Boomender Kunstmarkt in Rio
von Anne Vigna
Zwei Stunden muss man Schlange stehen, wenn man die ArtRio besuchen will. Auf dieser Messe in Rio de Janeiro, die im September zum fünften Mal stattfand, sind internationale Galerien fast ebenso gut vertreten wie brasilianische. Brasilien erlebte in den 2000er Jahren einen rasanten Aufstieg in der internationalen Kunstszene. Das Interesse für brasilianische Künstler wuchs – und auch die Zahl brasilianischer Millionäre und potenzieller Kunstsammler.
Die Galerie Mayoral aus Barcelona präsentiert hier Werke der klassischen Moderne. Angeboten wurden: eine Keramik von Picasso (geschätzt auf 15 000 Dollar), ein Tafelbild von Dalí (200 000 Dollar). Der Galerist sagt, er habe gut verkauft. Der brasilianische Real verliert seit Monaten rasant an Wert, und Kunst ist eine willkommene Geldanlage. „In diese Künstler können Sie blind investieren“, versichert Mayoral, „bei Gegenwartskunst, wo der Wert noch nicht fest etabliert ist, wäre das Risiko größer.“
Brenda Valansi hat die ArtRio mit gegründet. „Wir hatten uns anfangs eine kleine Veranstaltung mit 20 Galerien vorgestellt, aber schon im ersten Jahr kamen 82.“ Bei der älteren, seit 2005 bestehenden Messe von São Paulo waren dieses Jahr 120 Galerien zu Gast.
Die ArtRio hatte ihr gegenüber von Anfang an einen Vorteil: Einwohner des Bundesstaats Rio de Janeiro zahlen für die Einfuhr ausländischer Kunstwerke nur 20 Prozent Importsteuer, statt der sonst 41 Prozent. Alle internationalen Galerien geben zu, dass das ein wesentlicher Grund ist, weshalb sie nach Rio kommen. Auf der Messe werden Verkäufe offiziell getätigt, die vorher fest vereinbart wurden.
Beatriz Milhazes gehört zu den teuersten Künstlern Brasiliens. 2008 brachte ihr Gemälde „O Magico“ bei Sotheby’s 1,05 Millionen Dollar ein, Rekord für eine lebende brasilianische Künstlerin. Ebenso wie Adriana Varejão, die aktuelle Königin des Markts,1 hat sich Milhazes entschieden, in Brasilien zu bleiben. „Als ich 1982 anfing, herrschte noch die Diktatur [1964 bis 1984]. Wir hatten keine Ahnung, was im Ausland gemacht wurde, und ebenso wenig wusste die Welt, was wir taten. Als das Land wieder demokratisch wurde, traf ich in Rio die ersten Kuratoren, die dann Ausstellungen im Ausland organisierten. Erst als sich der Rest der Welt für uns interessiert hat, sind wir auch hier richtig groß geworden.“ Für Milhazes war der Auslöser ihre Teilnahme an der Ausstellung des Carnegie Museum of Art in Pittsburgh 1995.
Auch der französisch-brasilianische Künstler Roberto Cabo, der Brasilien in den 1980er Jahren verlassen hatte, würdigt die enorme Entwicklung. „Als ich wegging, gab es nichts: keinen Markt, eine Handvoll Sammler und Künstler, sehr wenig Ausstellungsräume und Galerien. Als ich fünfzehn Jahre später zurückkam, war es völlig anders. Heute kann ein Künstler von seiner Kunst leben, mit den Messen hat sich die Situation entscheidend geändert. Neben Rio und São Paulo gibt es jetzt Kunstmessen in Brasília, Belo Horizonte und Salvador.“
Kiki Mazzucchelli ist unabhängige Ausstellungskuratorin und lebt seit zehn Jahren in London. Dort hat sie „Pinta“ gegründet, eine Plattform für lateinamerikanische Gegenwartskunst. „Es gab ein zunehmendes Interesse der Europäer und Nordamerikaner für das, was sie Kunst der Peripherie nannten. Dadurch stiegen in Brasilien die Preise, und der Markt entwickelte sich. Heute mischen unsere Sammler auf dem internationalen Markt mit.“ 2010 hat die Brasilianerin Lily Safra für 104,1 Millionen Dollar die Skulptur „L’Homme qui marche I“ von Alberto Giacometti gekauft – und für das Schloss Versailles eine Kommode, die Ludwig XV. gehört hatte.
„Die brasilianischen Sammler sind in Fachkreisen so anerkannt, dass inzwischen viele in den Aufsichtsräten der größten Museen sitzen“, berichtet Katia Mindlin Leite Barbosa, Präsidentin von Sotheby’s Brazil, die jedes Jahr zwei Auktionen lateinamerikanischer Kunst in New York veranstaltet. „Der Sektor ist inzwischen sehr professionell, und ich glaube nicht, dass die Krise ihn treffen wird“, meint Leite Barbosa. „Der Sturz des Real könnte sogar mehr ausländische Sammler anlocken.“ Die Zahlen bestätigen ihre Einschätzung. Die größten brasilianischen Galerien erstellen seit 2010 eine gemeinsame Marktstudie.2 Danach ist der Wert der Kunstwerke in den letzten fünf Jahren durchschnittlich um 27,5 Prozent pro Jahr gewachsen. Die Hälfte der verkauften Arbeiten ist nach 2000 entstanden. Die Studie registriert eine „überraschende Kontinuität“ im Wachstum des Sektors.
Das Museum für Zeitgenössische Kunst (MAC) in Niterói wurde 1996 von Oscar Niemeyer gebaut, um die 1217 Werke der Sammlung João Sattamini aufzunehmen. Finanziert wurde es vollständig von der Nachbarstadt Rio de Janeiro. Doch ebenso wenig wie das Museum für Moderne Kunst von Rio mit der Sammlung Gilberto Chateaubriand (7000 Werke) oder das Instituto Inhotim in Minas Gerais mit der Sammlung von Bernardo Paz, verteilt auf eine Fläche auf 140 Hektar, verfügt es über ein Budget für den Einkauf bedeutender Werke. „Der Boom der brasilianischen Kunst hatte sehr positive Aspekte, stellt aber auch ein großes Problem für die Museen dar. So wie unsere Fußballspieler von europäischen Clubs gekauft werden und nie mehr hier spielen, muss man ins Ausland gehen, um die Ausstellungen der großen brasilianischen Künstler zu sehen. Wir haben nicht das Geld für eine Retrospektive von Lygia Clark, wie sie das MoMA New York letztes Jahr gezeigt hat“, bedauert Guilherme Vergara, der Kurator des MAC Niterói.
Consuelo Bassanesi, Gründerin des Largo das Artes, einer in Rio gegründeten Künstlerresidenz, findet es schade, dass die meisten Gäste Ausländer mit Stipendien von zu Hause sind. „Wir würden gern brasilianische Künstler unterstützen, vor allem aus dem armen Nordosten, aber es ist fast unmöglich, Geld dafür aufzutreiben. Künstler aus anderen Ländern bekommen viel mehr Förderungen.“ Immerhin hat sich das staatliche Kulturbudget Brasiliens von 2003 bis 2013 vervierfacht, es gibt viel mehr Ausstellungen, Museen und Lehrstühle für Kunst. „Der Kultursektor hat sich als dynamischer erwiesen als der Rest der Volkswirtschaft. Der Staat finanziert zwar Ausstellungen, Museen und Festivals, die den Künstlern Arbeitsmöglichkeiten und Sichtbarkeit verschaffen, aber er bremst auch die Marktkräfte, das muss sich ändern“, verlangt Silvia Finguerut, Autorin einer Studie über die Kulturökonomie.3
Die größte Bremse in den Augen der Sammler sind die hohen Einfuhrzölle auf Kunstwerke. Die halten zum Beispiel die Galerie Daros Latinamerica in Zürich, die eine der bedeutendsten Sammlungen lateinamerikanischer Gegenwartskunst besitzt, davon ab, ihre Werke in das eigens gegründete Ausstellungszentrum in Rio de Janeiro zu überführen.
Gagosian, die größte Galerie der Welt, war in diesem Jahr wegen der Einfuhrzölle nicht auf der Messe von Rio de Janeiro vertreten. Die brasilianische Regierung stimuliere indirekt den Kunstmarkt in Miami, wo reiche Brasilianer Häuser haben und keine Steuern zahlen, meint der französische Kunstsoziologe Alain Quemin. „Brasilien ist ein richtiger Markt, die Biennale in São Paulo existiert seit 1951, aber es ist ein weitgehend um sich selbst kreisender Markt, der wegen der krassen bürokratischen Importvorschriften und behördlichen Schikanen Anzeichen von Erschöpfung zeigt.“ Der Regierung ist das Problem zwar bewusst, aber in der aktuellen Situation ist es wenig wahrscheinlich, dass sie etwas dagegen unternimmt.
Den Künstlern allerdings droht eine andere Gefahr: Wenn sie partout in den Markt einsteigen wollen, produzieren sie eben, was sich verkauft, und nicht das, wovon sie träumen. Rosângela Rennó, Installationskünstlerin und Kunstprofessorin, stellt fest: „Ich sehe schon viele junge Künstler, die sich in ihrer Arbeit von vornherein begrenzen und auf das Format ‚kleines Gemälde‘ setzen, weil so etwas leichter in einer Galerie unterkommt. Aber ein Künstler, der gerade anfängt, sollte sich auf keinen Fall darum kümmern, was sich gut verkauft. Er muss vor allem kreativ sein. Das ist der absurde Effekt des brasilianischen Erfolgs: Bevor der Markt explodierte, war die Freiheit größer, es wurde mehr experimentiert.“
2 Latitude-ABACT, São Paulo, September 2015.
3 „Die Kultur in der brasilianischen Wirtschaft“, Fundação Getulio Vargas, Brasília 2015.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Anne Vigna ist Journalistin in Rio de Janeiro.