Tsipras und die Realpolitik
von Niels Kadritzke
Seit acht Wochen hat Griechenland eine zweite Regierung Tsipras. Mit ihrem Wahlsieg vom 20. September ist es der Syriza gelungen, ihr Mandat zur Bewältigung der nunmehr sechs Jahre währenden Krise zu erneuern. Damit konnten Tsipras und seine Partei verhindern, dass ihre Regierung, die unter dem Motto „erstmals links“ (proti fora aristera) angetreten ist, eine politische Episode bleibt. Aber um welchen Preis – und mit welcher politischen Perspektive?
Nicht nur die griechischen Wähler stellen sich die Frage, ob sie es noch mit demselben Alexis Tsipras zu tun haben, der mit seinem triumphalen Wahlsieg vom 25. Januar die Linke in ganz Europa euphorisiert und die Mächtigen in Brüssel und Berlin aufgeschreckt hat.
Die Frage ist berechtigt, aber falsch adressiert. Es geht nicht um die Person Tsipras, sondern um die Zwänge, denen seine Regierung ausgesetzt war. Deshalb muss man sich zunächst klarmachen, warum er die außerplanmäßigen Neuwahlen vom September überhaupt herbeigeführt hat.
Dieser Schritt war aus zwei Gründen unvermeidlich. Zum einen konnte die Regierung Tsipras I ihr wichtigstes Wahlversprechen nicht halten, die von EU-Kommission, EZB und IWF aufgezwungene Sparpolitik zu beenden. Seit 2010 hat die „Troika“ den wechselnden Athener Regierungen ein Rezept verschrieben, das die „griechische Krankheit“ nicht geheilt, sondern ständig verschlimmert hat. Die „Memoranden“ waren nicht nur sozial ungerecht, weil sie die Schwächsten am härtesten trafen. Sie waren auch ein spektakulärer Misserfolg, haben sie doch die Wirtschaftskrise verschärft und die öffentliche Verschuldung auf Rekordhöhen getrieben.
Land mit begrenzter Souveränität
Der Plan der „erstmals linken Regierung“, diese Rosskur durch hartnäckige Verhandlungen mit den Gläubigern zu beenden oder wenigstens zu mildern, scheiterte nach wenigen Monaten. Am 13. Juli musste Tsipras in Brüssel sämtliche Bedingungen der Troika akzeptieren und selbst ein drittes Memorandum beantragen. Zurück in Athen, konnte er seine Unterschrift unter das „zudringlichste ökonomische Aufsichtsprogramm“ der EU-Geschichte (Financial Times vom 13. Juli 2015) nur mit einem einzigen Argument rechtfertigen: Die Alternative wäre noch katastrophaler gewesen, denn sie hätte einen unkontrollierten Staatsbankrott und letztlich das Ausscheiden aus der Eurozone bedeutet.
Den Grexit zu vermeiden, war ein zentrales Versprechen, das Tsipras und die Syriza ihren Wählern schon im Januar gegeben hatten. Eine große Mehrheit der griechischen Bürger sieht in einem Grexit eine nationale wie persönliche Katastrophe. Die Rückkehr zur eigenen Währung findet bislang nur an den Rändern des Wählerspektrums Anhänger: bei Neonazis und Rechtspopulisten sowie bei den Euro- und EU-Gegnern der radikalen Linken, zu denen auch die „Drachmen-Fraktion“ innerhalb der Syriza gehörte.
Die Grexit-Betreiber in den eigenen Reihen waren der zweite Grund, warum Tsipras die Neuwahlen brauchte. Das dritte Hilfspaket war an verpflichtende Maßnahmen gebunden, die das Parlament binnen weniger Wochen verabschieden musste. Viele dieser Gesetze liefen dem Programm und zentralen Wahlkampfaussagen der Syriza zuwider, weshalb die innerparteiliche Linke Plattform ihrer eigenen Regierung die Gefolgschaft aufkündigte. Mit jeder Abstimmung stieg die Zahl der Dissidenten, am Ende war es ein Drittel der Fraktion. Die Regierung konnte wichtige Gesetze nur noch mit Stimmen der Oppositionsparteien durchbringen, die sie früher als „willfährige Erfüllungsgehilfen der Troika“ bekämpft hatte.
Die Aushöhlung der eigenen parlamentarischen Mehrheit stellte den Regierungsflügel der Syriza vor die Wahl, sich entweder eine neue parlamentarische Mehrheit zu suchen oder mittels Neuwahlen den eigenen linken Flügel abzustoßen. Tsipras entschied sich für die Amputation. Machtpolitisch gesprochen ging es darum, die Abweichler loszuwerden.
Die Klärung der innerparteilichen Fronten vollzog sich über eine Spal-
tung, die Tsipras aktiv betrieb, die aber auch aus Sicht der Linken Plattform unvermeidlich war. Letztere konstituierte sich sofort nach Ankündigung der Neuwahlen als neue Linkspartei namens Laiki Enotita („Volkseinheit“), der sich 25 Syriza-Abgeordnete anschlossen. Damit verfügte die LAE bereits über eine Parlamentsfraktion, bevor sie sich den Wählern zu stellen hatte. Fraktionschef wurde Panagiotis Lafazanis, der als Repräsentant der Linken Plattform bis Mitte Juli noch der Regierung Tsipras angehört hatte.
Als Minister hatte Lafazanis zum Thema Grexit geschwiegen. Doch nach dem 13. Juli legte er seine politische Roadmap offen auf den Tisch: Die „Kapitulation von Brüssel“ zeige, dass Griechenland den Bruch mit der Eurozone vollziehen müsse, wenn es nicht eine „Schuldenkolonie“ bleiben wolle. Der Grexit sei die „zeitgemäße Antwort“ auf die Erpressung durch die Gläubiger und zugleich „Instrument und Mittel zur Umsetzung eines progressiven Programms mit sozialistischer Perspektive“.2 Kostas Lapavitsas, der Chefökonom der neuen Partei, arbeitete schon lange an einem „Logbuch für den Austritt aus dem Euro“.3
Die Abspaltung der LAE offenbarte eine alte Kluft in der Partei, die angesichts der Alternative „Kapitulation oder Grexit“ unüberbrückbar wurde. Zum normalen Erscheinungsbild von Parteien, die sich in einem parlamentarischen System um die Macht bewerben, gehört eine gewisse Dissonanz zwischen Parteiführung, Mitgliedern und Wählern. Bei der Syriza, die in nicht einmal sechs Jahren den Weg von der linksradikalen Splitterpartei zum Träger einer Krisenregierung zurückgelegt hat, war diese Dissonanz monströs geworden – und unvereinbar mit der Regierungsverantwortung.
Schon im Januar 2015 wurde ein zentraler Programmpunkt der Syriza, der Verbleib in der Eurozone, von einem Drittel des ZK abgelehnt. Das Wahlergebnis vom 20. September zeigte, wie dürftig die Wählerbasis der Linken war: Die LAE konnte nur 2,8 Prozent der Wähler für sich gewinnen und scheiterte an der Dreiprozenthürde. Von denen, die im Januar für die Syriza gestimmt hatten, wollten nur knapp 6 Prozent eine Partei wählen, die den „Grexit mit sozialistischer Perspektive“ auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Dieses niederschmetternde Ergebnis zerstörte die Illusion, an der sich Lafazanis gelabt hatte: Die LAE repräsentiere „Geist und Substanz“ jener 61 Prozent der Wahlbürger, die im Referendum vom 5. Juli mit ihrem „Ochi“ das Ultimatum der Troika abgelehnt hatten. Tatsächlich konnte die LAE nur 3,8 Prozent des Ochi-Lagers vom 5. Juli gewinnen, während 53 Prozent für Syriza und Tsipras stimmten.4
Die linken Grexit-Befürworter gingen von der falschen Annahme aus, das Nein zu den neuen Zumutungen der Gläubiger bedeute, dass die griechischen Wähler den gefährlichen „Sprung ins Dunkle“ wagen würden. Tatsächlich verhielten sich die Griechen bei der Wahl zwischen dem bekannten Übel und einem unbekannten Schrecken höchst realistisch. Aus Angst vor dem Grexit haben sie die Wende von Tsipras, die durch die europäischen Machtverhältnisse erzwungen wurde, abgesegnet oder zumindest hingenommen. Die Syriza konnte sich so an der Regierung behaupten, obwohl ihre Führung die Transformation zu einer Art linken Sozialdemokratie seit dem Wahlsieg vom Januar 2015 deutlich beschleunigt hatte.
Von einem Sieg der realpolitisch getrimmten Syriza zu sprechen, wäre dennoch falsch. Zwar haben Tsipras und die Parteiführung ihre drei zentralen Wahlziele erreicht: Sie wurden stärkste Partei mit fast demselben Stimmenanteil wie im Januar; die Fraktion war domestiziert und die Konkurrenzpartei LAE krachend gescheitert. So gesehen wurde die Handlungsfähigkeit von Tsipras II gestärkt. Das gilt auch im Hinblick auf den handzahmen Koalitionspartner: Die rechtspopulistischen „Unabhängigen Hellenen“ (Anel) verhalfen ihm erneut zu einer knappen parlamentarischen Mehrheit von 155 Sitzen.
Sieht man genauer hin, ist die zweite Tsipras-Regierung jedoch gesellschaftlich schwächer verankert als die erste. Im Vergleich zum Januar hat Syriza 320 000 Stimmen oder jeden siebten Wähler verloren, darunter viele ehemals aktive Parteimitglieder. Besonders gravierend ist, dass der „neuen Syriza“ die Parteijugend weggelaufen ist, die sich schlicht aufgelöst hat.
Enttäuschung und Abwendung kommen vor allem in der Wahlbeteiligung zum Ausdruck, die gegenüber dem Januar um 7 Prozentpunkte gesunken ist – auf den historischen Tiefpunkt von 56,6 Prozent. Einen Großteil der Nichtwähler dürften frustrierte Syriza-Anhänger sein, die ihre Stimme nicht der LAE geben wollten. Viele von ihnen hätten von Tsipras erwartet, was auch Exfinanzminister Varoufakis gefordert hat: nach Verweigerung eines „ehrenvollen Kompromisses“ durch die Troika zurückzutreten, statt sich die Brüsseler Vereinbarung als Regierungsprogramm aufzwingen zu lassen.
Ein solcher „ehrenvoller Rückzug“ hätte allerdings zu einer Staatskrise geführt. Ohne Syriza gibt es im Griechenland der Krise schlicht keine Mehrheit. Andererseits kann auch Tsipras heute nur dank der 50 Bonussitze regieren, die das Wahlgesetz der stärksten Partei gewährt. Da die Syriza diese undemokratische Begünstigung abschaffen will, könnte eine Regierungsbildung künftig noch schwieriger werden. Nur 20 Prozent haben für die realpolitisch gewendete Syriza gestimmt – eine schwache Legitimationsbasis für eine Partei, die ein Regierungsprogramm umzusetzen hat, das sie als Oppositionspartei entschieden bekämpft hätte.
Damit trägt Syriza die ganze Last der Krise, die erst jetzt ihren Tiefpunkt erreicht hat: mit einer angeschlagenen Wirtschaft, deren BIP in sechs Jahren um 25 Prozent eingebrochen ist und die bis Mitte 2016 weiter schrumpfen wird; mit der höchsten Arbeitslosenquote der Eurozone von 25 Prozent und der höchsten Jugendarbeitslosigkeit von 48 Prozent (der Durchschnitt der Euroländer liegt bei 11,8 respektive 22 Prozent); mit einer zerrütteten Gesellschaft, in der die Armut weiter zunimmt und längst die Mittelklasse erfasst hat; und mit einer zutiefst verunsicherten Bevölkerung, die für ihre eigene politische Klasse und jenes Europa, dessen Institutionen sie vor der Krise noch mehr vertraut hatte als ihrer nationalen Regierung, nur noch Verachtung und Misstrauen übrig hat.
Zu alldem kommt noch eine „Flüchtlingskrise“ hinzu, in der Griechenland als Ankunfts- und Transitland an der Ostgrenze der EU hoffnungslos überfordert ist (siehe Spalte Seite 11). Dabei ist der Spielraum von Tsipras II minimal: Athen braucht schon bis Ende des Monats die ersten Bailout-Milliarden. Das Finanzsystem ist durch Kapitalkontrollen, ständige Liquiditätsprobleme und Unmengen fauler Kredite gelähmt und muss durch Rekapitalisierung der Banken stabilisiert werden. So ist Griechenland mehr als je zuvor seinen Gläubigern ausgeliefert, die inzwischen als „Quartett“ auftreten, weil zu EU-Kommission, EZB und IWF noch der Eurorettungsfonds ESM (European Stability Mechanism) als vierter Zuchtmeister dazugekommen ist.
Wie eng der Spielraum für Tsipras ist, macht auch seine Regierungserklärung vom 4. Oktober deutlich.5 Sie ist auf drei argumentativen Säulen aufgebaut. Da ist erstens das Bemühen, die positiven Seiten des dritten Memorandums hervorzuheben, das Griechenland einen stabilen Finanzrahmen bis 2019 garantiere und damit dem Grexit-Gerede ein Ende setze. Das könnte sich freilich als Illusion erweisen, denn die Gläubiger werden das Thema womöglich doch wieder hervorholen, um eine Drohkulisse aufzubauen. Seriöser ist der Verweis auf den wichtigsten griechischen Erfolg: die Zusage der Gläubiger, dass man ernsthaft über die Schuldentragfähigkeit verhandeln werde, wenn die Athener Regierung ihre „Hausaufgaben“ erledigt hat.
Diese Zusage steht tatsächlich in der Vereinbarung vom 13. Juli und wurde seitdem mehrfach bekräftigt, vor allem vom französischen Präsidenten Hollande, der sich zunehmend als Mentor seines Zöglings Tsipras gibt – dem er allerdings auch klarmachen musste, dass ein klassischer „Schuldenschnitt“ in Berlin tabu ist. Folglich kann es nur um eine Senkung der Kreditzinsen und günstigere Tilgungskonditionen gehen.
Die Experten sind sich darin einig, dass die Zinsbelastung für Griechenland in den nächsten Jahren erträglich ist. Das größere Problem ist die Schuldentragfähigkeit auf mittlere Sicht, denn ohne sie gibt es keine Aussicht auf „strategische Investitionen“ ausländischer Kapitaleigner.
Für Tsipras I waren solche Investitionen noch tabu. Jetzt sind sie ein wichtiges Element der ökonomischen Perspektive, dem zweiten Schwerpunkt der Regierungserklärung. Darin malte Tsipras seinem Volk aus, wie Griechenland in vier Jahren aussehen soll: der Aufsicht durch die Gläubiger entronnen, weil die Krise überwunden und das letzte Memorandum ausgelaufen ist; mit einem Wirtschaftswachstum, das den jungen Leuten wieder eine Zukunft im eigenen Land bietet, mit Griechenland als gleichwertigem Partner des Vereinten Europas.
Das alles klingt so fantastisch, dass nicht viele Griechen daran glauben werden. Nicht nach sechs Jahren der geplatzten Illusionen und der gebrochenen Versprechen – von allen Regierungen, einschließlich der „erstmals linken“. Und natürlich weiß der neue Tsipras, dass sein „Griechenland nach vier Jahren Syriza-Regierung“ reines Wunschdenken ist. Aber er braucht diese Fata Morgana als Hintergrundpanorama für seine dritte Botschaft, die von Blut, Schweiß und Tränen handelt.
Um die Voraussetzungen für ein neues Griechenland zu schaffen, müsse das Programm, auf das man sich im Juli verpflichtet hat, rasch abgearbeitet werden. Das sei die Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Kredittranchen, für die Rekapitalisierung der Banken, für eine Schuldenentlastung und für die Erholung der Wirtschaft, also neue Arbeitsplätze. Dafür „müssen wir hart arbeiten, die Zähne zusammenbeißen und die schwierigen Aufgaben anpacken“. Wobei es vordringlich um die inneren Reformen geht, vor denen sich die politische Klasse stets gedrückt hat.
Seit Beginn der Krise sind die inneren Probleme des Landes vor dem Athener Parlament noch nie so offen und brutal benannt worden. Doch der entscheidende Punkt an dieser Rede ist ein anderer. Tsipras II erklärt seinem Volk, dass Schuldenabbau, Rückkehr zu Wachstum und innere Reformen den Ausweg aus der Memorandumspolitik eröffnen. Tsipras I hatte noch andersherum argumentiert: Die Sparpolitik müsse beendet werden, damit sich die Wirtschaft erholen und der Schuldenberg abgebaut werden könne.
Jetzt haben sich Ursache und Wirkung verkehrt – und damit die Schrittfolge des Rettungsprogramms. Natürlich ist diese Kehrtwende eine verzweifelte Anpassung an die Realität. Nichts spricht dafür, dass die Fortsetzung der Sparpolitik die griechische Wirtschaft ankurbeln wird. Aber es spricht auch wenig dafür, dass sich die Machtverhältnisse in der Eurozone verändern. Dass also etwa Frankreich und Italien, Tsipras’ potenzielle Bündnispartner in der Eurozone, gegen das Berliner Austeritätsdogma rebellieren könnten.
Syriza auf dem langen Marsch
Die „realpolitische Wende“ von Syriza ist also der resignative Nachvollzug dessen, was sie nicht beeinflussen kann. Deshalb konzentriert sie sich auf die Ebene, auf der sie etwas bewirken kann: auf die inneren Reformen. Dazu hat Tsipras unbequeme Wahrheiten ausgesprochen: Der öffentliche Dienst sei eine der „großen Pathologien, die das Land massiv belasten und seine ökonomische Entwicklung bremsen“, hier liege Griechenland „um Jahrzehnte“ zurück. Um die „tief verwurzelten Auffassungen über Staat und Gesellschaft herauszureißen“, sei ein „langer Marsch“ notwendig. Eine derart „revolutionäre Reform“ ist in vier Regierungsjahren keinesfalls zu schaffen. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn die neue Regierung die Griechen wenigstens zum Aufbruch motivieren könnte.
Welche Mühen auf diesem Marsch warten und welche Hindernisse zu bewältigen sind, zeigt sich an zwei Problemfeldern, die zu den Hauptstreitpunkten zwischen dem Gläubiger-Quartett und der Athener Regierung gehören: die Krise des Rentensystems und der Kampf gegen Steuervermeidung, beides Erblasten des alten Klientelismus.
Die strukturellen Probleme der Rentenkassen waren schon lange vor der Krise offensichtlich. 2001 scheiterte die Simitis-Regierung mit einer maßvollen Reform am Gewerkschaftsflügel der Pasok. Damit blieben die Renten- und Pensionskassen auf gigantische Steuersubventionen angewiesen, die sich bis 2010 auf über 100 Milliarden Euro addierten.
Solche Summen für die Alterssicherung konnte der tief verschuldete Staat auf Dauer nicht aufbringen. Hinzu kam als weitere Belastung für die Kassen, dass in der Krise viele Beschäftigte Anträge auf Frühverrentung stellten, um die günstigen Konditionen auszunutzen, solange sie noch gelten.
Seit 2010 sind etwa 600 000 Beschäftigte in Rente gegangen. Besonders strapaziert wurden die Pensionskassen des öffentlichen Sektors. Der von der Troika erzwungene Personalabbau im öffentlichen Dienst ging voll auf Kosten des Rentensystems, das bis 2014 gut 300 000 neue Ruheständler verkraften musste, ein Großteil von ihnen Frühpensionäre.
Das kam die Kassen auch deshalb teuer, weil öffentliche Bedienstete bei Eintritt in den Ruhestand eine einmalige Zahlung (Efapax) erhalten. Die konnte mehrere zehntausend Euro betragen6 und wirkte zudem als Anreiz für Frühpensionierungen. Zum Beispiel für einen Expolizisten, der mit dem Efapax-Geld eine Sicherheitsfirma gründen, oder für einen Exfinanzbeamten, der sich als Steuerberater etablieren konnte. Seit Beginn der Krise kam ein weiteres Motiv hinzu: Viele wollten sich die Efapax-Summe sichern, ehe sie gekürzt wurde – wie inzwischen geschehen.
Die Massenflucht in die Pensionierung ließ die Ausgaben der Kassen dramatisch ansteigen. Zugleich bewirkte die Krise, dass die Aktiva ebenso dramatisch abschmolzen. Das erste Leck schlug im April 2012 der Haircut bei den griechischen Staatsanleihen in „privater“ Hand (PSI). Der Wertverlust um 53 Prozent machte die griechischen Rentenkassen, die einen Teil ihrer Aktiva in diesen Bonds angelegt hatten, über Nacht um 12,5 Milliarden Euro ärmer.
Zugleich brach auch das Beitragsaufkommen ein. Zwischen 2010 und 2014 lief bei den Kassen ein Fehlbetrag von über 42 Milliarden Euro auf: Die Lohnkürzungen ließen die Einnahmen um 4 Milliarden Euro schrumpfen, die rapide steigende Arbeitslosigkeit kostete 6 Milliarden. Weitere 32 Milliarden wurden den Kassen durch die Arbeitgeber vorenthalten, davon 15 Milliarden durch Beitragshinterziehung und 17,4 Milliarden durch Zahlungsrückstände. Auch viele Freiberufler zahlen schon längst keine Beiträge mehr in ihre Kasse ein.
Im selben Zeitraum wurden die staatlichen Zuschüsse an das Rentensystem um mehr als die Hälfte gekappt; 2015 auf 8,6 Milliarden Euro.7 Obwohl seit 2010 die Rentenleistungen schon um insgesamt 45 Prozent gekürzt wurden und die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre (bis 2022) bereits beschlossen ist, sind weitere Einsparungen unvermeidlich. Zumal die Troika diktiert, dass die Renten künftig nicht mehr steuerlich subventioniert werden dürfen.
Das ist für Arbeits- und Sozialminister Katroungalos ein Albtraum. Schon Tsipras I musste zentrale Syriza-Wahlversprechen kassieren, zum Beispiel die Aufbesserung der Kleinstrenten. Jetzt wackelt sogar die Zusage des Ministers, dass man Bezüge unter 1000 Euro auf keinen Fall kürzen werde: Beim derzeitigen Kassenstand sind nur noch die Renten bis 800 Euro geschützt.
In seiner Not hat sich Katroungalos an eine Idee von Tsipras I erinnert: die Subventionierung der Kassen aus Privatisierungserlösen. Aber das wird in Brüssel und Berlin kaum auf Gegenliebe stoßen. Daher wird sich der Minister darauf konzentrieren, die Arbeitgeber zu mehr Abgabendisziplin zu zwingen und ihnen mit höheren Beitragssätzen zu drohen.
In seiner Regierungserklärung kritisiert Tsipras auch die Berufsverbände und Gewerkschaften, die in den Jahrzehnten der Pasok- und der ND-Regierungen die Kassen geplündert haben. Das wichtigste Instrument ihrer Klientelpolitik waren die großzügigen Regelungen für Frührenten, die Tsipras jetzt aufgekündigt hat. Und zwar nicht, weil die Gläubiger das fordern, sondern weil sie ungerechte Privilegien darstellen.
Der zweite Problembereich, an dem sich nicht nur das Schicksal von Tsipras II, sondern auch das des Landes entscheidet, sind die Staatsfinanzen und insbesondere die Steuereinnahmen. Denn die Steuerhinterziehung oder Steuervermeidung – vor allem durch Unternehmen und Freiberufler – ist unbestritten eine der wichtigsten inneren Ursachen der aktuellen Krise.
Eine linke Regierung, die zum Sparen gezwungen ist, muss alles tun, um Steuerbetrügern das Handwerk zu legen. Nur so kann sie die staatlichen Einnahmen stabilisieren, ohne die Masseneinkommen neu zu belasten.
Das Problem von Syriza besteht darin, dass der Kampf gegen Steuerhinterzieher und Steuerschuldner, die dem Fiskus immerhin 80 Milliarden Euro vorenthalten, keine schnellen Erfolge verspricht. Deshalb muss die Regierung steuerliche Belastungen durchsetzen, die jeder sozialen Fairness widersprechen, bis hin zu einer Verdreifachung der Mehrwertsteuer für zahlreiche Grundnahrungsmittel. Umso wichtiger wäre es, den Kampf gegen Korruption und Steuervermeidung sofort anzupacken und möglichst bald einige – zumindest symbolische – Erfolge vorweisen zu können.
Dabei muss Tsipras II auch Versäumnisse von Tsipras I korrigieren, die auf diesem Gebiet zu wenig unternommen hat, zum Beispiel im Kampf gegen Betrügerkartelle, die einen Schwarzmarkt mit Dieselkraftstoff versorgen. Diese kriminellen Geschäfte, die vor allem auf (steuerfreien) Scheinexporten und der Abzweigung von (steuerbegünstigem) Schiffsdiesel beruhen, schädigen den Fiskus um mindestens 200 Millionen Euro pro Jahr. Diesen Kartellen könnte man leicht das Handwerk legen, wenn endlich das Überwachungssystem zur lückenlosen Kontrolle des Liefernetzes installiert würde, das schon seit Jahren auf dem Papier steht, aber frühestens Anfang 2016 funktionieren wird.
Die meisten Versäumnisse gehen freilich auf das Konto früherer Regierungen. Das gilt auch für das notorische Versagen, die Steuerpflichtigen lückenlos zu erfassen und Steuerschuldner wie Steuerhinterzieher zu verfolgen und rasch zur Kasse zu bitten. Die Summen einzutreiben, erfordert institutionelle Neuerungen wie spezielle Finanzgerichte, die sofort vollstreckbare Urteile fällen. Und natürlich eine Aufstockung des Personals, um die Zahl der Betriebsprüfungen zu erhöhen. Noch wichtiger ist aber, dass dieses Personal besser qualifiziert wird und eine neue Mentalität entwickelt.
Aber wo soll dieses Personal herkommen angesichts einer Sparpolitik, die fast keine Neueinstellungen im öffentlichen Dienst erlaubt? Das geht nur über die „innere Mobilisierung“ von Personalreserven, die bislang falsch und ineffektiv genutzt wurden. Zuallererst wären allerdings die staatlichen Dienststellen zu ermitteln, in denen Personal tatsächlich „verschwendet“ wird. Das aber geht nur über eine Evaluierung aller Behörden, und die wurde seit fünf Jahren verschleppt, weshalb es bis heute für die meisten Posten im öffentlichen Dienst nicht einmal eine Stellenbeschreibung gibt.
Das Bürokratieproblem ist also weniger ein quantitatives als ein qualitatives. Die „Sanierung“ des öffentlichen Dienstes erfolgte bislang über pauschale Streichungen ganzer Berufsgruppen, während die überfällige Evaluierung des Klientelsystems durch dessen Nutznießer blockiert wurde, zu denen einige Gewerkschaften gehören. Die nahm Tsipras auch in seiner Regierungserklärung aufs Korn, als er feststellte: „Jede Umsetzung von Reformmaßnahmen in der öffentlichen Verwaltung erfordert den Konflikt mit etablierten Mentalitäten, mit tief verwurzelten klientelistischen Strukturen und mit Netzwerken von kleinen und großen Mächten, wie auch mit tief verankerten egoistischen Verhaltensweisen.“
Ärzte und andere Steuerhinterzieher
In egoistischen Mentalitäten wurzelt auch der Widerstand gegen einen Plan, der die Hinterziehung der Mehrwertsteuer eindämmen soll, durch die dem Fiskus dieses Jahr 6, 5 Milliarden Euro entgehen. Finanzminister Tsakalotos will dafür sorgen, dass möglichst viele Käufe per Geldkarte abgewickelt werden. Denn bei Zahlungen mit Plastikgeld ist eine vollständige Erfassung der Umsätze und damit der Mehrwertsteuer garantiert. Die Vorschrift soll speziell für Berufsgruppen gelten, die als notorische Steuerhinterzieher bekannt sind, wie Ärzte und Architekten, Elektriker und Klempner.8
Gegen die geplante Verordnung, die Zahlungen an Ärzte und Privatkliniken nur noch mit Karte zulässt, haben die Standesvertretungen der Ärzte heftig protestiert. Ihr Hauptargument: Damit sei das Arztgeheimnis gefährdet, weil Bankangestellte erfahren könnten, welche gesundheitlichen Probleme der Kontoinhaber hat. In Wahrheit wollen die Ärzte ein anderes Geheimnis hüten, nämlich die Summe ihrer Honorare.
Anfang Oktober hat der zuständige Minister einen „nationalen Plan gegen Korruption“ vorgelegt, der 47 Ziele und 123 Aktionen umfasst. Würde davon auch nur die Hälfte umgesetzt, wäre das ein großartiger Erfolg. Aber viele dieser Reformen werden auf erbitterten Widerstand einzelner Gruppen stoßen – wenn sie nicht, wie frühere Pläne, ein Stück Papier bleiben.
In Griechenland funktioniert die öffentliche Verwaltung heute ersichtlich noch schlechter als vor der Krise.Ein Beispiel: Viele Betriebsprüfungen der Steuerbehörden müssen schlicht ausfallen, weil kein Benzingeld für die Autos der Kontrolleure da ist.9 Die griechische Europaabgeordnete Maria Koppa hat es einmal so formuliert: „Es ist schwierig, einen Frosch zu kochen und ihm zugleich das Schwimmen beizubringen.“
Um die Aufgabe, die Versäumnisse ihrer Vorgänger im Eiltempo abzuarbeiten, ist die Tsipras-Regierung wahrlich nicht zu beneiden. Aber sie ist die einzige Kraft, die es schaffen kann – vorausgesetzt, sie knackt das Klientelsystem. Das Ziel einer „demokratischen, transparenten, unparteiischen, technologisch modernisierten, antibürokratischen und bürgernahen Verwaltung zum Nutzen der Gesellschaft“, das Tsipras in seiner Regierungserklärung formuliert hat, ist so gesehen „alternativlos“. Die große Frage bleibt allerdings, ob das Streichquartett der realpolitisch domestizierten Syriza-Regierung den Spielraum gewährt, der angesichts der griechischen Realität notwendig ist. Für eine solche Einsicht der Gläubiger gibt es bislang keine Anzeichen.
2 iskra.gr, 9. September 2015.
4 Zahlen von Kapa Research; siehe To Vima, 27. September 2015.
9 Siehe den Bericht in der Tageszeitung Kathimerini, 13. September 2015.
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