Straftatbestand Ökozid
Warum es höchste Zeit ist für ein internationales Klimatribunal
von Agnes Sinai
Auf einer künstlichen Insel in der Lagune von Lagos in Nigeria entsteht derzeit Eko Atlantic City. Die „nachhaltigste Stadt Afrikas“, in der bald 250 000 Menschen leben sollen, könnte Ende des Jahrhunderts schon wieder verschwunden sein. Denn mit einem durch den Klimawandel ansteigenden Meeresspiegel könnte Nigerias Küstenregion bis zu 90 Kilometer ins Landesinnere überspült werden. Eko Atlantic City würde dann zu einer Ruine, die künftigen Geologen Auskunft über die Erdgeschichte geben kann.
Im Pliozän, vor 3 Millionen Jahren, enthielt die Erdatmosphäre so viel Kohlendioxid wie heute. Es war 2 bis 4 Grad Celsius wärmer, der Meeresspiegel 10 bis 20 Meter höher. Niemand weiß genau, wie schnell das Eis der Antarktis schmelzen wird. Manche Forscher, wie vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, gehen davon aus, dass der Meeresspiegel um 3 Meter pro Jahrhundert ansteigt, wenn wir alle verfügbaren fossilen Energieträger verbrennen.1 Die gegenwärtige chemische Zusammensetzung der Atmosphäre ist anders als während der letzten Million Jahre. Ein Temperaturanstieg von 3 Grad Celsius, wie er im Lauf des 21. Jahrhunderts erreicht werden könnte, würde eine abrupte Klimaveränderung bedeuten, vergleichbar mit der Erderwärmung am Übergang von der letzten Eis- zur heutigen Warmzeit, nur erheblich schneller: Damals stieg die Temperatur alle 1000 Jahre um etwa 1 Grad.
Die Spuren des industriellen Zeitalters – ein Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit – werden noch in 1000 Jahren vorhanden sein. Im Jahr 3012 wird die Atmosphäre noch 30 Prozent des heutigen CO2 enthalten. Innerhalb von zwei Generationen ist die Menschheit zu einer geologischen Macht geworden. Das menschliche Handeln hat die Erde in einem Ausmaß dauerhaft verändert, wie das in der Vergangenheit Eiszeiten, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge taten.
Urbanisierung, Staudämme, Industrieproduktion, Bergbau und Landwirtschaft haben in den geologischen Schichten eine Vielzahl von für das Anthropozän charakteristische Fossilien hinterlassen. Neuartige Stoffe wie Radionuklide, fluorierte Gase oder Substanzen aus der Bio- und Nanotechnologie, die seit 1945 durch menschliche Aktivitäten in die Atmosphäre gelangen, sind eine weitere Signatur dieses Erdzeitalters. Die Globalisierung der Petrochemie hat eine „Paläontologie des Plastiks“ hervorgebracht, wie es der britische Geologe Jan Zalasiewicz nennt. Rußpartikel aus der industriellen Produktion sind bis zum Nordpol nachweisbar. Die Spuren der Industrieländer werden für Jahrtausende in den Boden-, Luft- und Meeresschichten erhalten bleiben.
Der Klimawandel steht in direktem Zusammenhang mit dem, was der Geograf Will Steffen, der Geochemiker Paul Crutzen und der Historiker John McNeill die „große Beschleunigung“ in der Geschichte der Menschheit genannt haben.2 Die bald nach dem Zweiten Weltkrieg beginnende Phase des Überflusses fällt mit dem goldenen Zeitalter des Erdöls, der Dekolonisierung und der Demokratisierung des Konsums zusammen.
Die Reaktionen der Vereinten Nationen auf diese rasanten Veränderungen wirken unerhört langsam. Es gelingt der UNO nicht, das rein gewinnorientierte Wirtschaftssystem infrage zu stellen und die drängenden Energie-, Gerechtigkeits- und Entwicklungsprobleme anzugehen. Die Vertragsentwürfe für die Weltklimakonferenz im Dezember 2015 in Paris, die auf zähen Vorbereitungssitzungen in Genf und in Bonn erarbeitet wurden, sind das hochkomplexe Ergebnis der Suche nach Einigkeit unter 196 Ländern.
Die Verhandlungen finden in einer Blase statt und treten auf der Stelle, auch wegen der großen Unwägbarkeiten und schwer prognostizierbaren Szenarien, die der Klimawandel der Umweltdiplomatie zumutet. Im Verlauf der UN-Klimakonferenzen ist es den Umweltpolitikern nicht gelungen, angemessene Ideen und Instrumente zu entwickeln. Realitätsblind halten sie sich an die gewohnten Kostenrechnungen und an statistische Wahrscheinlichkeiten.
Paläontologie des Plastiks
In ihrem Glauben an unbegrenztes Wachstum behandelt die industrielle Moderne die Natur, als sei sie ein gegebener Bestand an Ressourcen, eine Art Goldesel, der sicherstellt, dass die Leistungen der Ökosysteme bezahlt werden. Schon das Kioto-Protokoll hatte ganz auf marktwirtschaftliche Mechanismen gesetzt, um die Umwelt zu schützen, als wäre das Klima ein ökonomisches Gut. Mit „flexiblen Mechanismen“ sollte der Schadstoffausstoß dort reduziert werden, wo es ökonomisch am wenigsten wehtut. Mit dem REDD-Mechanismus (Verringerung von Emissionen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung) wurde die Kompensationslogik dann auf die durch Waldschädigung verursachten CO2-Emissionen ausgedehnt. In Europa ist der Handel mit Verschmutzungszertifikaten bekanntlich grandios gescheitert.
Das 2-Grad-Ziel ist ebenfalls typisch für dieses Denken, das von der Berechenbarkeit der Natur ausgeht. Niemand weiß, wann der Kipppunkt erreicht ist, an dem das Klima für die Menschheit zur Katastrophe wird. Es ist also fragwürdig, Obergrenzen für Treibhausgase festzulegen. Die Autoren des Buchs „Gouverner le climat?“ bezeichnen die extreme Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Schädigung des Klimas und den seit nunmehr 20 Jahren stattfindenden multilateralen Klimaverhandlungen als ein „Realitätsschisma“.3 Die Probleme, die durch die Verbrennung fossiler Stoffe entstanden sind, allein durch eine Verringerung des Schadstoffausstoßes beheben zu wollen, ist aussichtslos – wenn nicht der Abbau fossiler Brennstoffe überhaupt infrage gestellt wird. Das gilt auch für die Art der wirtschaftlichen Entwicklung, die Regeln des internationalen Handels.
Die UN-Klimarahmenkonvention UNFCCC hat leider keinerlei Einfluss auf das Freihandelssystem der Welthandelsorganisation (WTO), das sich um den Umweltschutz nicht schert. Ähnlich verhält es sich mit dem noch nicht ausverhandelten TTIP-Abkommen. Mit der Ceta-Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und Kanada öffnete Europa seine Tore für das durch Fracking gewonnene Öl aus dem kanadischen Bundesstaat Alberta. Die Pipeline Energy East, die das kanadische Unternehmen TransCanada baut, wird die europäischen Raffinerien versorgen. Laut einer Studie der US-Umweltschutzorganisation Natural Resources Defense Council (NRDC) sollen die EU-Importe von Erdöl aus kanadischem Ölsand, die 2012 bei täglich 4000 Barrel lagen, bis 2020 auf 700 000 Barrel pro Tag steigen.4
In der Klimakrise prallen die Geschichte unseres Planeten, die Geschichte der Menschheitsentwicklung und die Geschichte der Industrialisierung zusammen.5 Diese drei historischen Verläufe zwingen die modernen Gesellschaften immer wieder, ihr Denken zu korrigieren. Das irdische Leben ruht nicht auf stabilen Fundamenten. Das Anthropozän hat einen Bruch in der Erdgeschichte verursacht; wir müssen das Schicksal der Menschheit neu überdenken, mit dem Wissen, dass wir keinerlei Gewissheit über Schwelleneffekte, irreversibile Zustände und den möglichen Klimakollaps besitzen.
Der US-Klimaforscher James Hansen rät der Politik zum Ausstieg aus der Kohle. Es geht hier nicht um ein Vorsorgeprinzip, sondern um ein „Maximalprinzip“: Unter allen schlimmen Szenarien peilt man das am wenigsten schlimme an. Einer aktuellen Studie zufolge müsste auf die Förderung von einem Drittel der Erdöl-, der Hälfte der Erdgas- und mehr als 80 Prozent der Kohlereserven verzichtet werden, um die Überhitzung des Planeten zu verhindern.6 Denn die Nutzung der globalen fossilen Rohstoffe würde unter den gegenwärtigen Bedingungen einen Ausstoß von 2900 Gigatonnen Kohlendioxid bedeuten, das ist das Dreifache der maximalen Emissionsmenge, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen.
Überall regt sich Widerstand gegen den Abbau von Mineralien und fossilen Rohstoffen, vom Nigerdelta bis zum Yasuní-Gebiet in Ecuador.7 Selbst der Papst hat in der Enzyklika „Laudato si’“ („Gelobt seist du“) zur Mäßigung aufgerufen. Einige Thinktanks schlagen vor, eine feste Pro-Kopf-Emissionsquote einzuführen. Das von dem Wissenschaftler Anil Agarwal gegründete und der Umweltaktivistin Sunita Narain geleitete Zentrum für Wissenschaft und Umwelt (CSE) in Neu-Delhi unterscheidet zwischen den „zum Überleben notwendigen Emissionen“ der Armen und den „Luxusemissionen“ der Reichen und setzt sich für eine Pro-Kopf-Verteilung ein. Die Dubliner Foundation for the Economics of Sustainability (Feasta) empfiehlt, fossile Energieträger zum globalen Gemeingut zu erklären und zu rationieren: Ein internationaler öffentlicher Klimafonds solle jährlich Fördergenehmigungen für gewisse Mengen an fossilen Brennstoffen versteigern und die erzielten Gewinne gerecht auf die Erdbevölkerung verteilen.
Aber was ist Gerechtigkeit in Zeiten des Klimawandels? Wie könnte Gerechtigkeit zwischen den Generationen, zwischen kleinen Inselstaaten und Verschmutzerländern, zwischen Industriestaaten und Schwellenländern aussehen? Fest steht: Die Verantwortung für den Ausstoß der Treibhausgase liegt bis dato bei wenigen Ländern (12 bis 14) und einem kleinen Teil der Menschheit (ungefähr einem Fünftel).
Beim Umweltgipfel Rio+20 im Juni 2012 forderte ein Bündnis von mehr als 500 Organisationen ein Ende der Straffreiheit für internationale Konzerne. Die Bewegung End Ecocide on Earth setzt sich für die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs für Ökozid ein – ein internationales Tribunal, das Umweltverbrechen ahnden und das Umweltvölkerrecht weiterentwickeln soll. Damit könnte Prävention und Bestrafung von Umweltverbrechen auf globaler Ebene stattfinden. Der Ökozid würde, auf derselben Stufe wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als Schwerverbrechen gelten; ein internationaler Umweltstaatsanwalt würde ermitteln und ein internationaler Umweltgerichtshof sein Urteil sprechen.
7 Siehe Aurélien Bernier, „Öko-Poker um Ecuador“, Le Monde diplomatique, Juni 2012.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Agnès Sinai ist Journalistin und Herausgeberin von „Economie de l‘après-croissance. Politiques de l’anthropocène II“, Paris (Presses de Sciences Po) 2015.