Die Giganten vom Genfer See
Internationale Rohstoffkonzerne nutzen die Steueroase Schweiz von Marc Guéniat
Man muss schon sehr genau hinsehen, um zwischen den vielen Anwaltskanzleien in den Rues Basses das kleine goldene Firmenschild von Gunvor zu entdecken. Im Gegensatz zu den Uhrmachern und Bankern, deren beleuchtete Schriftzüge die Uferstraßen des Genfer Sees erhellen, ziehen Rohstoffhändler wie Gunvor, der auf russisches Öl spezialisiert ist, lieber nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich.
In den letzten zehn Jahren ist Genf neben London und Chicago zu einem der größten Umschlagplätze für Rohstoffe aufgestiegen. Die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Firmen wie Bunge, Louis Dreyfus, Gunvor, Mercuria oder Vitol, die mit Öl, Erzen und landwirtschaftlichen Produkten handeln, haben sich allesamt zwischen Lausanne und Genf angesiedelt. Andere Unternehmen wie der US-amerikanische Agrarkonzern Cargill sind hier schon seit Langem etabliert.
Allein in Genf sitzen 400 Unternehmen mit fast 9 000 Angestellten, die den Großteil der Märkte für Getreide, Kaffee, Öl und Zucker kontrollieren.1 Ihr Gesamtumsatz beläuft sich auf 800 Milliarden Schweizer Franken (666 Milliarden Euro). Nur der Handel mit Kupfer, Zink und anderen Metallen konzentriert sich im deutschsprachigen Kanton Zug, wo etwa Glencore seinen Sitz hat.
Gemessen am Umsatz ist Nestlé längst nicht mehr das größte Schweizer Unternehmen. Der Traditionskonzern rutschte 2011 auf den vierten Platz – hinter Vitol, Glencore und Trafigura, die jeweils einen Jahresumsatz von 232, 145 und 95 Milliarden Euro machen.
Die russischen, französischen und amerikanischen Handelspartner der Schweizer Rohstoffriesen schätzen die Diskretion der Eidgenossenschaft, die Nähe von UN-Organisationen und den erstklassigen Bankenplatz. Auf seiner Website whygeneva.com wirbt der Kanton noch mit einem weiteren Argument für den Standort Genf: die „vorteilhafte Besteuerung“ in Verbindung mit Möglichkeiten zur „Steueroptimierung“.
Eine krasse Untertreibung: Ein Unternehmen, das mindestens 80 Prozent seiner Umsätze im Ausland erwirtschaftet, muss nur 11,6 Prozent Steuern auf seine Gewinne abführen; in Frankreich und Belgien hingegen liegt der Unternehmenssteuersatz bei 33 Prozent, in Deutschland bei 29,8 Prozent. Für Unternehmen, die Rohstoffe von einem Ende der Welt ans andere befördern und davon nur einen verschwindend kleinen Teil in der Schweiz selbst verkaufen, ist das also ein geradezu maßgeschneidertes Steuermodell.
Bis die Eidgenössische Finanzkontrolle und Radio Télévision Suisse begannen, Recherchen anzustellen, konnten diese Unternehmen, ähnlich wie unterm Bankgeheimnis, lange im Verborgenen agieren. Genfs Nachbarkanton Waadt war schon im vergangenen Februar in die Kritik geraten.
Als der brasilianische Bergbaugigant Vale 2006 ein Tochterunternehmen in Saint-Prex gründete,2 befreiten ihn die Waadtländer Behörden nicht nur von allen kantonalen und kommunalen Steuern, sondern erließen ihm auch 80 Prozent der Bundessteuern. Zudem berechneten sie die Steuern nur nach den Gewinnschätzungen der Konzernleitung – ohne nachträglich zu überprüfen, ob diese Schätzungen tatsächlich auch der Realität entsprachen.
Auf diese Weise hat Vale nach eigener Aussage zwischen 2006 und 2009 insgesamt 284 Millionen Franken (236 Millionen Euro) an Steuern bezahlt. Gemäß der Gewinne, die aus den 38 Ländern, in denen der Konzern tätig ist, nach Saint-Prex flossen, hätten es mindestens 3 Milliarden Franken sein müssen.3
Den Präsidenten der Geneva Trading and Shipping Association (GTSA), Jacques-Olivier Thomann, stört das nicht. Steuerlich liege die Schweiz „in der Mitte des Pelotons“ – hinter Dubai und Singapur. Zudem sei die Einkommensteuer in Genf alles andere als vorteilhaft. Dazu muss man wissen, dass die leitenden Angestellten den größten Teil ihrer Vergütung als Bonuszahlungen ausgezahlt bekommen, wie uns ein Ölhändler, der anonym bleiben möchte, erklärt: „Und die fließen in der Regel auf Offshore-Konten, wo sie vor dem Zugriff des Fiskus sicher sind.“ Anders ließe sich wohl kaum erklären, dass hier selbst einfache Buchhalter als Millionäre in Rente gehen.
Mithilfe von cleveren Juristen entwickeln diese Buchhalter nämlich höchst raffinierte Steuersparmodelle für ihre Arbeitgeber. Die Firmen, die sich selbst gern als Rädchen im Getriebe des Welthandels darstellen, die doch nur Weizensäcke oder Ölfässer von A nach B befördern, schätzen exotische Gefilde. Ein auf den Ölhandel spezialisiertes Unternehmen wie Trafigura, das 2006 in die Schlagzeilen geriet, nachdem sein Mietfrachter „Probo Koala“ im Hafen von Abidjan illegal große Mengen Giftmüll entsorgt hatte, hat 40 Niederlassungen in Steueroasen – von den Marshall-Inseln über die Bahamas bis Zypern.4
Seit der Jahrtausendwende sind die Rohstoffpreise massiv gestiegen. Davon wollten auch die Zwischenhändler profitieren. Damit sie die Preise für fossile Energieträger, Agrargüter und Erze direkt kontrollieren können, regeln sie nicht mehr nur den Zwischenhandel, sondern kaufen immer häufiger Tankstellen, Raffinerien, Anbauflächen und Bergwerke auf, um „die Lieferkette hinabzusteigen bis zur Produktion oder hinaufzusteigen bis zum Vertrieb“, erklärt der Genfer Wirtschaftsprofessor Emmanuel Fragnière. Damit entfernen sich die Handelsfirmen von ihrem ursprünglichen Geschäftsfeld, der Logistik, und werden zu Produzenten, Rohstoffförderern und Lieferanten. Umgekehrt steigen die traditionellen Produzenten wie Total, Xstrata und Vale ihrerseits ins Logistikgeschäft ein.
Die größten Unternehmen können mittlerweile „die Preise machen“, erklärt Chris Hinde vom Mining Journal.5 So verkauften 2010 Vitol und Trafigura pro Tag 8,1 Millionen Barrel Öl – das ist so viel, wie Saudi-Arabien und Venezuela zusammen exportierten. Glencore will bei diesem Wettbewerb um die Preisgestaltung nicht zurückstehen. Das Unternehmen kontrolliert 55 Prozent des weltweiten Zinkhandels und 36 Prozent des Handels mit Kupfer.
Haben es die Konzerne einmal so weit gebracht, werden sie zu geopolitischen Akteuren. 2011 belieferte Vitol die libyschen Rebellen bei ihrem Marsch auf Tripolis ebenso mit Öl wie das Regime von Baschar al-Assad in Syrien. Glencore wiederum hat nur drei Tage nach der Unabhängigkeit des Südsudans im Juli 2011 Handelsvereinbarungen mit der neuen Hauptstadt Juba abgeschlossen.6 In der Geschichte des Rohstoffhandels gibt es zahlreiche solcher Beispiele. Als Gegenleistung für ihr hochriskantes Engagement erhalten die Firmen lukrative Lieferverträge von den Regierungen.
Es gibt generell viele Händler, die sich oft in der Nähe von Krisenherden bewegen. „Um die Märkte mit Rohstoffen zu versorgen, beschaffen sie sich ihre Waren manchmal bei Produzenten in problematischen Ländern. Aber der größte Teil der Transaktionen läuft über Ausschreibungen“, erklärt Thomann, der übrigens früher einmal die Abteilung für Handelsfinanzierung bei der französischen Bank BNP Paribas geleitet hat, die auf diesem Gebiet weltweit die Nummer eins ist.
Auf die Frage, ob bei diesen Transaktionen nicht manchmal auch Bestechung im Spiel ist, versichert er: „Der Banker muss sich über den Ruf des Lieferanten, den Kaufpreis, den Zahlungsempfänger und das Umfeld des Geschäfts informieren. Er muss sich auch vergewissern, dass kein Handelsembargo oder irgendein Gesetz verletzt wird.“ Aber er kann offenbar nicht wissen (oder will es nicht wissen), ob ein Potentat die Zentralbank seines Landes mit seiner persönlichen Brieftasche verwechselt.
Dennoch sah sich die Branche bislang nicht veranlasst, für mehr Transparenz auf den Rohstoffmärkten zu sorgen. „Ich sehe keinen Grund für eine Regulierung des Handels“, meint etwa Torbjörn Törnqvist, der Vorstandsvorsitzende von Gunvor. Und Pierre Barbe, sein Kollege bei Totsa, der in Genf ansässigen Handelstochter des Ölkonzerns Total, ergänzt: „Wir haben unsere Geheimnisse. Sie gehen nur das Gastland und uns etwas an.“7
Glencore praktiziert die Geheimhaltung schon lange: Bevor das Unternehmen 1994 diesen Namen annahm (ein Akronym für Global Energy and Commodity Ressources), firmierte es noch unter dem Namen seines Gründers Marc Rich (Marc Rich + Co AG), einem aus Belgien stammenden Geschäftsmann, der eine Zeit lang in den Vereinigten Staaten lebte. Die Neutralität der Schweiz ermöglichte es ihm, sich über sämtliche Embargos hinwegzusetzen. Er machte Geschäfte mit dem Apartheidregime in Südafrika, dem Chomeini-Regime im Iran und dem Castro-Regime auf Kuba. Rich stand auf der Liste der zehn meistgesuchten Personen des FBI, bis er aus undurchsichtigen Gründen von Bill Clinton begnadigt wurde – an dessen letztem Tag als Präsident der USA.
Im Mai 2011 trat Glencore jedoch mit einem teilweisen Börsengang in London und Hongkong an die Öffentlichkeit. Die gewaltige Kapitalspritze versetzte die Zuger Firma in einen wahren Kaufrausch: Die spektakulärste Transaktion war die Fusion mit Xstrata, einem ebenfalls in Zug ansässigen Bergbaugiganten, den Glencore für 40 Milliarden Dollar erwarb. Der Börsengang machte sechs Manager und Anteilseigner von Glencore über Nacht zu Milliardären. Ian Taylor, der Chef von Vitol, würde trotzdem nicht dem Beispiel von Glencore folgen. Ihn schrecke der Gedanke, „ernorm viel Zeit mit Aktionären und mit Journalisten verbringen zu müssen“.
Seit der im November 2012 von der EU gebilligten Fusion hält Glencore-Vorstandschef Ivan Glasenberg ein Aktienpaket, dessen Wert in etwa der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts von Sambia entspricht – laut Internationalem Währungsfonds 16,2 Milliarden Dollar im Jahr 2010. Sein Unternehmen besitzt mit Mopani Copper Mines (MCM) die größte Kupfer- und Kobaltmine in Sambia.8
Das Bergbauunternehmen hat im letzten Jahr von sich reden gemacht, nachdem Details aus einem im Auftrag der sambischen Steuerbehörden erstellten Untersuchungsbericht publik wurden.9 Zwischen 2005 und 2008 registrierten die Kanzleien Grant Thornton und Econ Pöyry demnach zahlreiche „Unstimmigkeiten“ in der Buchführung, die sich nur durch den Wunsch von MCM erklären ließen, seine Steuerlast zu drücken.
Durch Preismanipulationen transferierte das Unternehmen Gewinne in die Schweiz, um sie zu den dortigen niedrigen Steuersätzen zu versteuern – zum Nachteil des sambischen Fiskus. In einer Pressemitteilung vom 2. Juni 2011 bezeichnete der Zuger Konzern das in dem Dokument beschriebene Muster der Steuerhinterziehung als „unzutreffend“. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben trotzdem beim schweizerischen Kontaktpunkt der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Klage eingereicht.
Allerdings deutet nichts darauf hin, dass dadurch die Ungestörtheit der Handelsunternehmen bedroht wäre. Schließlich hat die Schweiz darauf verzichtet, auf diesen Bereich das Geldwäschegesetz anzuwenden. „Das Handelsgeschäft, seine Finanzierung und die damit verbundenen Zahlungen laufen über das Bankensystem, das dem Geldwäschegesetz unterliegt. Außerdem müssen die Gesellschaften sich an das schweizerische Strafgesetz halten, das Korruption verbietet“, erklärt Jacques Olivier Thomann. Den Leiter der OECD-Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung, Mark Pieth, überzeugt das nicht. Er hält Glencores Machenschaften für Teil eines Skandals, an dem viele Firmen mit Sitz in der Schweiz teilhaben: „Die entscheidenden Faktoren, die aus der Schweiz eine Drehscheibe des internationalen Rohstoffhandels gemacht haben, sind das Bankgeheimnis und die sehr geringe Regulierungsbereitschaft unserer Politik“, analysiert Pieth.
Diese Konstellation mündet in ein typisch helvetisches Paradox. Auf der einen Seite propagiert die Schweiz die Menschenrechte und rühmt sich ihrer großzügigen Entwicklungshilfeleistungen. Auf der anderen Seite zieht sie durch eine aggressive Steuerpolitik Rohstoffhändler an, ohne sich darum zu kümmern, wie deren Niederlassungen in Entwicklungsländern agieren.
Diese tiefe mentale und politische Diskrepanz ist kaum zu rechtfertigen. Und genau wie schon bei der Branche, die von der Steuerflucht lebt, ist die Berner Regierung auch jetzt wieder nur unter Druck bereit, sich mit dem weltweiten Handel von Millionen Barrel Öl, vielen Tonnen Kupfer und Getreide zu beschäftigen, der virtuell über die Schweiz abgewickelt wird. Erst unmittelbar vor dem Kampagnenstart für die Petition „Recht ohne Grenzen“, die Unternehmen mit Sitz in der Schweiz gesetzlich zur Respektierung von Menschenrechten und Umweltschutzbestimmungen in aller Welt verpflichten will,10 hat der Bundesrat im Dezember 2011 einen Bericht in Auftrag gegeben.11
In einem Vortrag an der Universität Genf hat Rémy Friedmann, Beauftragter für Wirtschaft und Menschenrechte des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, die offizielle Position der Schweiz dargelegt: „Weil die schweizerischen Unternehmen von unserem Image als Heimat der Menschenrechte profitieren, wollen wir nicht, dass sie dieses Image gefährden.“ Sie müssten verstehen, fügte er hinzu, dass „die Sicherheit von Menschen und die Sicherheit von Investitionen zwei Seiten derselben Medaille sind, und sie müssen begreifen, dass ihre Machenschaften Folgen für ihre geschäftlichen Aktivitäten haben können.“12
Mark Pieth zufolge riskiert die Schweiz mit dem Rohstoffhandel einen ähnlichen Schaden für ihren guten Ruf, wie ihn bereits das Bankgeheimnis verursacht habe. Die Bemühungen zur Regulierung sind bislang bescheiden. Doch die Rohstoffhändler wehren sich schon jetzt mit Händen und Füßen. Einige haben bereits angedroht, ihre Geschäfte in freundlichere Gastländer wie Singapur oder Dubai zu verlagern. Anders als die Banken haben die Handelsgesellschaften schlanke Strukturen und können ihre Zelte schnell abbauen, um sie dort wieder aufzuschlagen, wo niedrigere Steuern und weniger Regeln auf sie warten.