Auf den Ruinen des Imperiums
Eine Abrechnung mit den Tropenhelm-Fetischisten von Pankaj Mishra
Für George Orwell war das Britische Empire „eine Despotie, die letzten Endes aufs Stehlen aus ist“. Wie kommt es also, dass der Imperialismus bei Intellektuellen wieder in Mode gekommen ist und ein neuer Disput über die angestaubte Frage geführt wird, ob er eine gute oder eine böse Sache gewesen sei?
Der junge Orwell hatte fünf Jahre als Polizist in der britischen Kolonie Birma gedient, wo er einmal gegen seinen Willen einen Elefanten erschoss, um die Herrschaftsrechte des weißen Mannes zu demonstrieren. Danach stand für ihn außer Zweifel, dass die imperiale Beziehung eine zwischen „Herr und Sklave“ ist. Waren die Herren gut oder schlecht? Orwells Antwort: „Sagen wir es einfach so: Diese Herrschaft ist despotisch und schlichtweg eigennützig.“ Selbst wenn Birma eher zufällig irgendwie von England profitieren sollte, „zahlt es dafür einen hohen Preis“.1
Die Einsichten, die Orwell durch eigene Anschauung gewonnen hat, waren damals für Millionen Asiaten und Afrikaner, die darum rangen, die Herrschaft des Westens über ihre Gebiete zu beenden, selbstverständlich. Ihre heutigen Nachkommen können es kaum fassen, dass so viele prominente angloamerikanische Politiker und Meinungsführer einer selbstgerechten Imperialismusnostalgie anheimgefallen sind. Nach wie vor nehmen sie Asien in der verengten Perspektive westlicher Interessen wahr, ohne die kollektiven Erfahrungen der asiatischen Völker zu bedenken oder sich auch nur vorzustellen.
Für Joseph Conrad war „die Eroberung der Erde, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass man sie Leuten wegnimmt, die eine andere Hautfarbe und etwas plattere Nasen haben als wir, bei genauerem Hinsehen keine besonders schöne Sache“. Der Satz stammt aus dem 1902 veröffentlichten Roman „Herz der Finsternis“. Zwei Jahre später enthüllte der britische Diplomat Roger Casement in einem Bericht an das Foreign Office, dass in der belgischen Kolonie Kongo die Hälfte der Bevölkerung – nahezu 10 Millionen Menschen – umgekommen war, als Opfer eines brutalen Regimes, für das Enthauptung, Vergewaltigung und genitale Verstümmelung afrikanischer Sklavenarbeiter zur Gewohnheit geworden war.
Solch offene terroristische Gewalt macht nur einen kleinen Teil der Geschichte europäischer Herrschaft in Asien und Afrika aus; hinzu kommt der Hungertod von zig Millionen Menschen – verursacht durch Freihandelsexperimente und ganz einfach mangelndes Mitgefühl. Als etwa die britische Kolonialmacht gebeten wurde, die Bevölkerung von Bengalen während der Hungersnot von 1943/44 mit Hilfslieferungen zu versorgen, wandte der damalige Premier Winston Churchill nur ein, die Inder würden sich doch sowieso „wie die Karnickel“ vermehren.
Der selbstgerechten Überzeugung, die britischen Imperialisten seien im Vergleich zu den belgischen und französischen geradezu Champions des Fairplays gewesen, wurde erst kürzlich ein ziemlicher Schlag versetzt, als Historiker die massenhaften Morde und Folterungen der britischen Kolonialmacht an den aufständischen Mau Mau in Kenia aufdeckten.3 Ungeachtet dessen verbreitete sich in der angloamerikanischen Öffentlichkeit eine an Kipling erinnernde Rhetorik von den „minderen gesetzlosen Rassen“, denen die Segnungen des Freihandels und zivile Herrschaftsformen verpasst werden müssten.4 Der britische Premier Tony Blair tönte bereits vor dem 11. September 2001, er wolle „den Hungernden, Elenden, Besitzlosen und Unwissenden“ in aller Welt notfalls auch militärisch beistehen. Und Blairs Rivale und Nachfolger Gordon Brown legte seinen Mitbürgern mehr „Stolz“ auf ihre imperiale Vergangenheit ans Herz.
Überhaupt tauchten im Zuge des allgemeinen Rechtsrucks nach 9/11 wieder viele Tropenhelm- und Reithosen-Fetischisten aus der Versenkung auf, die ihre Politiker aufforderten, ein neues westliches Imperium nach alten militärischen Methoden zu errichten und das Land der Ureinwohner nach der Eroberung zu besetzen. Die Politiker in den USA und in Europa, die sich für Fantastereien wie der von der „allumfassenden Herrschaft“ begeisterten, versäumten es allerdings, sich eine schlichte Frage zu stellen, die Jonathan Schell vor zehn Jahren formuliert hat: „Sind die Völker der Welt, die sich der alten Imperien entledigt haben, im 21. Jahrhundert bereit, sich einem amerikanischen Lehnsherrn zu unterwerfen?“5
Besagte „Neoimperialisten“, die nach zwei nicht gewinnbaren Kriegen, nach völlig gescheiterten Nation-Building-Versuchen und unfassbar vielen Verlusten (600 000 bis eine Million Tote allein im Irak) immer noch von der Potenz des Westens schwärmen, sind zwar so vertrauenswürdig wie jemand, der einem falsche Viagrapillen andreht. Und doch finden sie immer wieder bereitwillige Abnehmer. Damit das Empire an den Schulen wieder angemessen gewürdigt werde, hat der britische Bildungsminister Michael Gove mit der Neufassung des Geschichtslehrplans Niall Ferguson beauftragt – jenen Ferguson, der 2003 den Angriff auf den Irak befürwortet hat und heute für die „schöpferische Zerstörung“ des Irans plädiert.6
Für solche Leute ist es natürlich günstig, wenn sie bei ihrer intellektuellen und moralischen Selbstbefriedigung nicht durch Stimmen aus Asien oder Afrika gestört werden. Erstaunlicherweise wird weder in den neuen revisionistischen Darstellungen der westlichen Imperien noch in den hinterlistigen Analysen darüber, wie China und Indien gegenüber dem Westen aufholen, so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen, wie sich Schriftsteller, Denker und Aktivisten in vielen Ländern Asiens mit dem Zerstörungswerk beschäftigt haben, das der westliche Imperialismus bei ihnen angerichtet hat: mit der Verelendung der Bauern und Handwerker, dem Niedergang des allgemeinen Lebensstandards und der Zerstörung alter Kulturen. Noch weniger erfahren wir, was diese frühen intellektuellen Eliten aus ihrer speziellen Sicht von den angebotenen politischen und ökonomischen Idealen Europas und der USA gehalten haben.
Die weinerliche Floskel von der „Bürde des weißen Mannes“
Die Intellektuellen in Asien mussten leider feststellen, dass die viel gepriesenen liberalen Werte, die die Europäer seit Langem pflegten, in deren Kolonien nicht ohne weiteres zur Anwendung kamen. Mohammed Abduh, der Begründer des modernen islamischen Denkens, gab einem weit verbreiteten Gefühl Ausdruck, als er sich nach vielen Enttäuschungen eingestand: „Wir Ägypter haben einmal an den englischen Liberalismus und das englische Mitgefühl geglaubt; aber diesen Glauben haben wir eingebüßt, denn Tatsachen sind stärker als Worte. Wir stellen schlicht fest, dass euer Liberalismus nur für euch selbst ist, und euer Mitgefühl das des Wolfs mit dem Lamm, das er zu fressen geruht.“
Das war 1895. Fünf Jahre später veranlassten die britischen Gräueltaten im Burenkrieg und die brutale Niederschlagung des Boxeraufstands in China den pazifistischen Dichter Rabindranath Tagore, Barden des Imperialismus wie Kipling in ungewohnt rabiaten Worten als räudige Hunde zu bezeichnen. Noch unerbittlicher urteilte der indische Nationalist Aurobindo Ghose 1907 über die weinerliche Floskel von der „Bürde des weißen Mannes“. Die Eroberer seien in früheren Zeiten (wie die Engländer in Irland) schlicht davon ausgegangen, dass Macht stets Recht sei. Im 19. Jahrhundert dagegen, in der Epoche des demokratischen Nationalismus, musste sich der Imperialismus als „Treuhänder der Freiheit“ ausgeben.
Besonders probat seien solch „pharisäischen Ansprüche“ für den britischen Imperialismus gewesen. Denn in England habe die an die Macht gelangte „puritanische Mittelklasse“ dem englischen Naturell „eine frömmlerische Selbstgerechtigkeit verliehen, die Akte der Ungerechtigkeit und räuberische Erwerbungen nur gestattete, wenn sich die unter dem Tugendmantel des wohltätigen und selbstlosen Altruismus verstecken ließen“.
Für Freihändler wie Freibeuter dürfte die Vorstellung, dass Asien voll von rückständigen Völkern sei, die vor sich selbst gerettet werden müssten, lediglich eine praktische Idee gewesen sein. Doch viele europäische und amerikanische Intellektuelle pflegten dazu noch eine pathetische Lauterkeit. Selbst für John Stuart Mill, den Schutzpatron des modernen Liberalismus, war der Despotismus „eine legitime Regierungsweise im Umgang mit Barbaren, insoweit das Ziel ihre Vervollkommnung ist“. Um 1900 hatten sich solche Ansichten zu reiner Propaganda verfestigt, und in den europäischen Gesellschaften war ein unbändiger Drang nach imperialer Expansion zum festen Bestandteil der politischen Agenda geworden.
Um im Wettlauf mit den Europäern nicht abgehängt zu werden, verlegten sich die USA auf einen klassischen Eroberungs- und Besetzungsimperialismus und vertrieben die Spanier von ihrem karibischen Hinterhof, während sie zugleich in Ostasien mitzumischen begannen. 1903 besuchte der chinesische Intellektuelle Liang Qichao, von dem auch der junge Mao Tse-tung stark beeinflusst war, die Vereinigten Staaten, als diese gerade im Begriff waren, sich mit allerlei Tricks die Kontrolle über den Panamakanal zu sichern.
Das erinnerte Liang an die Briten, die dreißig Jahre zuvor wegen des Suezkanals die Unabhängigkeit Ägyptens abgeschafft hatten. Seine Befürchtung war, die ursprüngliche Bedeutung der Monroe-Doktrin – dass „die Amerikas den Menschen der beiden Amerikas gehören“ sollten – würde nunmehr in dem Sinne umgedeutet, dass „die Amerikas dem Volk der Vereinigten Staaten gehört“. In dem Buch, das Liang über seine Reise schrieb, fügte er zweifelnd hinzu: „Und wer weiß, ob fortan dieser Wandel nicht immer weitergeht, bis es am Ende heißt: Die ganze Welt gehört den Vereinigten Staaten.“ Sein düsteren Schluss lautete: „In der Welt geht es nur um Macht – eine andere Kraft gibt es nicht.“ Das sei der einzige Weg, um die Freiheit zu erlangen. Also müsse man „zuallererst danach streben, stark zu sein“.
In China ist eine ganze Generation von politischen Führern und Denkern in dem von Liang propagierten sozialdarwinistischen Glauben aufgewachsen: „In den heutigen internationalen Kämpfen, in denen es für gesamte Bevölkerung ums nackte Überleben, ja buchstäblich um alles geht, sind die Menschen vereint wie ein einziges gemeinsames Wesen.“ Auf den kategorischen Imperativ einer starken und mächtigen Nation setzte auch der große „Verwestlicher“ Deng Xiaoping, der in den 1970er Jahren mit dem Maoismus brach und die Marktwirtschaft einführte. „Unser Land muss sich entwickeln“, ließ Deng im ganzen Land als Parole verbreiten. Die Lehre wurde zur Leitlinie für das Politbüro der KP: „Wenn wir uns nicht entwickeln, wird man uns unterkriegen. Entwicklung ist die einzige harte Wahrheit.“
Liang hatte den endlosen, durch den globalen Kapitalismus erzwungenen Kampf zwischen den Völkern als extrem gefährlich eingestuft. Seine Befürchtung wurde durch den Ersten Weltkrieg bestätigt, in den sich fast alle europäischen Staaten mit großem chauvinistischem Überschwang hineinstürzten und dem eine Periode hektischen Expansionsdrangs vorangegangen war. Der Dichter und Philosoph Muhammad Iqbal, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Student drei inspirierende Jahre in Europa verbracht hatte, verfasste damals diese satirischen Verse: „Der Westen entwickelt wunderbare neue Fertigkeiten / Seine Unterseeboote sind Krokodile / Seine Bomber lassen Zerstörung aus dem Himmel regnen / Seine Kampfgase verdunkeln den Himmel / Und blenden das auf die Welt gerichtete Sonnenauge / Schickt diesen alten Narren in den Westen / Um die Kunst des Tötens schnell und bestens zu erlernen.“
Der japanische Kunsthistoriker Kakuzo Okakura hatte 1906 geschrieben: „Der europäische Imperialismus, der sich nicht entblödete, den absurden Alarmruf von der gelben Gefahr zu erheben, will nicht begreifen, dass Asien sich einmal über die brutale Bedeutung der Weißen Katastrophe klar werden könnte.“ Im Gefolge des Ersten Weltkriegs und der Versailler Friedenskonferenz, die für Indien, China, die Türkei, Ägypten und den Iran höchst enttäuschend endete, begannen viele Intellektuelle und politische Aktivisten dieser Länder ihren früheren Flirt mit den politischen Idealen des Westens zu überdenken. Modernisierung hielten sie nach wie vor für unentbehrlich, aber für die „Verwestlichung“ galt das offenbar nicht mehr. Und die Forderung, die Tradition insgesamt abzulehnen oder den Westen zu imitieren, wurde nun zu einer Zumutung. Dafür erlangten neue Bewegungen wie der revolutionäre Kommunismus und der islamische Fundamentalismus, die Asien gegen den westlichen Imperialismus zu immunisieren versprachen, eine immer größere Anziehungskraft.
Zudem war Europas Fähigkeit und Bereitschaft zur Expansion beeinträchtigt, als die europäische Macht, die es nicht zum Imperium gebracht hatte, verrücktzuspielen begann. Bald wurde klar, dass Hitler den Briten ihr indisches Unternehmen – er sprach von der „kapitalistischen Ausbeutung von 350 Millionen indischen Sklaven“ – mit tödlichem Hass neidete. Umso mehr hoffte er, eine ähnlich kleptokratische Diktatur über die zu erobernden Völker und Territorien in Europa errichten zu könnte, wobei er den „Fehler“ der Briten in Indien, nämlich die zu laxe Rassentrennung, vermeiden wollte.
1940 hat Jawaharlal Nehru, der sieben Jahre später Indiens erster Premierminister wurde, den „Nazismus“ scharfsinnig als „Zwillingsbruder“ des westlichen Imperialismus identifiziert und damit die Einsichten von Hannah Arendt und anderen Intellektuellen vorweggenommen: Nach Nehru funktionierten „Faschismus und Nazismus auf dieselbe Weise“ innerhalb Europas wie der westliche Imperialismus „in überseeischen Kolonien und abhängigen Gebieten“.
Für viele Asiaten war auch der Zweite Weltkrieg im Wesentlichen ein Konflikt zwischen den rivalisierenden Großmächten Europas und nicht etwa das grandiose moralische Duell zwischen Demokratie und Faschismus, als das es der europäischen Öffentlichkeit dargestellt wurde. Die lange Erfahrung des Imperialismus sorgte dafür, dass das 20. Jahrhundert von den Bewohnern Asiens radikal anders wahrgenommen wurde als von ihren europäischen Herren.
Ein Beispiel: Der Sieg Japans über Russland löste 1905 überall in Asien die gleiche Begeisterung aus – von Mahatma Gandhi, damals noch ein unbekannter Anwalt in Südafrika, bis zu jenem jungen osmanischen Offizier namens Mustafa Kemal, der später Atatürk („Vater der Türken“) genannt wurde. Schließlich hatte erstmals seit dem Mittelalter ein nichteuropäisches Land einen größeren Krieg gegen eine europäische Macht gewonnen. Der Sieg der Japaner beflügelte in den Köpfen von Menschen, die sich mit der europäischen Oberherrschaft über ihre Heimatregionen verdrossen abgefunden hatten, neben schlichten Rachefantasien vor allem den Gedanken an die Freiheit und Würde der eigenen Nation.
Damals machte Gandhi eine interessante Voraussage: „Die Wurzeln des japanischen Sieges haben sich so weit ausgebreitet, dass wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, welche Früchte er hervorbringen wird.“ 36 Jahre später, am 8. Dezember 1941, holte Japan zum entscheidenden Schlag aus. Neunzig Tage nach dem Überfall auf Pearl Harbour hatte es die Besitzungen Großbritanniens, der USA und der Niederlande in Ost- und Südostasien erobert: die Philippinen, Singapur, Malaysia, Hongkong, Niederländisch-Ostindien, dazu große Teile von Siam, von Französisch-Indochina und von Birma. Anfang 1942 standen die Japaner an der Grenze zu Indien.
Kurz nachdem die Japaner im Februar 1942 Singapur eingenommen hatten, meinte Pieter Gerbrandy, der Chef der niederländischen Exilregierung, gegenüber Churchill und anderen Verbündeten, „die Verletzungen und Beleidigungen der weißen Bevölkerung durch die Japaner … würden dem Prestige der Weißen irreparablen Schaden zufügen“, falls man den japanischen Feind nicht umgehend „hart bestrafen“ würde. Tatsächlich wurde Japan erst nach langen und erbitterten Kämpfen und am Ende mithilfe von Brand- und Atombomben zur Kapitulation gezwungen.
Die Japaner selbst hatten in vielen der besetzten asiatischen Länder ein außerordentlich brutales Regime installiert. Und doch kommt ihnen in den Augen vieler Asiaten das Verdienst zu, die Aura europäischer Macht, die ihre Gesellschaften in einen Zustand permanenter Angst und Apathie gebannt hatte, ein für alle Mal zerstört zu haben.
Nach Meinung von Lee Kuan Yew, des Gründers und langjährigen Ministerpräsidenten von Singapur, hat seine Generation damals gelernt, „dass niemand, egal ob Japaner oder Briten, das Recht hat, uns herumzukommandieren“. Nach 1945 haben die europäischen Mächte, die nur unterwürfige Eingeborene gewohnt waren, diesen antieuropäischen Nationalismus, den die Japaner teils ungewollt, teils auch bewusst angestachelt hatten, meistenteils unterschätzt. Zugleich überschätzten sie ihr Durchhaltevermögen in einer durchweg feindseligen Umgebung. Das Ergebnis waren viele katastrophal sinnlose Operationen oder ganze Feldzüge gegen Aufstände, die in weiten Teilen Asiens – und speziell in Indochina – tiefe Wunden hinterlassen haben.
Dennoch kam die Entkolonialisierung in Asien außerordentlich schnell voran. Birma, wo von einer Nationalbewegung vor 1935 kaum die Rede sein kann, wurde bereits 1948 unabhängig. Die Niederländer leisteten in Indonesien zunächst Widerstand, aber 1953 wurden sie von den indonesischen Nationalisten unter Führung Sukarnos hinausgeworfen. In Malaysia, Singapur und Vietnam dauerte das von Aufständen und Kriegen begleitete Nachkriegschaos länger, aber der Rückzug der Europäer stand nie infrage.
Auf dem indischen Subkontinent endete der fast panisch beschlossene Abzug der Briten 1947 mit der fatalen Aufteilung in die beiden Nationalstaaten Indien und Pakistan, die endlose Auseinandersetzungen zur Folge hatte. Ein Jahr später wurde der Staat Israel gegründet. In einer ähnlichen Mischung aus spätkolonialer Hinterhältigkeit und Pflichtverletzung gegenüber dem Mandatsgebiet Palästina haben die Briten auch im Nahen Osten die Aussichten auf Frieden und Stabilität drastisch reduziert.
Und doch wurden große Teile Asiens und Afrikas in den 1950er und den frühen 1960er Jahren durch den Prozess der Entkolonisierung, der häufig mit revolutionären Umbrüchen einherging, erfasst und umgewandelt. Anführer wie Nehru, Mao, Nasser und Sukarno genossen anfangs große Popularität und hohes Ansehen. Schließlich standen sie vor der gigantischen Aufgabe, ihre postkolonialen Länder zu konsolidieren, oder wie Nehru sagte: „Was Europa in 100 oder 150 Jahren vollbracht hat, müssen wir in 10 oder 15 Jahren schaffen.“
Wie es hingegen nach 1945 für die Europäer aussah, beschrieb Jean-Paul Sartre in seinem galligen Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“: „In der Vergangenheit haben wir Geschichte gemacht, heute sind wir der Stoff, aus dem sie gemacht wird.“ Beim Staatsbegräbnis von Churchill im Januar 1965 vernahm der britische Autor V. S. Pritchett einen „Unterton grimmigen Selbstmitleids“ und die Vorahnungen einer „bescheidenen“ Zukunft, in der Großbritannien für den Rest der Welt lediglich „eine von vielen irrelevanten Volkskulturen“ sein würde. Doch schon Ende der 1960er Jahre, nach dem Massaker an den Kommunisten in Indonesien, als der Vietnamkrieg immer noch weiterging und 1966 auf Betreiben des Westens Präsident Nkrumah in Ghana gestürzt worden war und dann auch noch Richard Nixon die Präsidentschaftswahlen in den USA gewann, sah sich Hannah Arendt zu dem Schluss gezwungen, dass die „imperialistische Ära“, die zwischenzeitlich bereits „halb vergessen“ schien, „in enorm vergrößerten Dimensionen zurückgekommen“ war.
Aggressive Selbstgefälligkeit nach dem Ende des Kalten Kriegs
Der Kalte Krieg mit seiner Parole „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ hatte die westlichen Anschauungen über Asien und Afrika bereits stark verzerrt. Und die Presse der „freien Welt“ war in der Regel bestrebt, die neuen Feinde und Verbündeten nach den Kriterien der Kalten Krieger zu definieren. Selbst linke Antikommunisten, denen die „raren“ Nachrichten über brutale Marionettenregime des Westens keine Meldung wert waren, reagierten stets furchtbar nervös, wenn sie Anzeichen unabhängigen Denkens bei Asiaten entdeckten. Schließlich war in der New York Times bereits 1951 ein Leitartikel über Nehru mit dem Titel „The Lost Leader“ erschienen, der den indischen Regierungschef wegen der von ihm propagierten Blockfreiheit zur „großen Enttäuschung der Nachkriegsära“ erklärte.
In seinem 1969 veröffentlichten Buch „The Myth of Independence“ warnte der spätere pakistanische Präsident Zulfikar Ali Bhutto seine Landsleute davor, dass ihre Macht, Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben radikal verändern würden, nach wie vor „durch die Kanonen des Neokolonialismus“ eingeschränkt werde. Bhutto wurde 1979 von einem proamerikanischen Militärdiktator abgesetzt und umgebracht, womit er das Schicksal vieler asiatischer und afrikanischer Regierungschefs teilte.
Gegen Ende der 1960er Jahre trat die Brutalität vieler postkolonialer Regime unverhüllt zu Tage. In China trieb Mao Tse-tung die Bevölkerung an, binnen eines Jahrzehnts mit der Industrieproduktion Großbritanniens gleichzuziehen, und löste damit eine Hungerkatastrophe aus, der zig Millionen Menschen zum Opfer fielen – um anschließend den erschöpften Überlebenden seine „Kulturrevolution“ aufzuzwingen. Die allgemeine Unordnung der postkolonialen Welt, in der Staatsstreiche und Bürgerkriege zum Alltag wurden, ließ die Epoche der europäischen Imperien, in denen die entpolitisierten Eingeborenen nicht aufmuckten, als vergleichsweise friedliches Zeitalter erscheinen.
Später begannen im angelsächsischen Raum viele linke Intellektuelle, nachdem sie auf absurde Weise allen möglichen Dritte-Welt-Theorien oder gar dem Maoismus verfallen waren, auf die fetteren Weiden der politischen Rechten zu wechseln. Die 1968er wurden jetzt nicht mehr nur von Konservativen, sondern selbst von führenden Labour-Politikern als „gefährlich“ radikal gegeißelt.
Großen Einfluss gewannen in diesen Jahren die morbiden literarischen Berichte eines V. S. Naipaul über die „halbfertigen“ postkolonialen Gesellschaften. Nach einer Reise durch den Kongo, die er auf Joseph Conrads Spuren gemacht hatte, behauptete Naipaul, er habe zwischen der imperialistischen und der postkolonialen Ära kaum Unterschiede ausmachen können. Nach seinem Befund folgte dem bei Conrad geschilderten europäischen Nihilismus lediglich ein „afrikanischer Nihilismus, die Wut primitiver Menschen, die zur Besinnung kommen und entdecken, dass man sie getäuscht und beleidigt hat“.
Im Fall Kongo ließ Naipaul die Ränkespiele des Kalten Kriegs ebenso außer Acht wie in einem seiner späteren Bücher die brutale Herrschaft des Schahs von Persien. Stattdessen märte er sich über die immanenten Defekte des Islam aus. Obwohl Naipaul im Westen vorschnell zur ethnografischen wie zur literarischen Autorität ausgerufen wurde, bietet er dem Leser vorwiegend kulturalistische und pseudopsychologische Verallgemeinerungen: „Der Islam“ ist für die unabänderliche Rückständigkeit der muslimischen Länder verantwortlich, Indien wird zu einer „verwundeten Zivilisation“, und was Afrika umbringt, ist natürlich der „afrikanische Nihilismus“. Solche verkürzten Darstellungen trugen dazu bei, selbst in den Köpfen liberaler Geister eine ahistorische Wahrnehmung der nichtwestlichen Welt zu verfestigen und die Überlegenheitsgefühle wie die Verachtung gegenüber dieser Welt zu untermauern. In einem Vortrag, den er 1990 auf Einladung des neoliberalen Manhattan Institute in New York gehalten hat, stimmte Naipaul in den seit Ende des Kalten Kriegs verbreiteten Triumphalismus ein. Er feierte die vom Westen begründete „universale Kultur“, die künftig alle konkurrierenden Ideologien und Werte aus dem Weg räumen würde.7
Diese aggressive Selbstgefälligkeit in der Zeit zwischen dem Ende des Kalten Kriegs und dem 11. September 2001 ging so weit, dass man im Westen davon ausging, das eigene Demokratiemodell und der Kapitalismus würde alle religiösen und kulturellen Unterschiede aufheben, ja sogar das Ende der Geschichte bringen. Da war es nur konsequent, dass man nach den Al-Qaida-Attentaten noch bedrohlichere Botschaften aus dem Koran herauslas. Der Islam wurde kurzerhand zum unversöhnlichen Feind eines gütigen westlichen Liberalismus erklärt, statt endlich die Aufgabe anzugehen, sich selbstkritisch mit dem historischen Wirken des Westens in den nichtwestlichen Regionen und mit den unterschiedlichen politisch-ökonomischen Entwicklungen in den postkolonialen Ländern zu befassen.
Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass in diesem Teil der Welt die überfällige Befreiung von illusionären und verlogenen Vorstellungen von innen kommen wird. Das wird ein langer und mühseliger Prozess werden. Im Westen freilich hat ein ähnliches Bemühen, die aus dem Zeitalter der Imperien überkommenen Dogmen und Einstellungen zu überwinden, noch kaum begonnen. Viel eher beobachten wir die Wiederkehr eines aggressiven Neoimperialismus.
Ein Teil der Erklärung könnte darin liegen, dass die Aufgabe formeller Imperien in Europa keinesfalls eine Katharsis im Sinne der Überwindung des alten Größenwahns von nationaler und rassischer Überlegenheit bewirkt hat. Wenn westliche Politiker mit militärischen Machtmitteln in Asien und Afrika eingreifen, zeigen sie sich nur zu anfällig für das Machogehabe im Stile des 19. Jahrhunderts.
In den letzten zehn Jahren neoimperialistischer „schöpferischer Zerstörung“ wurden fern des Westens Millionen Menschen getötet, ohne dass die Täter und ihre Auftraggeber davon viel mitbekommen hätten. Dabei hat sich längst gezeigt, wovor der Historiker Richard Drayton, übrigens ein scharfer Kritiker von Niall Ferguson, gewarnt hat: Dass sich ein intellektueller Narzissmus, der „die Vergangenheit anweist, der Gegenwart gefällig zu sein, sich gewaltsam nach außen wenden“ könnte. Die Folge seien nicht nur ferne Kriege, sondern auch eine „Gleichgültigkeit gegenüber der Vernichtung, dem Leiden und dem Sterben anderer Menschen“.
Man kann noch weitergehen: Eine narzisstische Sicht der Geschichte, die auf westliche Ideale, Errungenschaften, Herausforderungen und Fehler fixiert ist, steht einem sinnvollen Verständnis der heutigen Welt nur im Wege. Für die meisten Europäer und Nordamerikaner ist die Zeitgeschichte immer noch weitgehend durch die Siege im Zweiten Weltkrieg und die lange Konfrontation mit dem sowjetischen Kommunismus bestimmt. Für den größeren Teil der Weltbevölkerung dagegen ist das wichtigste Ereignis der modernen Epoche etwas ganz anderes, nämlich das intellektuelle und politische Erwachen Asiens und die – noch nicht abgeschlossene – Erhebung dieses Kontinents aus den Ruinen der asiatischen wie der europäischen Imperien.
Die von vielen angekündigte Verschiebung der Macht von West nach Ost mag kommen oder auch nicht. Aber man muss schon mit neoimperialistischer Blindheit geschlagen sein, um zu leugnen, dass wir heute schon jener kosmopolitischen Zukunft näher sind, von der die erste Generation moderner Denker, Schriftsteller und Politiker in Asien geträumt hat. Einer Zukunft, in der Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt sich als Gleiche statt als Herren und Sklaven begegnen. Und in der niemand einen Elefanten erschießen muss, um seine Überlegenheit zu bekräftigen.