung kontrollieren und die sich sowieso schon auf ein offenes Ohr in der Politik verlassen können.
Beratung à la Brüssel
Viele Beobachter sprechen sich daher nicht etwa für ein Verbot des Lobbyismus aus, sondern für mehr Transparenz und eine Wiederherstellung des Gleichgewichts der Interessen. Deshalb wurde 2009 auch ein freiwilliges Lobbyregister in der Nationalversammlung eingerichtet. Die Aktivisten von Anticor überzeugt diese Lösung nicht. Sie sehen in der Entwicklung hin zum angloamerikanischen Modell nichts anderes als die Privatisierung des Gesetzgebungsverfahrens.
„Wir akzeptieren, dass die öffentliche Entscheidung letztendlich das Ergebnis eines Tauziehens unterschiedlicher Interessen ist“, sagt Séverine Tessier. „Wir wehren uns aber dagegen, dass man diese Praxis durch mehr Transparenz ethisch verklärt. Was vorher im Verborgenen geschah, wird zur offiziellen Spielregel. Aber in Wahrheit geht es dabei nur um das Gesetz des Stärkeren und eine ausgeklügelte Form der Korruption.“
Frankreich vollzieht damit eine Entwicklung, die auf EU-Ebene längst abgeschlossen ist. In Brüssel haben die Lobbyorganisationen ihre Büros direkt im Europaviertel. Sie sind integraler Bestandteil der legislativen Debatte. Mittlerweile kann kein größeres Unternehmen und kein Verband mehr Einfluss ausüben, ohne eigene Lobbyisten in Brüssel zu beschäftigen. Ein freiwilliges Lobbyregister gibt es in der EU-Hauptstadt seit 2008 – anders als etwa in Deutschland.
Transparenz allein reicht aber nicht. So kam zum Beispiel 2011 heraus, dass einige Europaparlamentarier hoch dotierte Beraterfunktionen übernehmen wollten – zusätzlich zu ihrem Mandat als Parlamentarier. Viele Lobbyorganisationen arbeiten außerdem über informelle Kanäle, ohne in irgendeinem offiziellen Register aufzutauchen. Diese Praktiken beeinflussen direkt die Gesetzgebung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, weil dort ein beträchtlicher Teil der parlamentarischen Arbeit aus der Umsetzung der Brüsseler Vorgaben besteht.
Nachdem Frankreichs neue Regierung unter Premierminister Jean-Marc Ayrault das Evaluierungsprogramm RGPP von Präsident Sarkozy zu Grabe getragen hat, wurde Ende Dezember eine neue und natürlich viel „bessere“ Maßnahme aus der Taufe gehoben: die „Modernisierung staatlichen Handelns“ („Modernisation de l’action publique“, MAP), die ausschließlich den Haushalt betrifft. Zu diesem Zweck werden sich sämtliche Minister der Regierung Ayrault alle drei Monate treffen.
Im Juni 2013 sollen die ersten Ergebnisse vorliegen, um den Haushaltsplan für 2014 vorzubereiten. Worum es bei der MAP nämlich vor allem geht, ist die Senkung der Staatsausgaben. Denn das haben die Franzosen von ihrem Präsidenten schon mitgeteilt bekommen: Während seiner fünfjährigen Amtszeit hat sich Hollande zum Ziel gesetzt, 50 Milliarden Euro einzusparen.10