Europas Raubzüge zur See
von Jean-Sébastien Mora
Die dramatische Erschöpfung der Reichtümer des Meeres kann nicht mehr als eine fixe Idee von Ökofreaks abgetan werden. Als man zu Beginn der 1990er Jahre entdeckte, dass der Kabeljau in seinem Hauptfanggebiet vor der kanadischen Neufundlandküste praktisch ausgerottet war, löste das weltweit Erschrecken aus. Die seit dem 15. Jahrhundert und anfangs vor allem von Basken betriebene Jagd nach dem beliebten Speisefisch hat nach 500 Jahren zur Überfischung geführt. Und trotz eines 1992 beschlossenen Fangmoratoriums haben sich die kanadischen Kabeljaubestände seitdem nicht wieder erholt.
Was damals im Nordatlantik geschah, wiederholt sich heute in anderen Meeren. Die größten Fischtrawler der Welt fahren immer weiter nach Süden, inzwischen bis hinunter zur Antarktis, wo sie einander die letzten Fische streitig machen. Binnen zwanzig Jahren sind die Bestände der Bastardmakrele im Südpazifik von 30 Millionen auf weniger als 3 Millionen Tonnen geschrumpft. Im selben Zeitraum ging die Zackenbarschpopulation vor Westafrika um mehr als 80 Prozent zurück.
„Wird es bald ein Meer ohne Fische geben?“, fragt Philippe Cury vom französischen Forschungsinstitut für Meereswirtschaft (Ifremer).1 Nach seinen Erkenntnissen hat das technologische Wettrüsten, angeheizt durch staatliche Subventionen, dazu geführt, dass die Fischer weltweit zweieinhalbmal so viele Meerestiere fangen, wie es für die Umwelt tragbar wäre.
Beim Kampf um die Erhaltung der Wildfische geht es inzwischen nicht mehr nur um den Schutz der Umwelt, sondern um das Überleben der Menschheit. Fische sind allgemein nicht nur extrem nährstoffreich, sondern auch reich an essenziellen Fettsäuren. Die Hälfte des tierischen Eiweißes, das die Bewohner von Ländern wie Bangladesch, Gambia, Senegal, Somalia oder Sierra Leone verzehren, stammt von Fischen. Speziell in Afrika boten Fisch und Meerestiere bei Dürreperioden immer wieder eine Nahrungsalternative, so etwa als 1974 in Somalia die Weidewirtschaft zusammengebrochen war. Doch seit die Fischereigroßmächte Europa, Russland, Korea, Japan und neuerdings auch China die tropischen Gewässer entlang der afrikanischen Küste anfahren, machen sie den örtlichen Kleinfischern Konkurrenz und bedrohen die Nahrungsmittelsicherheit ganzer Länder.
Mit den Fischen sterben die Meere
Im Dezember 2006 warnte ein Forscherteam der kanadischen Dalhousie-Universität unter der Leitung von Boris Worm aufgrund seiner Berechnungen, dass es die Menschen bis Mitte des 21. Jahrhunderts geschafft haben könnten, die beliebtesten Speisefische durch Überfischung, Zerstörung der Biotope und Umweltverschmutzung zum Verschwinden zu bringen. Worm gehört zu einer neuen, meist in Nordamerika beheimateten Forschergeneration, die in der Überfischung ein globales Problem sehen, das ähnlich bedeutsam sei wie der Klimawandel und die Erschöpfung der fossilen Brennstoffe.
Das Problem ist umso gravierender, als die Fischbestände sich nicht automatisch erholen, wenn man das Fischen einstellt, denn ihre Regeneration hängt nicht allein von der produzierten Laichmenge ab. Für den Meeresbiologen Daniel Pauly, Leiter des Fisheries Center an der Universität von British Columbia2 , steht fest, dass Überfischung die gesamte Nahrungskette und damit auch die maritimen Ökosysteme insgesamt zerstört – und zwar oft unumkehrbar. So sieht es auch Philippe Cury: „Das Meer ist instabil wie ein Kartenhaus: Ohne Fische verwandelt es sich in ein einziges riesiges Brackwasser voll giftiger Algen und Quallen, was man in einigen Zonen bereits besichtigen kann.“
Auf der Anklagebank sitzt vor allem die Europäische Union, wobei sich allerdings auch China in den letzten zwanzig Jahren zu einem Global Player der Fischindustrie entwickelt hat. Die EU verfügt nicht nur über das größte Meeresterritorium der Welt, hier arbeiten auch über 141 000 Fischer mit mehr als 85 000 Fangfahrzeugen, die Fischindustrie zu Lande beschäftigt eine weitere Million Menschen. „Die Katastrophe wird kommen“, mahnt die europäische Fischereikommissarin Maria Damanaki unablässig. „88 Prozent der EU-Bestände werden überfischt, auf der Welt insgesamt nur 25 Prozent. Es wäre natürlich viel einfacher, gar nichts zu unternehmen, aber dann haben wir bald ein viel größeres Problem. Das ist eine bittere Lektion, die wir in Griechenland, meiner Heimat, bereits gelernt haben.“
Im Juli 2011 stellte Damanaki in Brüssel ihre geplante Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) vor.3 Das lang erwartete Gesetz wird vom Europäischen Parlament und dem EU-Ministerrat gemeinsam beschlossen und soll am 1. Januar 2014 in Kraft treten. Die Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2015 drei Viertel der Fischressourcen der Gemeinschaft auf ein „stabiles Niveau“ zu bringen, wie sie es auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 angekündigt hatte.
Seit ihrer Einführung im Jahre 1970 hat sich die Gemeinsame Fischereipolitik am Modell der industriellen Landwirtschaft orientiert, das auf Fischfang eigentlich nicht übertragbar ist. Die berühmten Mengenbeschränkungen (TAC) und Fangquoten der EU-Kommission liegen im Durchschnitt 48 Prozent über den Empfehlungen der Wissenschaftler. Von 1993 bis 2008 gab Brüssel zwar 1,3 Milliarden Euro für das Abwracken von Trawlern aus, konnte damit jedoch den „Fischereiaufwand“4 nicht reduzieren, der mit der Modernisierung der Fangflotten sogar noch um 3 Prozent pro Jahr gestiegen ist.
Die neue GFP wurde am 18. Dezember im Fischerei-Ausschuss des Europäischen Parlaments in erster Lesung behandelt und abgestimmt; nun soll das Dokument im Mai 2013 vom Plenum verabschiedet werden. Auch der Europäische Rat der Landwirtschafts- und Fischereiminister hat sich bereits mit dem Entwurf der Kommissarin befasst. Ein Kompromiss zwischen Parlament, Kommission und Rat muss spätestens bis Herbst 2013 ausgehandelt werden, damit die GFP wie geplant Anfang 2014 in Kraft treten kann.
Getreu ihrer neoliberalen Grundorientierung sieht die EU-Kommission als wichtigstes Instrument zum Abbau der Fischerei-Überkapazitäten „übertragbare Fischfangkonzessionen“ (Transferable Fishing Concessions, TFC) vor, die auf dem Markt gehandelt werden können. Diese Quoten haben zwar den Vorteil, dass sie Brüssel nichts kosten, aber einige Kritiker äußern große Bedenken. Sie befürchten eine Privatisierung der maritimen Ressourcen, die Beeinflussung der Quoten durch die Finanzmärkte oder gar das gezielte Aus für die kleinen Fischer. Nach Ansicht des grünen Europaabgeordneten Jean-Paul Besset „begünstigt die Kommission die Fischindustrie, obwohl diese ja gerade die historische Verantwortung für die Überfischung trägt“.
Die maritimen Ressourcen sind rechtlich gesehen eine res omnis, wie es die Römer nannten, also ein Gut, das allen gehört (für dieses „Gemeingut“ hat sich inzwischen der Begriff Commons eingebürgert). „Wenn der Zugang privatisiert wird, sind damit auch die Ressourcen privatisiert“, erklärt Stéphan Beaucher von der europäischen Umweltkampagne Ocean 2012.5 Nachdem Dänemark 2003 ein System übertragbarer Fanganteile eingeführt hatte, kaufte eine Handvoll Großbetriebe, in der dänischen Presse „Quoten-Magnaten“ genannt, in kürzester Zeit die Konzessionen der kleinsten Fischer auf. Das Resultat ist, dass im Juli 2011 im Bereich der Hochseefischerei ganze acht Schiffe einen Ertrag von insgesamt 644 Millionen Euro erbrachten, was wertmäßig ein Viertel des gesamten dänischen Fischfangs ausmacht.
Im gemeinsamen Fischereiraum der EU treten die einzelnen Länder häufig als Konkurrenten auf; im Extremfall verfolgen sie sogar eine gegensätzliche Fischereipolitik. So will Spanien, mit über 80 Prozent aller Schiffe und 65 Prozent aller Arbeitsplätze größter Fischproduzent innerhalb der EU, mithilfe des TFC-Modells weitere Konzessionen in ganz Europa aufkaufen. Angesichts dieser Gefahr wurden im Europäischen Parlament bereits zahlreiche Änderungsanträge eingebracht, so dass es vielleicht noch gelingen könnte, statt der obligatorischen freiwillige oder nicht übertragbare TFCs einzuführen.
Die zuständige EU-Kommissarin Damanaki lehnt sich sehr weit aus dem Fenster, wenn sie ihren Kritikern entgegnet, man werde bei der TFC-Vergabe bestimmte Schranken einbauen, um die Konzentration von Konzessionen zu verhindern und die Kleinfischerei zu schützen. Maria Damanaki genießt zwar als frühere Widerstandskämpferin gegen die griechische Militärdiktatur große Achtung, doch innerhalb der neoliberalen EU-Kommission, die unter dem Einfluss der großen Reeder wie Europeche oder der Landwirtschaftslobby Copa-Cogeca steht, ist sie ziemlich isoliert.
Diese Lobbyisten beeinflussen die Beschlüsse der Kommission hinter den Kulissen in ihrem Sinne, während die Kleinfischerei auf EU-Ebene nicht klar definiert ist und sich deshalb in den Verhandlungen kaum zur Geltung bringen kann. Das Missverhältnis ist offensichtlich: Das internationale Kleinfischerkollektiv ICSF (International Collective in Support of Fishworkers) hat in Brüssel nur einen einzigen Vertreter.
Der Meeresbiologe Daniel Pauly schildert das grundsätzliche Dilemma so: „Wenn die Bestände überfischt werden, muss die Fischerei ihren Fangbereich immer weiter ausweiten, und zwar in die Fläche wie in die Tiefe; das führt zu steigenden Kosten, mithin zu einer wachsenden Abhängigkeit von Subventionen.“ Pauly verweist darauf, dass man in den USA die Konkurrenz per Bundesgesetz begrenzt hat und sich streng an wissenschaftliche Empfehlungen hält. Deshalb konnten dort Fischbestände auf nachhaltigem Niveau stabilisiert werden, was die Fischerei langfristig am Leben hält. Dagegen kamen in Europa „fast 80 Prozent der Subventionen genau der Art des Fischfangs zugute, der die meisten Ressourcen zerstört, die meiste Energie verbraucht und die geringste Produktivität erzielt“. Pauly fordert deshalb, dass sich die Reform der GFP an einer langfristigen ökologischen Perspektive orientiert statt am kurzfristigen wirtschaftlichen Nutzen, wobei auch noch jeder Staat das meiste für sich herausschlagen will.
Fluch der Schleppnetze
Auch das Kollektiv der Kleinfischer schlägt statt übertragbarer Fangquoten ein Raster von Kriterien vor, das ökologische und soziale Kriterien kombiniert. Stéphan Beaucher erläutert die Methode: „Man berechnet beispielsweise für 100 Tonnen angelandeten Kabeljau die Anzahl der Arbeitsplätze, den Einfluss auf die maritimen Lebensräume und den CO2-Ausstoß.“ Doch die Fischwirtschaft lehnt dieses Verfahren rigoros ab. „Deren Vertreter setzten nach wie auf das klassische Wachstumsmodell“, sagt Beaucher. „Die entscheidende Frage lautet, ob die EU drei schwimmende Fischfabriken haben will, die alle Quoten vereinnahmt, oder den herkömmlichen Fischfang, der noch so ist, wie er sein sollte: ein Wirtschaftszweig, der die künftige Entwicklung im Blick hat und die örtlichen Ressourcen am besten einschätzen kann.“
Leider bedient die europäische Fischereipolitik in erster Linie solche politischen Interessen, die sich um die Erhaltung der Ökosysteme wenig kümmern. In Frankreich zeigt sich das etwa darin, dass der stellvertretende Fischereiminister Frédéric Cuvillier eng mit den großen Fischflottenbesitzern von Boulogne-sur-Mer verbandelt ist.
Allerdings geht die neue GFP ein Problem an, das große wie kleine Fischereinheiten betrifft: wie man den „Beifang“ vermeiden oder reduzieren kann. Wer noch nie auf einem Fischkutter war, kann sich nicht vorstellen, welche Mengen von toten Fischen, Krustentieren und kleinen Haien an Deck aussortiert und ins Meer zurückgeworfen werden. Der englische Forscher Robert Enever hat ermittelt, dass zwischen 2002 und 2005 auf englischen Trawlern zwei von drei gefangenen Fischen tot wieder über Bord gingen.
Für 72 Prozent dieses toten Beifangs ist das Schleppnetz verantwortlich, das infolge des Marktdrucks und der Subventionen zum weltweit meistgenutzten Fischereigerät geworden ist. In den letzten Jahren haben Forscher in Zusammenarbeit mit den Fischern Langzeitstudien über die Sortierung der Fangerträge an Bord der Schiffe durchgeführt. In Schottland und Norwegen führte dies zu sinnvollen Vereinbarungen mit dem Ziel: „null Beifang“. Dabei werden zusätzliche Quoten für verantwortungsvolleren Fischfang vergeben und Videokontrollen an Bord installiert, um eine lückenlose Kooperation zwischen Fischern, Wissenschaftlern und Behörden zu gewährleisten.
Eine zweite wichtige Maßnahme der GFP-Reform hätte den Vorteil, dass sie nicht nur nichts kostet, sondern sogar etwas einbringt: Die EU-Kommission will den Fischern verbieten, ihren Beifang ins Meer zu werfen. Stattdessen sollen sie ihn an Land bringen, damit er zu Futtermitteln für Fischfarmen verarbeitet werden kann. Gegen diesen Plan gibt es allerdings entschiedene Einwände, und das nicht nur von den Fischern. So untersucht Jean-Pascal Bergé vom französischen Forschungsinstitut für Meereswirtschaft, was die Verpflichtung, den gesamten Fang an Land zu bringen, für das Bordleben der Crew und ihre Sicherheit bedeuten würde, aber auch für die Einhaltung der veterinär- und lebensmittelrechtlichen Bestimmungen.
Auch für François Chartier von Greenpeace zielt der Vorschlag auf „eine falsche Lösung, die zur Erhaltung der Ressource Fisch nicht sinnvoll ist“. Er glaubt, dass die EU-Kommission schlicht dem Druck einer immer stärker werdenden Lobby, nämlich den Fischzüchtern, nachgegeben hat. Und auch der EU-Ministerrat hat Ende Juli die schrittweise Einführung der Maßnahme empfohlen, ohne andere Lösungen für das Beifangproblem auch nur in Betracht zu ziehen.
Man fragt sich zudem, wie die EU-Kommission die Umsetzung ihrer Reform überwachen will. Bekanntlich fallen die Kontrollen unter die eifersüchtig gehütete Hoheit der Mitgliedstaaten, und ebenso bekannt ist, dass Paris und vor allem Madrid betrügerische Praktiken irritierend lax behandeln. Ende 2011 wurde Frankreich vom Europäischen Gerichtshof wegen anhaltender Verstöße gegen den Schutz der Fischbestände zur Zahlung einer Strafe von 57,7 Millionen Euro verurteilt.
Welchen Schwierigkeiten die Kontrolleure bei ihrer Arbeit begegnen können, musste ein Team erfahren, das 2009 von der EU-Kommission in zwei Häfen in Galizien entsandt worden war: Gleich zu Beginn wurden ihrem Auto auf dem Hotelparkplatz sämtliche Reifen zerstochen. Dennoch konnten die Kontrolleure etwa zehn Boote inspizieren und zählten dabei an einem einzigen Tag 200 Tonnen Seehecht – während Spanien für den ganzen vorangegangenen Monat für beide Häfen lediglich 620 Tonnen gemeldet hatte.
Fisch und Meeresfrüchte sind im internationalen Handel ein bedeutender Posten: 37 Prozent des Fangvolumens gehen heute auf den Weltmarkt (1975 waren es 24 Prozent).
Die Globalisierung hat, so beschreibt es Daniel Pauly, ein soziales und geopolitisches Paradox hervorgebracht: Die Menschen, die ernährungsphysiologisch keinen Fisch nötig haben, „die Bewohner der reichen Länder, verzehren 80 Prozent der gefangenen Fische“. 1979 hat die Europäische Union begonnen, ihre chronische Überkapazität an Fischtrawlern nach Süden zu verlagern. Hier konnten sie sich dank der schwachen staatlichen Strukturen äußerst lukrative Fanggebiete erschließen, die durch bilaterale Partnerschaftsabkommen (FPA) abgesichert wurden. In diesen Regionen bringen die europäischen Trawlerflotten inzwischen 8 Prozent ihres Fangvolumens ein (am Marktwert gemessen liegt der Anteil wesentlich höher).
Solche Abkommen hat die EU mit 16 Ländern in Afrika, der Karibik und im Pazifik geschlossen, etwa Guinea-Bissau, Madagaskar und die Seychellen.6 Im Dezember 2011 stimmte das Europäische Parlament gegen die Verlängerung des Fischfangabkommens mit Marokko. Grund war aber nicht die bedrohte Nahrungsmittelsicherheit des Landes, sondern der rechtlich noch immer ungeklärte Status der Westsahara.
Exemplarisch für sämtliche Fehlentwicklungen der Gemeinsamen Fischereipolitik ist das neue, im Juli 2012 ratifizierte Abkommen zwischen der EU und Mauretanien. Wegen der Konkurrenz zwischen der EU und China gelang es dem damaligen Chef der mauretanischen Fischereibehörden, Cheikh Ould Ahmed Baya, den Preis in die Höhe zu treiben. Das Ergebnis war der teuerste Fischereivertrag der Welt: Brüssel zahlt jetzt 113 Millionen Euro jährlich an Entschädigung.
Gekauft wurde damit das Recht auf Zugang zu den mauretanischen Territorialgewässern für eine unbegrenzte Zahl europäischer Schiffe. Die wurden damit zur direkten Konkurrenz der lokalen Kleinfischer. Für die Fangmenge der EU-Trawler gilt zwar theoretisch eine Obergrenze von 307 400 Tonnen pro Jahr, aber – so erläutert Beatriz Gorrez, Koordinatorin der Koalition für faire Fischereiabkommen Cape/CFFA (Coalition for Fair Fisheries Arrangements) – „die EU-Kommission hat noch nie besonders viel Kontrollinstrumente eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Landesgesetze eingehalten werden“. Und Mauretanien fehlen, wie den meisten FPA-Unterzeichnerstaaten, die notwendigen technischen und logistischen Mittel, um die europäischen Fischtrawler zu kontrollieren.
Die Legitimität des bilateralen Abkommens ist auch deshalb fragwürdig, weil es offensichtlich keine demokratische Kontrolle der Entschädigungszahlungen vorsieht. Obgleich die EU-Flotte die erste und wichtigste Einkommensquelle des Staates darstellt, lebt die Hälfte der mauretanischen Bevölkerung weiterhin unterhalb der Armutsgrenze. Zudem ist der Konsum von Fisch und Meeresfrüchten in den letzten zehn Jahren von 11 auf 9,5 Kilo pro Einwohner zurückgegangen.
Die Bucht von Nouadhibou im Norden des Landes ist wegen ihres internationalen Schiffsfriedhofs mit etwa 200 Wracks zu trauriger Berühmtheit gelangt. Wenn man am Hafendeich aufs Meer blickt, kann man am Horizont die riesigen spanischen Trawler sehen. Bei diesem Anblick meint der alte Fischer Salmi Querdani: „Das Geld aus Brüssel sollte eigentlich dazu dienen, unsere Fischwirtschaft hier weiterzuentwickeln, aber in unserer Region haben wir von Europa bis jetzt nichts zu Gesicht bekommen als die großen Trawler.“ In dem Land mit tief verwurzelter Korruption haben nur die Parteigänger des Aziz-Regimes Kontrolle über die Entschädigungsgelder, die Fischfanglizenzen und die Zolleinnahmen.7
Der General Mohamed Ould Abdel Aziz ist mit dem Staatsstreich vom 6. August 2008 der neue Herr des Landes geworden. Dennoch erklärte der Europarat schon 2009 mit der Stimme des EU-Botschafters und Delegationsleiters Hans-Georg Gerstenlauer, die „Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung in Mauretanien“ gestatte wieder eine „vollständige Zusammenarbeit“.
Obwohl außer Zweifel steht, wie einseitig die Kosten-Nutzen-Rechnung dieser Fischereiabkommen ausfällt, „gehören sie zu den wenigen Instrumenten, mit denen die Schiffseigner zumindest minimal gezügelt werden können“, argumentiert Beatriz Gorrez. Insgesamt tendiere die EU-Politik in Richtung eines „neoliberalen Managementmodells, das den europäischen Reedern immer stärker die Rolle des Finanzierungspartners andient. Die EU läuft dabei Gefahr, jedes Mitspracherecht zu verlieren.“ Hier liegt das große Paradox dieser Abkommen: Wo es keine gibt, fällt die Bilanz für die Afrikaner noch schlechter aus. Länder wie Senegal, Mauritius und Angola, die ab 2006 die Verlängerung der Fischereiabkommen mit der EU verweigert haben, müssen mitansehen, wie europäische Trawler zusehends „senegalisiert“ werden. Das Prinzip ist bekannt: Die Schiffe fahren unter senegalesischer Flagge, aber Kapitäne und Reeder sind meist Ausländer. Was das bedeutet, erklärt Stéphan Beaucher: „Die örtlichen Fischer haben die Subsistenzfischerei aufgegeben, um Speisefische für den internationalen Handel zu fangen, die Folge ist eine Versorgungskrise auf dem einheimischen Markt.“ Die Bilanz nach zwanzig Jahren Fischereiabkommen und „senegalisierten“ Fischfangflotten ist eindeutig: Die Bestände der vier wichtigsten Speisefischarten (Seezunge, Dorade, Zackenbarsch und Fingerfisch) sind um 75 Prozent geschrumpft.
Recht des Stärkeren in somalischen Gewässern
Wenn ein Staat zusammengebrochen ist, wie in Somalia, fischen die Europäer im Zweifelsfall ohne Lizenzen oder mit gefälschten Dokumenten, ausgestellt von mafiaähnlichen Organisationen, die somalische Warlords in Katar aufgebaut haben. Mit diesem System arbeiten etwa der spanische Branchenriese Pescanova und die bretonische Cobrecaf,8 die zudem von der Anwesenheit der internationalen Flotte zum Schutz gegen die Piraterie profitieren. Denn die somalischen Fischer können die illegalen Konkurrenten nicht vertreiben, „aus Angst, selbst als Piraten abgestempelt und von den ausländischen Marineschiffen angegriffen zu werden“, schreibt der Journalist Mohamed Abshir Waldo.9
In Kismaju, Berbera und Mogadischu wird jeden Tag im örtlichen Radio gemeldet, wenn wieder fremde Schiffe aufgetaucht sind. „Die Menge an Fischen, die dort gefangen wird, beeinträchtigt die Überlebensfähigkeit der Somalier, denn die westlichen Schiffe fangen in einer Nacht so viel wie die somalischen Fischer in einem Jahr“, sagt Roger Middleton vom britischen Thinktank Chatham House. Die Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass vor Somalias Küste 800 ausländische Schiffe Fisch im Wert von 300 bis 450 Millionen Dollar pro Jahr fangen, vor allem Thunfisch, Garnelen und Langusten.
Die somalische Übergangsregierung hat keine Chance, das zu unterbinden. Sie verfügt lediglich über einen Jahreshaushalt von 100 Millionen Dollar und über keine Marine, die entlang der 3 300 Kilometer lange Küste des Landes über die Einhaltung der Gesetze wachen könnte. Das ist der Grund, erklärt der Fischer Abdul Jama, den wir am alten Hafen von Mogadischu treffen, dass die Bewohner von Puntland die Fischerei aufgegeben haben, um ihren Lebensunterhalt durch Piraterie zu sichern.
Hier im Lande hört man auch, dass die beiden riesigen, im Baskenland registrierten Thunfischtrawler „Alakrana“ und „Artza“, die 2009 respektive 2010 von Piraten angegriffen wurden, sich damals durch die ausschließliche Wirtschaftszone Somalias bewegt haben. Über die Piraten meint Hukun Husein Yussuf, Chef der Fischergewerkschaft von Berbera in Somaliland: „Natürlich vertreiben sie die ausländischen Schiffe, aber manche schrecken auch nicht davor zurück, uns zu erpressen.“ Inzwischen gibt es fünf Piratenorganisationen mit insgesamt etwa 1 000 Mitgliedern, wobei sich den „ehemaligen Fischern“ inzwischen auch Milizionäre, Navigationsexperten und Geschäftsleute angeschlossen haben.
Als Antwort darauf hat die EU im Dezember 2008 die mit 150 Millionen Euro finanzierte Militäroperation „Atalanta“ gestartet.10 Neben der britischen und der deutschen sind dabei die französische und die spanische Marine mit Zerstörern und Aufklärungsflugzeugen besonders stark engagiert. Zu den Aufgaben von „Atalanta“ gehört es allerdings nicht, den illegalen Fischfang der Europäer einzudämmen: „Das ist weder meine Aufgabe noch mein Mandat“, erklärte im August 2009 der damalige Chef der „Atalanta“-Flotille, der britische Admiral Peter Hudson.11
Die Aktivitäten der im galizischen Ribeira (Spanien) ansässigen Reederei Vidal Armadores sind das schlagendste Beispiel für die dunklen Geschäfte, die in den Fangzonen von Ländern möglich werden, die über keine effektive Regierungsgewalt verfügen. Ans Licht kamen die Praktiken dieser Firma im April 2008, als die neuseeländische Küstenwache einen unter der Flagge Namibias fahrenden Kühlfrachter kontrollierte. Die „Paloma V.“ hatte Fisch von zwei nordkoreanischen Booten namens „Chilbo San 33“ und „Black Moon“ und von zwei spanischen Schiffen namens „Belma“ und „Galaecia“ an Bord. Die Neuseeländer deckten das bekannte Geflecht der Piratenfischerei auf: Alle vier Schiffe gehörten der Reederei Vidal. Die „Black Moon“ war in den vorangegangenen sieben Jahren sechsmal umgetauft worden, war unter verschiedenen Flaggen gefahren und bereits in Uruguay, St. Vincent und den Grenadinen, Nordkorea und Äquatorialguinea registriert gewesen.
Vidal wurde niemals verurteilt – im Gegenteil, Madrid zahlte dem Reeder 3,6 Millionen Euro an Subventionen, von denen 2,6 Millionen für „Fischereiforschung“ ausgewiesen waren. Esther Montero von Greenpeace Spanien fällt da nur der ironische Kommentar ein: „Geforscht haben die wahrscheinlich nach neuen ausbeutbaren Fischbeständen und nach bestechlichen Hafenbehörden.“
Was zu tun ist
Einer der schärfsten Kritik der Fischereipolitik der Europäischen Union ist John Vidal. Der Umweltredakteur der Zeitung The Guardian findet die Subventionen von knapp einer Milliarde Euro, mit denen Brüssel eine jenseits der EU operierende Fischereiflotte unterstützt, geradezu unanständig. Denn diese Hochleistungstrawler fangen den ärmsten Völkern der Welt die Fische vor der Nase weg.
Warum lassen sich afrikanische Staaten auf Fischereiverträge mit der EU ein, die ihre ureigenen Interessen verletzen? Obwohl die Umweltschäden und der Raubbau an ihren Ressourcen weit schwerer wiegen als ihre kurzfristigen finanziellen Vorteile, haben sie keine andere Wahl: „Die meisten Regierungen sind auf die Einnahmen in harter Währung angewiesen, um ihre Auslandsschulden – oft gegenüber EU-Ländern – abzuzahlen und ihre Wirtschaft anzukurbeln.“1
Auf die Frage, was zu tun sei, verweist Vidal auf Forderungen von afrikanischen Organisationen, Greenpeace und der britischen Environmental Justice Foundation (EJF):
– Keine Fangschiffe unter Billigflagge, die illegales Fischen vor Verfolgung und Strafmaßnahmen schützt;
– Keine EU-Subventionen mehr, die legalen Fangflotten erhöhten Anreiz bieten, die Fischbestände von Entwicklungsländern zu plündern – auf Kosten der einheimischen Fischer;
– Internationale Maßnahmen zum Kampf gegen illegale, nicht registrierte und unregulierte Fangaktivitäten;
– Stärkung der Küstenwache und Marinepatrouillen von Entwicklungsländern, die sich gegen illegales Fischen zur Wehr setzen;
– Sukzessive Verkleinerung der ausländischen Fischereiflotten;
– Einrichtung großräumiger maritimer Schutzzonen;
– Verpflichtung für ausländische Trawler, einen Teil ihres Fangs in dem Land zu vermarkten, in dessen Gewässern sie fischen.
Falls diese oder ähnliche Vorschläge nicht realisiert werden, prophezeit John Vidal, werden die westafrikanischen Fischvorkommen genauso schnell erschöpft sein wie die Kabeljaubestände vor der kanadischen Neufundlandküste. Niels Kadritzke
Fußnote: 1 „Seven steps to prevent the collapse of West Africa’s fishing grounds“, Guardian Weekly.