10.12.2015

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Bevölkerungsentwicklung in Afrika

von Henri Leridon

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Nach neuesten Prognosen könnte sich Afrikas Bevölkerung bis 2050 auf 2,4 Milliarden verdoppeln und um das Jahr 2100 die 4-Mil­liar­den-­Schwelle erreichen.1 Das wird einschneidende Folgen auf die Entwicklung des gesamten Kontinents haben, insbesondere wenn man sich die ökonomischen Wachstumszahlen anschaut.

Laut dem jüngsten Konjunkturbericht2 dürfte das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das in den vergangenen vier Jahren bei durchschnittlich 4,5 Prozent lag, 2015 und 2016 stabil bleiben. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, vergleicht man diese Zahlen mit denen der Eurozone (0,9 Prozent im Jahr 2014) oder Lateinamerikas (1,7 Prozent). Beim Wachstum des Pro-Kopf-BIPs sieht es allerdings schon weniger rosig aus: 1,6 Prozent in Subsahara-Afrika gegenüber 0,4 Prozent in der Eurozone, 0,6 Prozent in Lateinamerika und sogar 6 Prozent in Asien. Anders gesagt: Das Bevölkerungswachstum könnte in den nächsten Jahrzehnten dazu führen, dass sich die allgemeinen Lebensbedingungen in den meisten afrikanischen Ländern nur im Schneckentempo verbessern.

Afrikas demografische Wachstumsrate liegt mit 2,5 Prozent pro Jahr weit über dem weltweiten Durchschnitt von 1,2 Prozent. Dieser Zahl nähern sich aber nur Lateinamerika und Asien an, in Nordamerika fällt das Bevölkerungswachstum hingegen weit geringer aus (0,4 Prozent), und in Europa stagniert es quasi. Afrika entzieht sich also dem Trend sinkender Sterblichkeits- und Geburtenraten. Fraglich ist, ob es sich dabei tatsächlich nur um eine Verzögerung handelt. Meistens zeichnet sich ein solcher demografischer Übergang nämlich dadurch aus, dass zuerst die Sterblichkeitsrate zurückgeht, bevor weniger Kinder geboren werden. In dieser gewissermaßen instabilen Zwischenphase kommt es in der Regel zu einem massiven Bevölkerungswachstum. Und je länger diese Phase anhält, desto stärker ist das Wachstum.

In Lateinamerika und Asien lagen über mehrere Jahrzehnte hinweg die demografischen Wachstumsraten bei jährlich 2 Prozent oder mehr. In Subsahara-Afrika liegt diese Quote seit sechzig Jahren über der 2-Prozent-Schwelle, und das könnte noch mehrere Jahrzehnte so bleiben. Abgesehen von Nordafrika, wo die Entwicklung völlig anders verlief,3 ist der Kontinent demografisch betrachtet also durchaus eine Besonderheit.

Diese Situation ist das Ergebnis einer anhaltend hohen Fertilitätsrate. Abgesehen davon, dass diese Rate ohnehin sehr hoch war, ging sie zu Beginn des demografischen Übergangs in Subsahara-Afrika langsamer zurück als in Südamerika oder Asien. Diese beiden Regionen verzeichneten letztmals vor vierzig Jahren eine Fertilitätsrate, wie sie in Afrika noch heute zu finden ist. Das Bevölkerungswachstum lässt sich teilweise auch auf einen Rückgang der Sterblichkeit zurückführen.

Die Lebenserwartung liegt auf dem afrikanischen Kontinent zwar ­immer noch deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt (70,5 Jahre zwischen 2010 und 2015), aber sie ist seit 1950 um mehr als 20 Jahre gestiegen, von 36 auf heute 57 Jahre. Die leicht rückläufige Fertilti

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Bevölkerungsentwicklung in Afrika

von Henri Leridon

Fertilitätsrate wurde also durch die sinkende Sterblichkeitsrate (Anzahl der Todesfälle bezogen auf die Gesamtbevölkerung) wieder ausgeglichen.

Diese Entwicklung ist eher atypisch. In der Regel nimmt mit der Sterblichkeit, insbesondere bei Säuglingen und Kindern, auch die Fertilitätsrate ab. Manchmal erfolgt diese Anpassung etwas verzögert, aber grundsätzlich stellt sie sich dann ein, wenn die Eltern merken, dass deutlich mehr ihrer Kinder überleben. Seit 1950 ist die Kindersterblichkeit (zwischen 0 und 5 Jahren) südlich der Sahara von 30 auf 10 Prozent gesunken. Bislang hat sich dies aber nicht auf die Fertilitätsrate ausgewirkt.

In Afrika, wo die meisten Kinder ehelich – oder in einer anderen anerkannten Form der Partnerschaft – geboren werden, ist zum Beispiel das Alter ein wichtiger Faktor. In Tunesien hat der Anstieg des Erstheiratsalters deutlich zum Rückgang der Fertilitätsrate beigetragen. Südlich der Sahara wird hingegen immer noch sehr jung geheiratet, wie eine Studie aus 30 Ländern gezeigt hat.4 In zwei Dritteln dieser Länder waren über die Hälf­te der befragten Frauen zwischen 20 und 25 Jahren bereits vor ihrem 20. Lebensjahr verheiratet, in 7 Ländern sogar 75 Prozent. Eine 2013 veröffentlichte Studie, in welcher die Ergebnisse der zwei jüngsten Umfragen in 34 Ländern Subsahara-Afrikas mit­ein­an­der verglichen wurden, ergab einen durchschnittlichen Anstieg des Hei­rats­al­ters um 0,3 Jahre innerhalb von fünf Jahren.5 Das Heiratsalter steigt also nur sehr langsam und in manchen Ländern gar nicht.

An der Fertilitätsrate eines Landes lässt sich meistens gut ablesen, wie viele Kinder tatsächlich gewünscht sind. Von Zwangsmaßnahmen wie in China (die 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik wurde erst 2015 abgeschafft) oder in Indien (Kampagnen zur Massensterilisationen seit 1976) abgesehen, ist der Wunsch nach weniger Kindern die wichtigste Voraussetzung dafür, dass weniger Kinder gezeugt beziehungsweise ausgetragen werden.

In den meisten Entwicklungsländern ist die Anzahl der gewünschten Kinder auf 2 oder 3 zurückgegangen. Nur in Afrika ist das offensichtlich immer noch anders. In einer Umfrage unter verheirateten Frauen lag die „idea­le Kinderzahl“ in 18 von 26 Ländern bei durchschnittlich mehr als 5 Kindern.6 Sofern auch Männer befragt wurden, waren es fast überall mehr als 5, und in 6 Ländern über 8 Wunschkinder pro Elternpaar. Den Rekord erreichte mit 13,7 Kindern der Tschad. Wenn sich die Eltern und insbesondere die Väter eine große Familie wünschen, liegt dies meist daran, dass Kinderreichtum als Quelle von Wohlstand gilt. Der Nachwuchs kann auf den Feldern helfen, das Vieh hüten und später kleine Jobs in der Stadt finden.

Dementsprechend ist Empfängnisverhütung kein großes Thema. Während 2013 weltweit 63 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in einer Paarbeziehung verhüteten (davon 57 Prozent mittels Pille, Spirale oder Sterilisation), lag dieser Anteil in Subsahara-Afrika bei 25 bis 20 Prozent und in Zentral- und Westafrika noch darunter. Die niedrigen Quoten in Tschad, Guinea, Mali oder Eritrea (unter 10 Prozent) illustrieren, wie die Entscheidungsträger in Politik und Gesundheitswesen diese Frage entweder ignorieren oder Kinderreichtum propagieren.

In einer regelmäßig von den Vereinten Nationen veranstalteten familien­politischen Umfrage erklären zwar sämtliche westafrikanischen Regierungen, einschließlich Mali und Niger, dass sie die Geburtenrate in ihren Ländern senken möchten. Allerdings folgen auf diese Absichtserklärungen keine Taten. So sind etwa Verhütungsmittel in diesen Ländern immer noch schwer erhältlich. Für diese Politiker ist ein rasantes Bevölkerungswachstum nach wie vor ein Wohlstandsindikator.7

Doch allmählich beginnt auch in Afrika ein Umdenken. 2011 unterzeichneten 9 westafrikanische Regierungen, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), die französische Entwicklungsbank (AFD) und mehrere große private Stiftungen in der Hauptstadt von Burkina Faso die „Partnerschaft von Ouagadougou“, ein Abkommen zur Förderung der Fami­lien­pla­nung.

Und es gibt bereits einige lokale Ini­tia­tiven: In Niger gründete die NGO Animas-Sutura 2007 einen Radiosender für die Landbevölkerung, der über Familienplanung, Hygiene, Ernährung und Gesundheit informiert und in über 20 Dörfern empfangen werden kann. Zwar ist auf dem Land der Anteil der Paare, die verhüten, mit rund 20 Prozent noch relativ bescheiden, aber in urbanen Milieus ist diese Quote auch nicht viel höher. Im Süden von Burkina Faso veranstaltet der Frauenverein von Gaoua (APFG) Kurse zur Alphabetisierung und Familienplanung und vermittelt handwerkliche Ausbildungen. Sogar die globale Wissenschaftsgemeinschaft nimmt sich inzwischen des Problems an.8

Demografische Entwicklungen verlaufen sehr langsam. Daher kann man davon ausgehen, dass die Prognosen für 2050 realistisch sind. Die eingangs genannten Zahlen entsprechen dem Mittelwert der jüngsten UN-Berechnungen, die von einem starken Rückgang der Fertilitätsrate ausgehen. Demnach müsste die durchschnittliche Kinderzahl innerhalb von etwas mehr als einer Generation von 5 auf 3 zurückgehen.

Im Radio gibt es Tipps zur Familienplanung

Gelänge es, diesen Prozess zu beschleunigen (auf 2,6 Kinder bis zum Jahr 2050 nach der niedrigsten UN-Schätzung), hätte Afrika 2050 eine Bevölkerung von 2,2 Milliarden Menschen. Das wären nur 10 Prozent weniger als der Mittelwert aller Prognosen. Bis 2100 wäre der Rückgang deutlich spürbarer: minus 40 Prozent. Dieser Vergleich zeigt, dass eine frühzeitige Änderung der Verhaltensmuster unerlässlich ist, um langfristig eine signifikante Wirkung zu erzielen.

In Algerien, Ägypten, Marokko und Tunesien vollzog sich der demografische Übergang deutlich schneller. Dort liegt die Fertilitätsrate zwischen 2 und 3 Kindern pro Frau; die Verwendung von Verhütungsmitteln liegt zwischen 60 und 68 Prozent, und 52 bis 58 Prozent greifen zu modernen Methoden wie der Pille. Damit liegen diese Länder im weltweiten Durchschnitt. In Subsahara-Afrika gilt das nur für Südafrika (60 Prozent, nahezu ausschließlich moderne Methoden), gefolgt von Kenia und Malawi mit einer Quote von 46 Prozent.

Verhütung ist also möglich. Doch wenn internationale Programme wenig Rücksicht nehmen auf die jeweiligen lokalen Bedingungen, werden sie früher oder später an ihre Grenzen stoßen. Selbst in Ländern wie Ghana oder Kenia, wo sie einen gewissen Erfolg verzeichnen konnten, stagnierte der Rückgang der Kinderzahl bei 4 bis 5 Geburten pro Frau.

Das liegt auch daran, dass Regierungspolitiker, Geistliche und andere Meinungsführer viel zu wenig einbezogen werden. Es ist gar nicht immer nötig, dass Regierungen offi­ziel­le Kampagnen zur Verhütung starten. Wie die Beispiele Algerien und Iran zeigen, würde es schon genügen, wenn der Staat den Organisationen und privaten Initiativen mehr Handlungsfreiheit gewährt.

Am wichtigsten und wirksamsten ist die direkte Mobilisierung der Frauen. Auch wenn sich das nicht immer und überall bestätigen lässt, so geht man doch im Allgemeinen davon aus, dass das Bildungsniveau dabei eine ­entscheidende Rolle spielt. In ­West­afrika hatten 2010 rund 46 Prozent der Frauen (und 31 Prozent der Männer) zwischen 20 und 39 Jahren nie eine Schule besucht.9

Der Bildungsnotstand ist nur eine Misere von vielen, die man bekämpfen muss. Zweifellos würde ein schwächeres demografisches Wachstum dazu beitragen, die Lebensumstände in den meisten afrikanischen Ländern zu verbessern. Investitionen in die Bildung und Gleichberechtigung von ­Frauen könnten dabei eine „Ver­hütungs­revo­lution“ auslösen. Das wäre, auch jenseits der Geburtenkontrolle, für den gesamten Gesundheitssektor ein Segen.

1 Siehe United Nations Population Division, „2015 Revision of World Population Prospects“: esa.un.org/unpd/wpp/.

2 Siehe „African Economic Outlook 2015“, herausgegeben von der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfEB), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und dem United Nations Development Programme: www.africaneconomicoutlook.org.

3 Siehe „Afrique subsaharienne: une transition démographique explosive“, Futuribles, Nr. 407, Paris, Juli/August 2015.

4 Charles F. Westoff, „Trends in marriage and early childbearing in developing countries“, DHS Comparative Reports, Nr. 5, Maryland, USA (Calverton) 2003.

5 USAID, „Indicators of trends in fertility in Sub-Saharan Africa“, DHS Analytical Studies, Nr. 34, Calverton, August 2013.

6 USAID, „Desired number of children: 2000–2008“, DHS Comparative Reports, Nr. 25, Februar 2010.

7 Vgl. Jean-Pierre Guengant, „Comment bénéficier du dividende démographique?“, À savoir, Nr. 9, Paris, Institut de recherche pour le développement (IRD) und Agence française de développement (AFD), September 2011: www.afd.fr.

8 John Bongaarts, „Africa’s unique fertility transition“, Rede vor der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften, Washington, D. C., 14. Juni 2015.

9 Wittgenstein Centre Data Explorer, 2014: www.wittgensteincentre.org.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Henri Leridon ist emeritierter Forschungsdirektor des Nationalen Instituts für Demografische Studien ­(INED), Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2015, von Henri Leridon